Quo vadis, Europa?
Anja Wenzel, 2. Platz
Wohin gehst du, Europa? Diese Frage beschäftigt Polen wie Deutsche gleichermaßen. Seit dem 1. Mai 2004 ist Polen nun schon in der EU. Doch das Land schwelgt nicht in Euphorie, man übt sich in Zurückhaltung. „Erst einmal abwarten, was es uns Polen bringt“, sagt Maciej, 18 Jahre, aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Krakau. Die anderen Sprachcampteilnehmer nicken zustimmend. Für mehrere Wochen haben sie sich hier in Plock zu einem vom Goethe-Institut organisierten Sprachcamp zusammengefunden, um ihre Deutschkenntnisse zu verbessern – mit der Unterstützung einer Gruppe deutscher Lehrerinnen und Lehrer. Auch einige jüngere Deutsche sind dabei, die – wie ich – neue Ideen in den Unterricht einbringen sollen.
Wie viele andere Deutsche wusste ich nicht sehr viel über unser Nachbarland, obschon wir eine sehr lange gemeinsame Geschichte haben, die uns zum Einen verbindet, zum Anderen aber auch immer noch trennt. Zu viel Leid gab es – vor allem auf polnischer, aber auch auf deutscher Seite.
Heute möchte ich mit den polnischen Schülerinnen und Schülern über die EU sprechen. Mich interessiert vor allem, was sie sich davon versprechen und welchen Bezug sie zu der Europäischen Union haben. „Irgendwie macht mir das Angst mit der EU. Ich befürchte, dass die Polen von den Deutschen in der EU erdrückt werden.“ wirft die 18jährige Anna ein. Angst, das ist wohl leider das zurzeit bei vielen Polen noch vorherrschende Gefühl. Von Angst vor den riesenhaft anmutenden Nachbarn Deutschland und Russland geprägt waren die letzten Jahrhunderte. „Da haben wir uns die Souveränität mühsam erkämpfen müssen und nun sollen wir sie wieder abgeben. Das verstehen viele hier nicht und ich finde, zu Recht.“ Jan verschränkt die Arme über seinem schwarzen Nike-Pulli. Man kann die Anspannung im Klassenzimmer spüren. Ich habe in letzter Zeit viel über die polnische Geschichte und Kultur gelesen und es fällt mir jetzt leichter, die polnischen Ängste und Sorgen nachzuvollziehen. Auch wenn wir früher in der Schule über die Strukturen der EU gesprochen haben, um zu verstehen, wie die EU funktioniert, kritisierten viele Mitschüler – ganz wie die polnischen Sprachcampteilnehmer – die Bürokratielastigkeit der EU. Anstatt sich als Teil der europäischen Gemeinschaft zu sehen, fühlen sich viele abgestoßen von einer EU, die für sie irgendwo weit weg in Brüssel sitzt. Wie ein entfernter Verwandter, mit dem man auf irgendeine Weise verbunden sein soll, ohne ihn jemals kennen gelernt zu haben, geschweige denn mit diesem emotional verbunden zu sein. „Ich denke, dass uns die EU-Mitgliedschaft dabei helfen könnte, unsere junge Demokratie zu festigen“, meldet sich Adam zu Wort. Erleichtert atme ich auf.
Endlich zeigt sich ein Schimmer der Hoffnung. In der Tat ist dies eine große Chance für Polen, da die Demokratie hier wie eine kleine Pflanze ist, die ausreichend Sonne und Wasser braucht, um weiter zu wachsen. Demokratie ist ein Prozess. Das Streben nach Demokratie sollte auch in Deutschland nicht aufhören, da sich eine Demokratie weiterentwickelt und sie – wie die Geschichte leider gezeigt hat – keine Selbstverständlichkeit ist, sondern ein hohes Gut, das wir alle pflegen sollten.
Die Annäherung an die EU war jedoch für Polen, wie auch die anderen Beitrittsländer, mit großen Anstrengungen verbunden, die nicht selten mit schmerzlichen Einschnitten, gerade bei der Umstrukturierung des Gesundheitssystems sowie der Rentenversicherung, einhergingen. Das alles ist uns Deutschen ja bekannt, waren doch in der ehemaligen DDR der Wechsel von der Plan- zur Marktwirtschaft, die Umstrukturierung der Sozialsysteme und die Privatisierungen von ehemals staatlichen Unternehmen ebenfalls ein heikles Thema. „Wie war das eigentlich damals bei euch in Deutschland?“ fragt Katarzyna, 19 Jahre alt interessiert und alle warten aufmerksam. Ein Lächeln streift ihr Gesicht. „Wie ist das Verhältnis von Ost- und Westdeutschen?“ Marek wirft jedoch gleich ein: “Das ist jetzt aber nicht das Thema. Es geht um die EU, oder?“ Doch alle merken schnell, dass das Thema der deutschen Wiedervereinigung sehr wohl in einem untrennbaren Zusammenhang mit Europa steht. Dass diese Zeit den Anfang vom Ende des Eisernen Vorhangs markierte und eine Zäsur in der europäischen Geschichte darstellt. Katarzyna fährt fort:„Ich war während eines Schüleraustausches in Ostdeutschland. Da hat mir meine Gastmutter erzählt, viele fühlten sich dort wie Menschen zweiter Klasse.“ Damit hat sie das Stichwort schlechthin geliefert. Ein Redeschwall ergießt sich nun aus den Mündern.
Ein zweites Stichwort wird mir zugerufen, das ich an die Tafel schreibe. Da steht es nun, das Wort, welches man wie eine Überschrift über all das stellen kann, was die Polen an Negativem in der nächsten Zeit auf sich zu kommen sehen: Verwestlichung. Dass dieses Stichwort gerade hier bei den Jugendlichen fällt, verwundert mich zunächst ein wenig. Filme aus dem mythisch zum „ gelobten Land“ verklärten Amerika sind in den Kinos schon lange Alltag, aus dem Radio tönen die neuesten amerikanischen Hits. Die Begeisterung dafür teilen Polen und Deutsche gleichermaßen. Besonders die Jugend fühlt sich magisch angezogen vom verheißungsvollen Westen, in dem doch so vieles besser ist – ob es nun um die gesundheitliche Versorgung oder aber um die Arbeitsmarktsituation geht. Diese ist in Polen tatsächlich wenig aussichtsreich und auch in der polnischen Sprachcampgruppe fragen sich viele, wie es nach der Schule weitergehen soll. Arbeitslosigkeit ist das Gespenst, das alle verfolgt. „Ob sich das mit der EU ändern wird“, wiederholt Jacek meine Frage, „weiß ich nicht. Ich werde aber nicht hier bleiben und warten, dass sich die Zustände bessern. Ich gehe dorthin, wo es besser für mich ist.“ Einige erzählen ebenfalls von ihren Plänen, in Deutschland zu studieren. Dabei sei ihnen die EU bestimmt behilflich, meinen sie.
Grenzen überwinden, das wird wichtig und mit Sicherheit eine Aufgabe für die nächsten Generationen. Die Wege, die uns mit unseren europäischen Nachbarn verbinden, müssen nun beschritten werden. Von Jung und Alt. Brücken müssen zwischen den Menschen und nicht nur zwischen zwei Ufern gebaut werden. Die großen Vorurteile, welche leider immer noch beidseitig der Oder-Neiße-Grenze am Leben erhalten werden, können nur verschwinden, – darin sind sich alle hier einig – indem man sich aufmacht in das andere Land und so seinen Horizont erweitert. Das kann beispielsweise in Form von Schüleraustauschen, aber auch einem europäischen Freiwilligendienst, wie ich ihn in Polen ableisten werde, geschehen. Wichtig ist, dass man offen ist für Neues, dass man bereit ist, die vielen Eindrücke, die auf einen einströmen, in tiefen Atemzügen aufzunehmen, da sie das Leben mit Sicherheit nachhaltig bereichern werden.
Nicht nur Polen, sondern auch die anderen neun frischen EU-Mitglieder haben in Zukunft große (gesellschaftliche) Umbrüche zu bewältigen. Gerade der kirchliche Einfluss geht enorm zurück, was noch vor einigen Jahren beispielsweise in Polen undenkbar war. Dies sehen Marek und Justyna, die beide im Gegensatz zu der Mehrheit gleichaltriger Deutscher jeden Sonntag zur Kirche gehen, mit viel Skepsis. „Die polnische Kultur kämpft gegen ihre Zurückdrängung.“ konstatiert Justyna mit einem besorgten Blick. Doch gerade die EU sollte dafür sorgen, dass die Kultur der jeweiligen Mitgliedsstaaten gewahrt wird und lebendig bleibt, denn die große kulturelle Vielfalt ihrer Mitgliedssaaten ist es, die die EU bereichert. Dieser Schatz darf auf dem Weg keinesfalls verloren gehen. Wir alle können dazu einen Beitrag leisten.
Es muss also noch viel geschehen, in dem Europa, welches so viele Jahre auf die neuen Mitglieder warten musste. Doch die Dynamik der Prozesse der vergangenen Monate zieht mich immer wieder in ihren Bann. Ich fühle, dass es an uns allen liegt, Europa mitzugestalten, auf die Frage „Quo vadis, Europa?“ eine Antwort zu finden und der erweiterten Europäischen Union ein Gesicht zu geben, welches uns alle dazu befähigt, Vertrauen in die Institutionen aufzubauen und sich als Bürgerinnen und Bürger Europas zu fühlen.
„Wie auch immer“ meldet sich Jacek am Ende der Diskussion zu Wort, „wir gehören zu Europa und das ist sicher.“ Alle nicken zustimmend. Ich auch.