Odessa - Wo die Urlaubsgefühle den Kummer vertreiben
Es geht doch nichts über einen Szenenwechsel, wenn es einem nicht so gut geht. Deswegen fährt Lockenjule mit einer Freundin nach Odessa. Und lernt dort neben der Stadt vor allem eine Reihe interessanter Menschen kennen.
Als Rosi und ich am letzten Montag von unserem Weihnachtsurlaub zurück nach Chisinau kamen, hatten wir beide eigentlich nur einen Wunsch: Zurück nach Deutschland. Allerdings aus vollkommen verschiedenen Gründen. Rosi: …war schon leicht verwundert, dass ihr Freund sie nicht wie versprochen vom Flughafen abholte und auch keine Anstalten machte, sie sehen zu wollen. Als sie sich dann aber doch zusammen mit anderen in einer Bar trafen, offenbarte er ihr, sich jetzt für eine andere Freiwillige entschieden zu haben, mit der Rosi auch noch ziemlich eng befreundet war. Nein, ich bin’s nicht. Mir wiederum ging es schlecht, weil ich mich grad wieder so schön Zuhause eingelebt hatte und nun von einer unerwarteten Sehnsuchtswelle nach Freunden und Familie überrollt wurde.
Was ist aber nun das beste Mittel gegen traurige Gedanken, Appetitlosigkeit und ständige Grübelei? Richtig! Raus aus dem Zimmer, in dem einem die Decke auf den Kopf fällt, so viel wie möglich unterwegs sein, soviel wie möglich mit anderen unternehmen. So lautet mein Patentrezept, und siehe da, es hat funktioniert. Wir besuchten also jeden Abend andere Freiwillige, schauten uns Dinge in Chisinau an und entschlossen uns auch, von Freitag bis Sonntag nach Odessa zu fahren. (Ich weiß, dass war jetzt eine ewig lange Einleitung, aber ich fand’s wichtig.)
Das Glück schien von Anfang an auf unserer Seite gewesen zu sein. Wir kamen morgens am Busbahnhof an und bekamen direkt einen großen, aber Muschebubu-kuscheligen Bus nach Odessa ohne jegliche Wartezeit. Dieser Bus hatte sogar einen Fernseher und so wurden die Fahrgäste während der fünfstündigen Fahrt sanft vom Kampfgebrüll kriegsführender ukrainischer Stämme in einem dreistündigen Monumentalfilm umspielt. Naja, Rosi und ich haben sowieso die meiste Zeit geschlafen.
In Odessa angekommen dauerte es eine Weile, bis wir unser Hostel erreicht; wähnten wir uns doch an einem anderen Busplatz, als wir eigentlich waren. Nun ja, nachdem wir herausgefunden hatten, dass Ukrainer keine englischen Stadtpläne lesen können und unser Bahnhof auf unserer Touri-Zentrums-Karte nicht mal drauf war und Rosi sich so nötig aufs Klo musste, dass sie alles getan hätte um möglichst schnell zum Hostel zu kommen, nahmen wir schlussendlich doch ein Taxi. Das kostete uns umgerechnet übrigens fast soviel wie die Fahrt nach Odessa (diese betrug sechs Euro, fürs Taxi bezahlten wir vier Euro).
Als der Taxifahrer uns an genannter Adresse des Hostels absetzte, waren wir froh, dass uns die Freiwilligen, welche uns den Insider-Tipp für dieses winzige Hostel gegeben hatten, auch genau das Aussehen der Haustür beschrieben hatten. Das Hinweisschild für das Hostel im vierten Stock des Hauses war nämlich wie angekündigt nicht größer als eine Handfläche, und die Tür im Haus zum Hostel selbst war überhaupt nicht beschriftet. Noch dazu gab es kein Licht im dunkeln Altbau-Hausflur, aber dank der guten Beschreibung von Ingrid fanden wir es. Und dann betraten wir ein kleines Paradies. Das Hostel war nicht mehr und nicht weniger als eine riesengroße Altbauwohnung. Wir traten durch den Flur, dessen Decke stuckverziert und dessen hohe Türen golden angestrichen waren zur ‚Rezeption‘: ein Campingtisch mit angelehnter Erinnerungstafel, auf der allerdings nur Überreste eines einstigen Zeitplans vorhanden waren. Dahinter saß ein geschätzt 27-jähriger Adonis, der seinen V-Körper zu uns aufrichtete und uns mit den total vernuschelten Worten: „Hi girls, how are things going?“ begrüßte. Nein, kein Ami, wie sich noch am selbigen Abend rausstellte, sondern ein Kanadier, übrigens 26 Jahre alt.
Nachdem wir unsere sieben Sachen auf die zugewiesenen Betten im Mixed-dormitory (ein Zwölfbettzimmer für zehn Euro die Nacht) geworfen und uns von der Bewunderung über die Gemütlichkeit im Hostel beruhigt hatten, zogen wir direkt los in die Stadt. Wir hatten ja nicht mehr lange, bis es dunkel sein würde, aber wollten noch soviel wie möglich von der Stadt sehen. Und obwohl es an diesem Spätnachmittag ziemlich frostig war, fühlten wir uns wie im Sommerurlaub, sobald wir die Haupteinkaufstraße betreten hatten und Urlaubsflair schnupperten.
Ich will jetzt im einzelnen nicht alles beschreiben, was wir uns an diesem und den nächsten beiden Tagen als interessierte Touristen angeguckt und fotografiert haben, denn das wäre nur eine Aufreihung etlicher Sehenswürdigkeiten, deren Anblick wir genossen haben, die man aber auch gern im Reiseführer nachlesen kann. Viel mehr werde ich mich im Folgenden auf die Dinge konzentrieren, die man als Tourist in der Hauptsaison nicht erlebt.
So war die ganze Stadt noch weihnachtlich geschmückt (denn auch dort wird orthodox erst im Januar Weihnachten gefeiert), überall Lichterketten, goldenen Sternchen und blinkende Weihnachtsbäume. Zudem hatte man nahe der Oper eine kleine Open-Air-Ausstellung errichtet, in der Künstler Statuen (zumeist Tiere) nur aus Draht und Lichterketten gebaut hatten. Alles war rund um eine berühmte Kanone gebaut, die dort sicherlich immer steht und fotografiert wird, allerdings nur im Winter so geschmückt ist: Die Kanone war rundum in einen riesigen bunten Schal gewickelt, damit ihr nicht kalt würde, ebenso allen Laternen in näherer Umgebung. Das war eine wirklich niedliche Idee.
Nach bereits mindestens hundert Fotos, einem Kaffee und einem kleinen Einkauf fürs Abendbrot liefen wir zurück zum Hostel. In der großen Gemeinschaftsküche trafen wir dann auf einen Bekannten, der mal für drei Nächte in einer der Freiwilligen-WGs übernachtet hatte, um sich Chisinau anzusehen. Er war ein enger Freund des Hostelleiters (des Kanandiers). Die Welt ist ein Dorf. Den Rest des Abends bis spät in die Nacht verbrachten wir mit matschige Nudelpfanne Kochen, mit anderen Hostelbewohnern zusammensitzen und quatschen, Wein trinken und Schokolade naschen. Genauso lief es am Abend danach, nur dass wir gegen elf Uhr alle zusammen in eine Bar zogen, welche aber so laut war, dass Rosi, Benjamin (eine Franzose, wird gleich näher beschrieben) und ich uns in eine ruhige Bar verzogen, wo wir dann noch so lange Reiseerlebnisse austauschten, bis ich meine Augen nicht mehr aufhalten konnte.
Wen wir so kennen lernten? Menschen aus weitaus mehr Ländern, als wir erwartet hatten. Denn wenn das Hostel auch ein verstecktes Schatzkästchen war, musste seine Internetpräsenz berauschend sein. (Was Rosi und ich ohne Internet bis jetzt leider nicht in Erfahrung gebracht haben.) Wir trafen auf die verschiedensten Nationalitäten; und ebenso verschiedene Charaktere, wie wir beim abendlichen Zusammensitzen erfuhren: Zuerst natürlich mal der kanadische Adonis, der eigentlich nie nach Odessa hatte kommen wollen, sondern nur aus Reiselust und zum Zwecke der Joborientierung durch Europa reiste und sich eigentlich in Berlin niederlassen wollte. Als er vor einem Jahr auf Umwegen für zwei Nächte in Odessa in jenem Hostel blieb boten ihm die damaligen Besitzer und Leiter prompt ihre Position an, damit sie selber für ein Jahr durch die Welt reisen könnten. In diesem Jahr also hat er anfangs noch versucht russisch zu lernen, es aber aus Bequemlichkeit schnell wieder aufgegeben; er hat versucht, osteuropäische Frauen zu erobern, und wurde sehr oft sehr schnell wieder aufgegeben; er will im April wieder weg aus Odessa.
Die zweite Person, der wir begegneten, war der Franzose Frederick, der jedoch von Aussehen und Kleidung genauso gut hätte Serbe oder Moldawe hätte sein können. Sicherlich hat bei ihm diese modische Assimilation tatsächlich stattgefunden, arbeitete er doch seit Jahren für eine französische Agrarfirma in Osteuropa. Erst in Serbien, dann in Kroatien, dann in Polen… zumindest in Osteuropa ist er ziemlich herumgekommen. Aber auch er hatte die traurige Erfahrung kaltherziger osteuropäischer Schönheiten machen müssen, ebenso oft wie der Kanadier; und so genoss ich am ersten Abend, einer 30-minütigen Diskussion zweier leicht beschwipster Machos über die Ungunst des zwar äußerst hübschen, aber schwer zu kriegenden osteuropäischen weiblichen Geschlechts zuhören zu dürfen. Das war besser als Kino. Irgendwann einigten beide sich sogar auf eine Frauen-Grenze innerhalb Europas, auf deren linker Seite die Frauen ihre Art von Annäherung und Komplimenten verstanden und darauf eingingen; und auf deren rechter Seite die Frauen einfach nicht mit westlichen Anbaggermethoden zu kriegen sind. Aber es soll hier kein falsches Licht auf die beiden fallen, beide waren sehr nett und kommunikativ, Frederick konnte sogar hervorragend Deutsch. (Er hatte ein halbes Jahr in Herford, irgendwo im Ruhrpott, als armer Student gelebt und studiert.)
Es mag zwar allmählich auffallen, aber unsere dritte Bekanntschaft war ebenfalls ein Mann. Allerdings lernten wir ihn zusammen mit einer Frau kennen. Er hieß Benjamin, auch ein Franzose, der wieder mal das Klischee vollkommen bediente: nicht gerade reich, schwarze ungekämmte Locken, schwarzer Dreitagebart, Raucher und Weintrinker. Nur sein äußerst gutes Englisch und die Tatsache, dass er neben Kaffee auch Tee trank entfernte ihn ein wenig vom Stereotypendasein. Sein Lieblingssatz war „ For me it was strange…“ und dies benutzte er zur Beschreibung aller Städte und Kulturen, die er während seiner ziemlich weiten Reisen durch die Welt schon kennen gelernt hatte. Neben der Weltenbummlerei war in seiner Vita noch sehr interessant, dass er drei Jahre lang Journalistik und Geschichte studiert hatte und jetzt, wenn er mal in Frankreich ist, als Aushilfskoch arbeitet.
In seiner Begleitung war eine Ortsansässige, allerdings überhaupt nicht stereotypische ukrainische Dame Mitte zwanzig, mit hellrot gefärbten Haaren und Lippenpiercing. Sie hatte seine Ankunft in Odessa in Erfahrung gebracht und ihm angeboten, die Stadt und das Umland zu zeigen, sofern er mit ihr dafür die ganze Zeit französisch sprach und ihre Sprachkenntnisse aufbesserte. Am Abend saß sie dann mit uns zusammen und erzählte uns von der Ukraine und ihren Sitten. So zum Beispiel, dass in den Städten fast nur Russisch gesprochen wurde; bzw. Polnisch in einem Teil des Landes. Oder was man tut, wenn sich eine Flasche Wein dem Ende neigt. Man gießt sich den Wein bis zum letzten Tropfen ins Glas, dann wünscht man sich etwas und pustet dabei in die Flasche. Anschließend wird die Flasche sofort zugekorkt. Sobald eine anderer die leere Flasche öffnet und der Wunsch sozusagen wie ein Flaschengeist entweichen kann, geht er in Erfüllung. Aber verraten darf man den Wunsch auch in der Ukraine nicht; deswegen sag ich jetzt auch nicht, was ich hineingepustet habe.
Am zweiten Tag kamen noch weitere Bekanntschaften hinzu: Ein 42-jähriger US-Amerikaner, der zwar keine Frau und Kinder hatte, jedoch schon ein halbes Jahr in der Antarktis gelebt hatte, wahrscheinlich alles studiert hatte, was es an Natur- und Geisteswissenschaften gibt und stundenlang über seine Weltanschauung dozieren konnte. Aber auch er war ein sehr netter zuvorkommender Mensch, nur eben ein wenig auf den Bereich ‚Wissen und Diskussion‘ fixiert. Ach ja, und er hat geschnarcht wie meine beiden Opas zusammen.
Zudem reiste am zweiten Morgen noch eine Gruppe aus dem Osten der Ukraine an: Vier Brasilianerinnen, allesamt mit einem Hintern für zwei bestückt, dazu ein Brasilianer und ein Indonesier. Die Damen und Herren, etwa in unserem Alter, waren eigentlich als Freiwillige in die Ukraine gekommen, um ihr Land und ihre Sprache an Schulen vorzustellen. Allerdings waren alle Schulen wegen der Schweinegrippe geschlossen worden, sodass sie keinerlei Aufgaben hatten und kurzerhand durchs Land reisten. Sie erzählten unter anderem, dass sie oft sehr unhöflich und abweisend von den Ukrainern behandelt wurden, oftmals sogar beschimpft. Rosi und ich waren ja immer nett behandelt worden, aber der Unterschied mag schlicht und ergreifend am Bild der Ukrainer über unsere Nationalitäten liegen. Deutschland - das reiche gelobte Land mit Arbeit und Geld. Brasilien - wahrscheinlich als arm und unanständig betrachtet, so erfuhren es zumindest die Brasilianer. Was Vorurteile doch so anrichten können…
Nun aber genug von den Menschen, es soll abschließend noch etwas vom Gesehenen, von den Endrücken berichtet werden. Am zweiten Tag machten Rosi und ich uns zeitig auf, um alles bei Tageslicht und schönem Wetter sehen und erleben zu können, was der Touristenstadtplan so empfahl. Besonders hat uns dabei der schier riesige Industriehafen gefallen, der im küstentypischen Winternebel direkt verwunschen wirkte. Wir hätten auch am liebsten jede Fassade fotografiert, so hübsch sehen die Häuser in Odessa aus, renoviert oder auch nicht.
Als dann gegen Mittag auch noch strahlender Sonnenschein war, wirkte die Stadt erst recht wie ein Urlaubsparadies. Dass hinter der paradiesischen Fassade ein ärmlicher Alltag versteckt wird erfährt man übrigens, wenn man die Innenhöfe der Häuser betritt oder - wie wir es als Krönung unseres Aufenthalts am nächsten Tag taten - im Winter an den Touristenstrand geht. Die dortigen Strandbars, Clubs, Imbissbuden etc. sind im Winter natürlich geschlossen; das Ganze wirkt ein wenig wie eine Totenstadt, leer und mit abgeblätterter Farbe. Der Strand selbst ist natürlich auch im Winter immer wieder ein Erlebnis für uns Binnenbewohner. Unmengen an Muscheln, salziger Wind, weicher Sand und natürlich das beruhigende Rauschen des Meeres. Man erlebt das Meer ganz anders, wenn man nicht auf einen Meter Umkreis von anderen Touristen umringt ist, die auch unbedingt einen Liegeplatz am Hauptstrand haben wollten, ein Eis nach dem anderen essen und sich die Birne krebsrot brennen lassen.
Es fühlt sich viel erfüllender an… viel mehr nach Urlaub.