Moldawien - Land der Gegensätze
In kaum einem anderen Land werden Gegensätze so deutlich wie in Moldawien. Das merkt auch Lockenjule, die das Kontrastprogramm gleich an einem Tag erlebt: zuerst geht es in die Kirche, dann ins Shoppingcenter.
Letzten Donnerstag wurde mir dies erst wieder richtig klar. Denn an diesem Tag besuchten Rosi, Ingrid und ich zwei vollkommen gegensätzliche, sich auszuschließen scheinende Orte: Eine berühmte orthodoxe Kirche und die Mall-Dova, das größte Shopping-Center Moldawiens. Diese Kirche, mit blauen Wänden und goldenen Zwiebeldächern, stand schon lange auf meiner gedanklichen To-Visit-list, ebenso wie jenes nicht ganz ins Stadtbild Chisinaus passende rote Shopping-Monster. Einen Besuch war beides Wert.
Wir fuhren also zuerst zur Kirche und betraten ihr aus mehreren Gebäuden bestehendes Areal andächtig und wie es sich gehört mit bedecktem Haupt. Ich, als allseits bekannter ‚Ich-muss-alles-sehen-und-von-allem-ein-Foto-machen-Tourist‘, erlaubte mir sogleich Bilder von den Gebäuden zu machen, wenn es schon in der Kirche nicht möglich oder zumindest nicht anständig ist. Sofort watschelte eine zahnlose Gottesfürchtige Ende 70 auf mich zu. ‚Aha‘, dachte ich mir, ‚ist das fotografieren also schon auf dem Hof untersagt‘. Aber nein, die Dame kam aus einem etwas anderen Grund zu mir gehumpelt.
Nach dreimaliger Wiederholung verstand ich auch endlich, was sie wollte. Erstens: Wie alt meine Mutter sei. – Ich antwortete mit ‚Weiß ich nicht‘, was geht sie auch das Alter meiner Mutter an. Zweitens: Die Benutzung von technischen Geräten wie Fernsehern oder Fotoapparaten seien durch Gott und die Bibel verboten. Ob meine Mutter mir das nicht beigebracht hätte? - Ich bedankte mich für diesen Hinweis und drehte mich weg. Hier hätten wir also gleich zwei Gegensätze innerhalb des Landes: Eine alte Dame, die kaum Geld für Kleidung und Essen hat betet direkt neben einer Zwanzigjährigen in Pelzmantel und Lack-Stiefeln. Gleichzeitig bittet die Alte Gott um Vergebung, wie sich die Menschen mit all ihren modernen Erfindungen versündigen, während die Junge inständig fleht, dass ihr Geliebter sie auf dem Handy anrufen würde.
Nach der Belehrung der Alten betraten wir dann die Kirche, und sie empfing uns in typischem Glanz: Gold wohin das Auge blickt, ein Schmuck- und Lichterketten-behangenes Heiligenbild neben dem nächsten, riesige Kronleuchter, reich verzierte Decken. Dazwischen die Gläubigen, sich vor jedem Bild dreimal bekreuzigend, dann ein Gebete sprechend, dann das Bild küssend. Oder aber in völliger Demut vor dem Priester kniend, den Kopf unter seinem Gewand versteckt (das ist kein Scherz!) auf Vergebung hoffend, während dieser etwas stockend und leicht gelangweilt aus der Bibel vorliest. Oder aber ständig gebückt, in altem Rock und schmuddeliger Schürze, beständig den Boden der Kirche reinigend. Hier offenbart sich der nächste Gegensatz: Die Kirche präsentiert sich und ihre Heiligen in schier unermesslichem aber gern zur Schau gestellten Reichtum; während der durchschnittliche Kirchgänger von einem Monatsgehalt lebt, von dem man vielleicht zwei der goldenen Schnörkel bezahlen kann. Warum reicht nicht eine schlichte Kirche, ein schlichter Altar, der sich vollkommen auf den Glauben konzentriert, nicht auf das ganze - Entschuldigung - Heiligenbrimborium drum herum.
Nachdem wir uns jeden Winkel des goldenen Kunstwerks von Innenarchitektur angesehen und die Priester bei verschiedenen Prozederen beobachtet hatten, verließen wir diesen heiligen Ort und entschlossen uns, einen vollkommen unorthodoxen Ort aufzusuchen: das in Chisinau sehr berühmt Shoppingcenter Mall-Dova (Für alle, die in Englisch immer was anderen gemacht haben: ‚Mall‘ bedeutet Halle, oder eben auch Einkaufszentrum; der Name ist also ein ganz ausgefuchstes Wortspiel). Sobald wir die Drehtür passiert hatten ergriff mich zunächst einmal dasselbe Gefühl wie bei Betreten der Kirche: eine Mischung aus Abstoßung, Faszination und Bewunderung.
Abstoßung, weil ich eine vollkommen westliche Welt betrat, ich hätte genauso gut in Berlin sein können. Alles schien eine Art blinde Kopie zu sein: Die gleichen Ketten (Orsay, Mango und Co). Moldawien will also genauso werden wie alle anderen, keinen alternativen Weg des Aufstiegs gehen. Faszination, weil ich ein solch großes, modernes Center selbst in Chisinau nicht erwartet hatte. Und obwohl es fast dieselben Läden wie in Deutschland waren, war das Angebot doch vollkommen auf die hiesige Bevölkerung abgestimmt. Viele Ketten für Herrenanzüge, noch mehr Läden für ‚die werdende Mutter‘ (ja, so hieß ein französischer Laden, der Unmengen kitschiger Babysachen verkaufte).
Ein anderes Beispiel, insbesondere für die weiblichen Mitverfolger meines Auslandstagebuchs: In Deutschland konzentriert sich Orsay auf eher gedeckte Farben, Business- und gute Alltagskleidung, die meine Mutter genauso anziehen kann wie ich. Nun gut, in Moldawien tragen auch Mutter und Tochter gleichermaßen im Orsay Angebotenes. Allerdings handelt es sich hierbei um (das ist jetzt nicht ausgedacht) hautenge pinke Glanzleggins, bauchfreie Rüschenoberteile und Jeans bis maximal Größe 38. Ok, beim letzten muss dazu sagen, dass es dort tatsächlich eine XXL gibt. Allerdings würde diese einer deutschen 38 entsprechen, wie wir beim Anprobieren einiger Teile herausfanden.
Wieder erschließen sich hier einige Gegensätze: Einerseits will das Land so schnell wie möglich die westliche Mode aufholen und dem dortigen Lebensstil entsprechen. Andererseits werden aber Dinge verkauft, bei der man zumindest in Deutschland den ersten Preis bei einer Bad-Taste-Party gewinnen würde oder bei einer 80er-Party super ankommen würde.
Während in Deutschland das Verhüllen, das Schlichte und weniger Freizügige in wieder Mode ist, genießt man hier direkt die Möglichkeit, soviel wie möglich zur Schau zu stellen, soviel wie möglich Haut und Kurve zeigen. Gleichzeitig jedoch mahnt die hiesige, noch sehr dominante Kirche vor unzüchtigem Verhalten und Sex vor der Ehe. Am Welt-Aids-Tag verbot man einer hiesigen Aids-Hilfe im zentralen Stadtpark, in welchem eine Kirche steht, Kondome zu verteilen. Gleichzeitig wurde in der Oper eine kleine Aids-Hilfe-Gala veranstaltet.
Aber um nicht eine Nuance meines Eindrucks beim Betreten der Mall-Dova zu vergessen: Bewunderung. Bewunderung dessen, dass Moldawien es trotz fehlender Bodenschätze und Industriezweige, trotz mangelnden Eigenkapitals so etwas auf die Beine gestellt hat. Und vielleicht ein bisschen Hoffnung, dass ganz nach Wirtschaftstheorie die ländlichen Teile Moldawiens, in denen es immer noch an fließend Wasser und Elektrizität hapert, eines Tages vom städtischen Bedeutungsüberschuss profitieren und selbst Einzug in die Moderne finden.
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