Meine Perle
Über eine tiefe Freundschaft, verbunden über Kontinente
Schüchtern schaute sie um die Ecke, als ich sie das erste Mal sah. Draußen war es bereits dunkel, nur die Wohnung der Freiwilligen erleuchtete noch in warmen Farben. Das Mädchen mit den langen, dunklen Haaren, die eine Brille und ein weinrot farbiges Sportoberteil trug, kam ganz langsam auf mich zu. Als ich ihr die Hand zum Gruß ausstreckte nahm ihn das Mädchen zögerlich an. Gefühle von Unsicherheit und Verlegenheit lagen in der Luft. Wer hätte damals ahnen können, dass genau dieses anfangs schüchtern und ängstlich wirkende Mädchen einmal meine ganz persönliche Perle während des Freiwilligendienstes werden würde. Eine Perle, die nun ein festverankerter Bestandteil meiner Lebenskette ist. In den ersten Tagen stellte sich heraus, dass wir oberflächlich betrachtet gar nicht viele Gemeinsamkeiten hatten. Die Taiwanerin Sung Yi-Heng, deren Namen ich selbst nach einem halben Jahr kaum aussprechen konnte, kommt von der Großstadt, ich vom Land. Sie kochte in ihrer Familie zuhause nie selbst, ich schon. Sie kommt aus einer asiatischen Kultur, ich aus einer europäischen. Es waren genau diese Unterschiede, die uns anfangs reichlich Gesprächsstoff boten. Wir tauschten uns sowohl bei der Arbeit, als auch beim gemeinsamen Kochen und Essen immer ausführlich über die Unterschiede, sowohl bei uns, als auch über die in unserer Kultur aus. Was es bei uns zu Essen gab? Kartoffelsuppe mit chinesischem Kohlgemüse, Japanische Miso-Suppe und Käsespätzle- selbstverständlich alles hausgemacht. Wir verbanden unsere Kulturen nicht nur beim gemeinsamen Essen. Wir hörten gemeinsam Musik und lachten viel. Mit der Zeit konnten wir über alles offen reden. Klar, es ist nicht immer leicht, wenn man zusammen arbeitet und zusammen lebt, sich also fast die ganze Zeit sieht, aber wir haben ein Verständnis für den anderen entwickelt. Wir nehmen unseren Charakter so an wie er ist und unterstützen uns gegenseitig. Ich habe von Cindy (Sung Yi-Hengs Spitzname) gelernt, Herausforderungen anzunehmen, sich nicht zu viele Gedanken zu machen, sondern die Aufgabe anzunehmen und sein Bestes zu geben. Manchmal ist es hart, aber auf diese Weise lernten wir immens viel Neues. Und ich wusste, dass ich keinen Schritt komplett alleine durchschreiten musste. Dafür bin ich unendlich dankbar. Während unserer gemeinsamen Zeit meisterten wir so viele Herausforderungen zusammen. Wir lernten zu klettern, auch wenn es manchmal unsere letzte Stärke erforderte. Wir lernten zu segeln. Wir lernten Traktor zu fahren, uns in bestehende Gruppen zu integrieren, lange Arbeitstage durchzustehen. Wenn wir fielen, halfen wir uns gegenseitig auf die Beine. Wir hatten das Glück unzählige schöne Erlebnisse zu teilen. Es war einmalig, den Sonnenaufgang auf der Ladefläche des Traktoranhängers zu bestaunen oder um 5 Uhr morgens vom Regen im Schiffsbauch eines der Boote geweckt zu werden. Wir lernten so viel voneinander und lernen immer noch mehr. Nach sechs gemeinsamen Monaten war ein sehr tiefes Band zwischen uns gewachsen. So schwer der Abschied auch viel, wussten wir, dass wir uns nicht verlieren würden. Nachdem der Europäsche Freiwilligendienst nun bereits zwei Jahre her ist, haben wir uns zweimal wieder gesehen. Auf verschiedenen Kontinenten, jeder geschmückt mit neuen Lebensinhalten, neuem Wissen, das es zu teilen gilt und neuer Energie, die wir uns geben können. Um verbunden zu sein, muss man nicht dieselben Vorlieben teilen, aber wenn man sich auf den anderen einlässt, ihn akzeptiert, die Vorteile des Anderen erkennt und voneinander lernt, kann eine tiefe Freundschaft, wie die unsrige entstehen. Eine Perle wächst heran, bis sie in die Kette eingefädelt ist. Wenn man sie pflegt und gut aufbewahrt kann die Perle für immer weiterstrahlen.
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