Lebenszeichen aus Moskau...:)
Der erste Eintrag...reichlich verspätet. Es gibt viel zu erzählen! Erst einmal von meiner Arbeit im Heilpädagogischen Zentrum.
Wochenende....juhuu! Und endlich viel Zeit, die ich jetzt nutzen werde, um mal in aller Ausführlichkeit von meinen ersten fuenf Wochen v Moskve zu berichten. Ich bin echt ueberrascht, wie leicht mir das Einleben hier gefallen ist. Wo waren denn die unueberwindbaren Hindernisse, Herausforderungen, Kulturschocks und Krisen, die ich bei meinem Aufbruch in dieses Land und diese Stadt, die mir voellig fremd sind, erwartet habe?
Irgendwie habe ich das Gefuehl, etwas verpasst zu haben. Oder eine andere Theorie: vielleicht werden mir die praegenden, entscheidenden Unterschiede zu Europa, zu Deutschland, erst mit der Zeit klar, vielleicht habe ich bisher einfach zu wenig gesehen, um das wirklich einschaetzen zu koennen. Wie dem auch sei, jedenfalls habe ich eine gute Zeit hier. Und noch viel vor! Meine Arbeitszeiten sind bis jetzt sehr moderat, der vorlaeufige Stundenplan laesst viel Raum fuer Freizeit: Im Heilpaedagogischen Zentrum, po-russki tsentr lechebnoj pedagogiki, bin ich jetzt zwei Kindergruppen zugeteilt, bei denen ich mithelfe. Eine findet montags und mittwochs statt, die andere dienstags und donnerstags, und sie dauern jeweils etwa nur zwei Stunden. Aber vielleicht sollte ich erst einmal erklaeren, was das Heilpaedagogische Zentrum ueberhaupt ist: es ist eine jetzt etwa zwanzig Jahre alte NGO (Non-Governmental-Organisation), die sich zum Ziel gesetzt hat, Kinder mit Behinderung zu foerdern und auf ein moeglichst eigenstaendiges Leben in der Gesellschaft vorzubereiten. Damit ist die Organisation ganz anders ausgerichtet als die staatlichen Behinderteneinrichtungen in Russland: Diese so genannten Internate sorgen dafuer, dass die Kinder mehr oder weniger isoliert von der Aussenwelt aufwachsen, und unternehmen keinerlei Anstrengungen, sie in irgendeiner Weise zu foerdern, bilden oder zu erziehen. Die Kinder fuehren dort ein stumpfsinniges Dasein, keiner macht sich die Muehe, ihre Faehigkeiten und Talente zu entdecken oder anzuregen. Warum? Vom russischen Staat werden diese Kinder als "nicht bildungsfaehig" eingestuft.
Ich bin unendlich froh, dass ich diese trostlose Situation nicht am eigenen Leib erfahren muss, sondern in einer Organsation arbeiten kann, in der ein anderer Wind weht. Hier bemueht man sich wirklich nach Kraeften, jedes Kind individuell zu foerdern und auf seine Beduerfnisse und Faehigkeiten einzugehen. Wenn dies vielleicht auch manchmal eine Ueberbetreuung zur Folge hat - es ist sicher hundertmal besser als die staatliche Alternative. Folgendermassen arbeitet das Zentrum: die Kinder wohnen alle zu Hause, kommen aber zu individuellen oder Gruppenstunden ins Zentrum. Eine Tagesbetreuung wird nicht angeboten, deshalb ist der Vergleich mit einem Kindergarten nicht ganz richtig, oft verbringen die Kinder nur etwa zwei, drei Stunden im Zentrum und werden dann von ihren Eltern abgeholt. Aber in dieser Zeit gibt es eine Menge unterschiedlicher Aktivitaeten und Therapieangebote, von denen die Kinder profitieren sollen. Die Gruppenstunde laeuft recht strukturiert ab, oft nach dem gleichen Muster: Anfangs gibt es die Moeglichkeit, nach Lust und Laune in einem Spielzimmer zu spielen, wobei die Paedagogen den Kindern meistens verschiedene Spiele oder Beschaeftigungen vorschlagen und sie dafuer zu interessieren suchen. Nach der Spielphase wird ein Stuhlkreis gemacht, man fasst sich an den Haenden, begruesst sich, singt Lieder und spielt mit verschiedenen "Requisiten". Ausserdem wird anhand von beschrifteten Bildern ein Plan gemacht auf dem die folgenden Aktivitaeten stehen: z.B. Sport, Musik, Keramikwerkstatt, Teetrinken, der den Kindern den folgenden Ablauf klarmachen soll. Danach wird der Plan "abgearbeitet": nacheinander fuehrt man die Kinder ins Turnzimmer, ins Musikzimmer, in die Keramikwerkstatt, zum Kasperletheater... Fuer Abwechslung ist auf jeden Fall gesorgt. Ganz schoen krass finde ich nach wie vor, dass fast immer gleich viele Paedagogen wie Kinder dabei sind. Meine Anwesenheit sorgte dann dafuer, dass sogar mehr als ein Erwachsener auf ein Kind kam, und ich kam mir etwas ueberfluessig vor. Aber inzwischen finde ich schon Moeglichkeiten, mich einzubringen, auch wenn ich mir natuerlich etwas schwer tue, die Initiative zu ergreifen: schliesslich sind meine Russischkenntnisse noch minimal. Ich haette auch groesste Probleme, wenn die Kinder, die ich betreue, sprechen wuerden, was aber so gut wie nicht der Fall ist. Viele von ihnen sind koerperlich fit (zumindest fuer den unwissenden Betrachter), aber haben Autismus.
In meinen zwei Kindergruppen habe ich jetzt auch zwei Schuetzlinge, fuer deren Betreuung ich besonders verantwortlich bin. Sie heissen Grischa und Igor. Natuerlich spiele ich nicht nur mit ihnen, aber sie sind gewissermassen meine "Aufgabe".
Zum HPZ:
Ich muss sagen, ich finde das System, die Kinder nacheinander innerhalb von kurzer Zeit durch verschiedene Aktivitaeten "zu jagen", etwas zweifelhaft - auch die Reaktion der Kinder auf die Fuehrung der Paedagogen ist nicht immer positiv. Andererseits denke ich mir, dass es eine bessere Moeglichkeit hier in Russland im Moment wohl nicht gibt: eine Tagesbetreuung fuer Kinder mit Behinderung, wo sie mit etwas mehr Ruhe und selbstbestimmter lernen und spielen koennen, existiert nicht. Was sind also die Alternativen? Die - vom staat gewuenschte - Abschiebung ins Internat und in den stumpfsinn (anders kann man das wirklich nicht nennen) oder ein manchmal vielleicht etwas zu aufdringliches Spiel- und therapieangebot. Da ist letzteres doch auf jeden Fall vorzuziehen.
Ihr seht, ich habe mir schon ein paar Gedanken gemacht. Natuerlich bin ich mir keineswegs sicher, schon alles durchschaut zu haben oder zu wissen, was fuer die Kinder am besten ist. Natuerlich wuerde ich gerne vieles fragen, aber das ist bei meinen begrenzten sprachkenntnissen doch etwas schwierig.
Ach ja, Thema Sprache. Das ist doch auf jeden Fall ein kapitel fuer sich. Ich bin hierhergekommen, gerade mal mit zwei Wochen Russisch(einzel)Unterricht, dementsprechend sind meine Kenntnisse wirklich gering. Lesen und schreiben kann ich gut, und wie ich festgestellt habe, auch verstehen, wenn denn die Leute langsam sprechen wuerden und einfach worte verwenden und es um irgendwelche alltagsdinge geht, und nicht gerade um theoretische Fragen zur Therapie behinderter Kinder. Leider hapert es beim Sprechen noch ganz gewaltig. Ich glaube, ich habe noch nie in meinem Leben so oft "ja" gesagt :-) aber das tut man unweigerlich, wenn die sprachlichen ausdrucksmittel begrenzt sind. Das hat kuerzlich im HPZ auch fuer einiges Amusement gesorgt. Die Kuechendamen, denen ich gerade half, warnten mich scherzhaft davor, gerade im Umgang mit dem maennlichen Geschlecht zu allem ja zu sagen ;) Ich werds mir merken.
Jedenfalls ist es eine fuer mich ganz neue und sehr gute Erfahrung, eine Sprache von anfang an zu sprechen, auch wenn man unweigerlich die ganze Zeit Fehler macht. Ich habe noch kaum meine mitgebrachten Lehrbuecher studiert, aber schon jede Menge neue Saetze, Wendungen und Woerter gelernt - durch Zuhoeren und Nachfragen. Zum Glueck gibt es in meinem Umfeld einige Leute, die mir Russisch auf Russisch sehr gut erklaeren koennen, sodass ich es verstehe. Beispielsweise meine Vermieterin Maja, mit der ich mich ausgesprochen gut verstehe. Sie unterhaelt sich viel mit mir, und zwar so, dass ich es verstehen kann. Das ist einer der gruende, warum ich sie sehr gerne mag. Leider fliegt sie morgen nach Amerika, zu ihrer Familie, dort wird sie einige Monate verbringen. Der positive Nebeneffekt ist aber, dass ich jetzt die Wohnung ganz fuer mich habe und alle Leute zum Feiern zu mir kommen koennen ;) Besuch aus Deutschland ist natuerlich auch herzlich willkommen.
So weit, so gut. Ich hoffe, ich habe jetzt zumindest teilweise einen Eindruck von meiner Arbeit geben koennen. Demnaechst schreib ich mehr. Jetzt, wo ich einmal angefangen habe, merke ich, wie viel es zu erzaehlen gibt...