Lebensentwürfe – maßgeschneidert. Ein Laboratoriumsbesuch
Annika Müller, 23, Preisträgerin
Ein akustisches Unwetter im Viervierteltakt und eine Wand aus heißer feuchter Luft schlägt einem beim Öffnen der Tür entgegen. Der Blick in den Raum wird versperrt von einem haarigen tätowierten Rücken, der fast den ganzen Eingang füllt. Die schweißbeperlten Schulterblätter mit den Schriftzügen „rude“ und „boy“ in gotischen Lettern heben und senken sich immer dann, wenn ein tiefer Atemzug das rhythmische Gebrüll für einen Moment unterbricht. Dann legt sich der kahle Kopf für einen Augenblick in den wulstigen Nacken, so dass die auftätowierte Wirbelsäule einen leichten Knick bekommt, um mit der Wucht des gesamten Oberkörpers beim nächsten Einsatz wieder nach vorne zu schnellen. Dabei verlagert sich das ganze Gewicht auf das rechte, nach vorne gestellte Bein, wieder nach hinten und wieder nach vorne - wie ein Pendel schwankt der massige Körper in der Tür. Viel Wut will sich da Raum schaffen - eineinhalb Quadratmeter müssen dem Sänger der Gruppe Pozor aber vorerst genügen. Die energischen Bewegungen werden gestoppt, kurz bevor der umfangreiche Bauch an das Schlagzeug stößt, auf das die Schlegel mit gewaltigem Tempo prasseln. Die mit dem Schlachtruf „Oi,oi,oi!“ im Takt geschüttelte Faust des Sängers verfehlt oft nur haarscharf das Gesicht des Gitarristen. Platz für Gäste ist in dem winzigen Proberaum lediglich auf dem Gitarrenverstärker. Die Lautstärke hingegen reichte für einen großen Saal aus. Wassertropfen sammeln sich am groben Putz der ungedämmten Wände und auf den Glatzen der drei Musiker. Die Handtücher, mit denen sie sich immer wieder die Stirn abwischen, können kaum mehr Feuchtigkeit aufnehmen. Durstig greifen sie immer wieder in den Bottich voller Wasser, in dem Bierflaschen zum Kühlen liegen. Zwei Mädels, die ansonsten kichernd und rauchend im Vorraum sitzen, sind dafür zuständig, ihn immer wieder neu zu bestücken. Dafür gibt es Küsschen nach Probenschluss. Schulterklopfen für die Jungs. Man ist zufrieden mit dem Ergebnis.
Pozor sind nichts Besonderes. Sie sind der Prototyp einer sogenannten Oi-Band. Anhänger einer Bewegung antifaschistischer Skinheads, die sich überall in Europa zu männerdominierten, losen Grüppchen, sogenannten „crews“ zusammenschließen, um zu trinken, auf Konzerte zu gehen und sich gelegentlich mit Neonazis zu prügeln. Oi: Eine kleine unbedeutende Randgruppe innerhalb der verzweigten europäischen Jugendkulturlandschaft, die die ihrigen an den Tattoos, den Kleidermarken und der Art, wie die Stiefel mit den auffällig abgenähten Stahlkappen geschnürt sind, erkennt. Mit einer für Außenstehende kaum zu durchschauende Bandbreite an Möglichkeiten, sich innerhalb der Gruppe zu positionieren. Manchmal bilden sie „fleets“, wie die Gründungsväter in den Straßenschlachten um Gebietsansprüche in Englands Vorstädten. Manchmal weiten sie ihren Aktionsradius auf die Ränge der Fußballstadien aus. Mal sind sie mehr, mal weniger gewaltbereit, mal mehr oder weniger politisch motiviert. Dabei gilt es - egal ob Globalisierungsgegner oder Fußballhooligan, politisch links oder unpolitisch die Orientierung als Anstecker am Revers zu tragen. Alles an Pozor ist szenegerecht: Das martialische Auftreten, der Backenbart des Schlagzeugers, die rauchige Bassstimme des Sängers, mit der er in typischer Oi-Manier das brachiale Gitarrengeschrammel übergrölt. Sie besingen wie hundert andere Oi-Bands die „working-class“ und Trinkgelage, die Frauen und den Fußball und natürlich die Nazis, die sie zu zerschlagen gedenken. Und doch ist Pozor etwas Besonderes, denn Pozor singen auf Slowakisch, einer Sprache, die noch immer kaum ein Westeuropäer vom Tschechischen unterscheiden kann. „Das macht nichts“, lacht Micha, der Gitarrist der Band, nachsichtig. Schließlich kommt das Wort „Pozor“ für „Achtung“ in beiden Sprachen vor. Immerhin wird das Heimatland der drei Musiker nach der Medienaufmerksamkeit im Rahmen der EU-Erweiterung nicht mehr mit Slowenien verwechselt. Micha lebt, wie auch die anderen Bandmitglieder, seit seiner Geburt in Petržalka, einem Stadtteil der slowakischen Hauptstadt Bratislava. „Pozor – Petržalka“, steht darum auf ihren Plakaten und den selbstgedruckten T-Shirts. Ein Bekenntnis zu einem Stadtteil, in dem rund 120000 Menschen, ein Viertel der Bratislaver Bevölkerung, auf 28 Quadratkilometern leben. An einem Sommernachmittag wie diesem werfen die Plattenbauten lange Schatten auf die betonierten Vorplätze, die Fenster strahlen in der Sonne wie ein Versprechen. Die Luft flirrt ein wenig, so dass die leuchtend bunten Kleidungsstücke, die auf den Balkonen im warmen Wind flattern, leicht verschwommen wirken – wie die Farbstörung eines Fernsehbildschirms. Die Plätze sind sauber, die winzigen Beete vor jedem Haus frisch geharkt. Es gibt weder Bäume, noch Graffiti oder Obdachlose. Es ist mucksmäuschenstill. Nur hin und wieder rumpelt ein leerer Linienbus über die breite holperige Asphalpiste der Ringstraße, von denen sich im Süden des Viertels etwa 11 Stück um jeweils sechs bis acht vollkommen identische Straßenblocks winden. Petržalka, Manifestation des Bauwillens vergangener Zeiten, scheint in einer Art Dornröschenschlaf auf den Filmemacher zu warten, dem es sich als originalgetreue Filmkulisse für eine quotenträchtige Ostalgie-Serie anbieten kann. Einzig der Löwenzahn, der hier und dort anarchisch durch den rissigen Asphalt der Straße bricht, signalisiert Aufbruch.
Micha hat Gulasch gekocht für seine Gäste. Für seine Kochkunst gelobt, schlägt er verlegen die Augen nieder und bedankt sich mit einem stillen Lächeln. Sein rasierter Kopf und seine breiten Schultern können den ersten oberflächlichen Blick verwirren, doch sobald Micha zu sprechen beginnt, mit ruhiger Stimme und weichem Unterton, verrät er sein sanftmütiges Wesen. Seine Bewegungen sind bedächtig, seine Äußerungen wohl überlegt. Er spricht Deutsch mit der perfekten Grammatik und der gewählten Ausdrucksweise, die ein Muttersprachler nie erlangen kann. Darauf angesprochen sagt er bescheiden: „Dafür ist mein Englisch nicht so gut“. Wie die meisten Slowaken spricht er zudem Ungarisch und Tschechisch. Ein bisschen russisch hat er an der Schule auch gelernt. Sein Jurastudium hat er abgebrochen, denn, so erklärt er, „Man braucht auch Geld zum Leben“. Jetzt arbeitet er als Möbeltransporteur – gelegentlich auch in Deutschland. Ob er sich vorstellen könne, irgendwann länger dort zu bleiben? Er zuckt mit den Schultern. „Das Geld ist leichter verdient, aber man wird nicht gut behandelt dort“, sagt er. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie viel Respekt einem osteuropäischen Gelegenheitsarbeiter entgegengebracht wird. Es geht nicht nur um Würde. Da ist auch noch die Freundin, die Band, die Kumpels und nicht zuletzt die Familie.
Eigentlich redet Micha nicht gerne von sich, schon gar nicht ungefragt. Er hört lieber zu. Dabei blickt er dem Gesprächspartner offen und mit aufrichtigem Interesse in die Augen und zeigt Anteilnahme an allem. Sich zurücknehmen können ist eine hilfreiche Gabe, wenn man wie Micha mit der Familie auf engstem Raum zusammenlebt. Ihn stört es nicht, sich im Alter von 24 Jahren ein Zimmer mit seiner jüngeren Schwester zu teilen. „Wir hatten genügend Zeit, uns aneinander zu gewöhnen“, lacht er. Am Wochenende schlafen sie sogar zu viert in den beiden schmalen Betten, die das rechtwinklige Zimmer fast ausfüllen: Micha und seine Freundin links der Tür, seine Schwester und ihr Freund rechts – mit etwas über einem Meter Abstand zwischen sich. Die Eltern nächtigen auf der Ausziehcouch im Wohn- und Essraum, der von der Küchenzeile durch eine Art Hängeregal abgetrennt ist. Darauf stehen dicht an dicht Unmengen kleiner Figuren auf filigranen Klöppeldeckchen: afrikanische Holzschnitzerein, kleine Buddhas, ägyptische Glückskäfer, griechische Miniaturvasen, Babuschkas - die ganze Welt auf ein paar Quadratdezimetern, erstanden auf dem internationalen Trödelmarkt vor dem Einkaufscenter. Zwar kommt der Vater viel rum mit seinem LKW, doch außerhalb Europas ist er noch nicht gewesen. Die Mutter ist Krankenschwester und wird nun von Micha mit einem Kuss zu ihrer Nachtschicht verabschiedet. Einen Kuss erhält auch die Schwester, die mit einem Englischbuch unter dem Arm zum Babysitten geht. „Eigentlich verdienen wir genug. Sie sollte sich auf ihren Schulabschluss konzentrieren“, seufzt Micha. Damit meint er indirekt auch seine Freundin, die in seine Achselhöhle gekuschelt immer wieder ein Gähnen unterdrückt, was Micha mit sorgenvollem Stirnrunzeln quittiert. Auch sie arbeitet, während sie den höheren Schulabschluss nachholt: als Nachtpförtnerin in einem Hotel. Um neun Uhr abends belebt sich das Viertel. Jetzt spucken die Busse im 15-Minuten-Takt Menschen aus. Sie kommen aus der Innenstadt oder aus dem „europäischen Detroit", wie die Region Bratislava von der westeuropäischen Presse wegen der Präsenz internationaler Automobilfirmen gerne genannt wird. Immerhin, die Menschen haben Arbeit. Die Arbeitslosenquote lag in Bratislava mit nur 4,2 Prozent im Januar 2004 deutlich unter dem Landesdurchschnitt von 19 Prozent. Die Autos, die sie produzieren, können sich die Menschen in Petržalka trotzdem nicht leisten. Die riesigen Parkplätze vor den westeuropäischen Großsupermärkten mit den klangvollen Namen Toom, Kaufland oder Carrefour sind in Petržalka leer. Nur die Kassen sind besetzt: Bis zu 15 Kassiererinnen harren hier gegen geringen Lohn 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche auf den Ansprung der Kaufkraft. Die Wiener, die gerne in ihrem „Gratislava“ einkaufen gehen, bevorzugen die gleißenden Einkaufsklötze nach amerikanischem Vorbild in anderen Stadtteilen – mit Rolltreppen, Kinos, Springbrunnen und Markenartikeln, Fitnessstudios und Spielhallen. Die Menschen in Petržalka gehen lieber in die kleinen Tante-Emma-Läden im Erdgeschoss ihrer Wohnhäuser, deren Besitzer tagsüber auf den Bänken vor ihrer Ladentür dösen oder Pfeife rauchen und die nun an ihren Gemüse- oder Fleischtheken einen nichtabreißenden Strom von Kundenwünschen erfüllen. In großen Körben trägt man das Abendessen davon, führt noch einmal schnell die Hunde aus – bevorzugt kräftigere Rassen – um sich dann in die immer gleichen zwei bis vier Zimmer zurückzuziehen. Jetzt trifft sich Michas Crew im „Club“, wie Micha die Sitzgruppe aus Holzklötzen und Planken an einer Böschung augenzwinkernd nennt. In unmittelbarer Nähe dringt laute Musik aus einem gutbürgerlich wirkenden Gasthaus. Im Keller des Barackenbaus fand vor nicht all zu langer Zeit, wie Micha erzählt, ein Konzert der in Deutschland verbotenen slowakischen Gruppe „Judenmord“ statt. Ein Bild des slowakischen Hitlerkollaborateurs Jozef Tiso soll angeblich eine Wand zieren. Im „Club“ sitzen nun – unter ständiger Beobachtung der nun zu Trüppchen angewachsenen Hundeführer – ein halbes Dutzend Jungs zwischen 20 und 30. Man hat sich schick gemacht, die Köpfe glattrasiert, die Stiefel geputzt, die Krägen der Polohemden gestärkt. Nur bei Roman sitzt die Kleidung nicht perfekt. Roman ist gut drei Köpfe kleiner als die anderen, dafür ist seine helle Kinderstimme dreimal so laut. Gewichtig zeigt er seinen Schlagstock, den er unter den zu weiten Hosenbeinen trägt. Er ist ein Mann der Tat, nach der alles in diesem Viertel für ihn schreit. Ein Motorrad muss angepinkelt, eine Fensterscheibe bespuckt, ein Beet zertrampelt werden. Denn sie gehören Nazis – das einzige deutsche Wort, dass Roman kennt und das er mit ekelverzerrtem Mund wie einen alten Kaugummi ausspuckt, um anschließend mit unsicherem Grinsen nach Lob in den Gesichtern der „Crew“ zu suchen. Zu Romans vollster Genugtuung lässt seine Lausbubenenergie später die Sirenen bei „Toom“ schrillen, als man Bier und Mischgetränke kauft. Die vorher noch in ihrer Kanzel mit dem Schlaf ringenden Sicherheitsbeamten ziehen eher lustlos als befriedigt eine Schachtel Zigaretten aus Romans Jackentasche. Sie kennen das Spiel und lassen ihn, gegen eine paar Kronen, mit einer Verwarnung ziehen – vermutlich nicht zum letzten Mal.
Auch das ist Bratislava: Man schiebt sich vorbei an Barock und Rokoko, Palais und Palisaden, an Souvenirständen und Hinweistafeln. Die Sitzplätze vor den Kaffees sind rar, die winkligen Kopfsteingassen eng. Alles drängt in die Kaffeehäuser, die damit werben, ehemalige KuK-Hoflieferanten zu sein. Bunt bewimpelte Pferde ziehen altertümliche Pferdedroschken auf hochmodernen Achsen durch das Gedränge. Der Reiseführer auf dem Kutschbock kommt kaum nach, die Superlative aufzuzählen, die hier dicht an dicht stehen: das älteste Rathaus der Slowakei, Spuren mittelalterlicher Blüte wie der alte Wehrturm Michalska brana, der Martinsdom, in dem bis 1830 die ungarischen Könige gekrönt wurden. Ein Legoland-Idyll abseits vom Straßenlärm, eine Illusion der alten Pressburger Blüte – nur gestört durch die Hinweisschilder von McDonalds, die lästig den Bruch zwischen alter und neuer Zeit markieren. Die Stadt hat sich herausgeputzt für den Konkurrenzkampf mit der nur 60 Kilometer entfernten österreichischen Hauptstadt und signalisiert: Wir sind das wahre Juwel unter den Städten der habsburgischen Donaumonarchie! Die winzige Altstadt wurde dafür in den 90er Jahren aufwendig restauriert. Mit Geld, das für die Sanierung der Plattenbauten, die in der Slowakei noch immer mehrheitlich den Städten und Kommunen gehören, fehlt. Dafür glänzen die Jugendstilfassaden, die Mittelaltermauern sind vom Moos befreit, in den Reiseführern findet sich das Prädikat pittoresk und der Cappuccino ist viermal so teuer wie landesüblich. Doch noch haben sich nicht alle Wunden geschlossen, bröckelt die Farbe an den Rückwänden, manch Hintereingang ist noch unlackiert. An solch einem befindet sich das Klingelschild Peter Schredls und ein Zettel mit dem Hinweis, er sei in dem Zeitungsladen neben dem Vordereingang des Hauses zu finden.
Zwischen Washington Post, le Figaro und Zeit erscheint ein wuscheliger Kopf im Schaufenster. Eine winkende Hand folgt. Peter, von seinen Freunden nur Koňýk genannt, arbeitet in dem Laden, der einem Freund gehört, Marian. Ihm gehört auch die darüber liegende Wohnung, in der Peter zur Untermiete wohnt. Eine schmale Stiege führt hinauf, die Peter nun beschwingten Schrittes, zwei Stufen auf einmal nehmend und ununterbrochen redend, hinaufsteigt. Sein Alter ist schwer zu schätzen. Durchgefeierte Nächte haben Spuren in seinem Gesicht hinterlassen, er hat tiefe Falten in den Augenwinkeln, aber die lebendigen Augen und die geröteten Backen eines kleinen Jungen. Auch etwaige graue Haare können keinen Aufschluss geben: Sie sind grün gefärbt. Er muss wohl auf die vierzig gehen, denn seine Band Zoná A gründete sich Anfang der 80er Jahre. In einer Zeit, von der Peter gerne erzählt: Von den Platten, die sie über Ungarn, wo die Zöllner gegen Trinkgeld nachsichtiger waren, aus dem Westen bezogen haben. Von ersten geheimen Konzerten die, um den Staatsschutz zu verwirren, unter ständig wechselndem Namen in privaten Kellern gespielt wurden und deren Termine über Mund-zu-Mund-Propaganda bekannt gegeben wurden. Von ihrer ersten Einladung zu einem Konzert nach Wien 1988. Von den Kassetten, die sie im Wohnzimmer einspielten, da die Tonstudios überwacht wurden und die seit 1985 in Westdeutschland von einem kleinen Label vertrieben wurden. Von dem Verbot durch den Staatsschutz wegen ihrer antikommunistischen Texte, ihrem ersten offiziellen Album und der ersten Tour in den Westen gleich 1990. Den Redefluss unterbricht er nur, um einen Zug von einer der Zigaretten zu nehmen, die immer in seiner Hand glimmen. Während er redet, gestikuliert er wild, lacht viel und laut. Wenn er etwas besonders Beeindruckendes schildert, reißt er seine Augen weit auf. Auch das Stillsitzen fällt ihm schwer, er rutscht auf dem Sofa hin und her, springt immer wieder auf, um Anschauungsmaterial in Form von Kassetten und Platten zu holen: „Hier das sind Aurora aus Ungarn. Die hatten weniger Glück. Der Sänger wurde ausgewiesen“ oder: „C.P.G., auch aus Ungarn, die haben sie verhaftet“. Zwei Jahre für die gesamte Band – wegen Witzen über den Kommunismus. Die Netzwerke und Freundschaften, die damals über die gesamte Sowjetzone geknüpft wurden, halten noch immer.
Heute pulst das Herz der slowakischen Punkszene in Peters Wohnung, die gleichzeitig Plattenladen, Konzertdirektion und Sitz eines kleinen Plattenlabels ist. In dem großen Raum stehen auf langen Tapeziertischen Kisten mit alphabetisch geordneten CDs und Kassetten. Auf alten Sesseln nehmen einige Kunden über Kopfhörer Kostproben des neu aus Ungarn, Tschechien oder Polen eingetroffenen Hörmaterials. Sie melden sich unten im Zeitungsladen an, wo Marian jetzt die Stellung hält. Peters Privatbesitz beschränkt sich auf eine Matratze hinter einem mit Fanartikeln bestückten Regal, eine E-Gitarre und einen Stapel Klamotten auf einem Verstärker. Der Rest ist öffentlicher Raum, in dem jetzt letzte Vorbereitungen für das am Abend geplante Konzert getroffen werden. An einem Computer werden Flugblätter entworfen, man schwärmt aus, um die heruntergerissenen oder mit Hakenkreuzen beschmierten Plakate zu erneuern, die Bands treffen ein. Ungarische, slowakische, deutsche, behelfsweise englische Wortfetzen schwirren in atemberaubendem Tempo durcheinander. Mit dem landestypischen „Ahoi“ klinken sich immer mehr Menschen in das artistische Sprachengewirr der allgemeinen Unterhaltung ein. Die Stimmung ist gelöst, man diskutiert über Hausbesetzungen und Konzerte, tauscht sich über Städte und deren Besonderheiten aus. „Hamburg und Berlin sind cool“, ist man sich einig – aber anders.
Man versteht sie nicht so recht, die Fans im Westen. Sie kommen nicht zu den Konzerten, der Funke springt nicht über, der Tellerrand ist noch immer hoch. Schuld an Mentalitätsunterschieden ist vielleicht noch immer das zweigeteilte Erbe von 1990: Denn während in Westeuropa alternative Linke für einen Kampf gegen bürgerliche Demokratie und Kapitalismus mobilisierten, waren dies genau die Werte, für die Punks und Systemgegner in Osteuropa kämpften. Noch immer ist der Geist der westlichen Szene eher antiamerikanisch und antikapitalistisch, während für die antisozialistischen Ostpunks Amerika oft noch symbolisch für Demokratie und die freie Welt steht. Ein gewaltiges Konfliktpotential, das oft zu heftigen Auseinandersetzungen führt. Nicht selten holen sich unbedachte Westeuropäer auf einem ersten Festivalbesuch im Osten blaue Augen, weil sie Hammer und Sichel auf der Jacke tragen. Umgekehrt ecken Osteuropäer mit ihrer Amerikafreundlichkeit oder einem im Westen falsch verstandenen Patriotismus an. Jede Äußerlichkeit wird zum Signal, dass überall anders interpretiert wird. Sprachbarrieren und übermäßiger Alkoholkonsum tun das ihrige. Hinzu kommt, dass sich die Jugendkulturen auf beiden Seiten immer im Wandel befinden. So beobachtet Peter mit Sorge: „Viele Jüngere fahren hier wieder voll auf Sozialismus ab.“ Der Hintergrund: Protest gegen traditionalistische und nationalistische Strömungen in der Bevölkerung.
Ob sie wohl der neuen Zugfreiheit in den gelobten Westen freudig entgegenfiebern? Mehr Konzerte spielen, wolle er, sagt einer, „aber das geht ja schließlich auch jetzt schon“. Dauerhaft sein Land zu verlassen, wie sein Vater, der 1990 in sein Heimatland Österreich zurückgekehrt war, ist auch für Peter keine Option. Er liebt Bratislava. Auch wenn er hier noch immer um Konzertgenehmigungen kämpfen muss, auch wenn Konzertgänger nicht selten willkürlich verhaftet oder von Neonazis verprügelt werden, auch wenn er selbst immer wieder mal eine Nacht in der Zelle verbringt. „Hier ist wenigstens was los“, scherzt er. Außerdem, aber das sagt er nicht explizit, ist er in Osteuropa wer, spielt auf den großen kommerziellen Festivals, hört seine Songs manchmal sogar im Radio. In Westeuropa hingegen spielen Zona A im Vorprogramm von Westbands, bis vor nicht all zu langer Zeit noch ohne Gage. „Ihr werdet sehen. Bratislava wird das neue Punkrockparadies“, sagt Peter nicht ganz ohne Ironie, während er den Weg in den Westen der Altstadt einschlägt, um seinen Lieblingsplatz zu zeigen. Auf einem Berg steht hier der breitschultrige, viertürmige Hrad, die alte Burg. Von hier aus sieht man, wie sich Bratislava fächerartig zu beiden Seiten der Donau erstreckt. Man sieht die Ausläufer der Kleinen Karpaten, die im Abendlicht funkelnden Türmchen und Zinnen der Altstadt, erahnt das Drei-Länder-Eck, und, in Dunst entrückt, die grauen Plattenbauten von Petrzalka. Hier senden jetzt die Flutlichter der Supermärkte ihre gleißenden Strahlen in den Abendhimmel und locken damit doch nur Insekten.