Leben in Skopje? - Voll 2014!
Was tun, wenn Hunderte Millionen Euro aus Steuern zur Verfügung stehen und nie jemand die eigenen Ideen im Kunstunterricht beachtet hat? Lebendige Antwort hierfür ist die nord-mazedonische Hauptstadt Skopje, fast schon liebevoll "Europas Kitsch-Hauptstadt" genannt, die auf den ersten Blick wie eine Mischung aus Filmkulisse für Walt Disney und Kims Pjöngjang wirkt. Bericht aus einer unwirklichen Stadt am südlichen Rande Europas.
Schöner hätte es sich nicht einmal Großmeister Walt Disney ausdenken können, als er fast 70 Jahre zuvor die Kulissen für sein Meisterwerk "Cinderella" zu Papier brachte. Überdimensional große Skulpturen, umgeben von Springbrunnen, die in den verschiedensten Farbkombinationen den Nachthimmel erleuchten; geschwungene Brücken aus weißem Marmor, ergänzt durch eine Vielzahl ernstblickender Bronze-Statuen; aus dem Boden schießende Paläste, von welchen selbst Göttervater Zeus vor Neid erblassen würde. Wer sich jetzt immer noch nicht in den reich verzierten Palästen und paradiesischen Gärten Cinderellas wiederfindet, soll eben nur auf die Lautsprecher hören, welche dem Gesamtbild nun vollends die kitschigste aller Kronen aufsetzen - all das ist real im Jahr 2019 und wird von den Klängen Tschaikowskys und Wagners begleitet.
Anders als im Märchen hingegen wartet die nord-mazedonische Hauptstadt Skopje noch auf ihr persönliches Happy End. Nach den aktuellen Namensstreitigkeiten mit dem griechischen Nachbarn und den chaotischen Vorgängen gegen Migranten im Frühjahr 2016 glauben wir viel über Nord-Mazedonien zu wissen. Tatsächlich haben jedoch die meisten Westeuropäer keine direkte Vorstellung vom drittkleinsten Staat auf dem Balkan, geschweige denn von seiner pompösen Hauptstadt. Bester Weg, um die die verworrene Situation hinter den Kulissen Skopjes zu verstehen, ist ein Spaziergang durch das Stadtzentrum, immer unter Beobachtung einer der Hunderten Skulpturen und ihrer starren Blicke.
Zwischen Mokka, Muezzin und Ma'amoul
Hektisch schlängelt sich die Vielzahl an Autos, Mopeds und Fahrrädern über den verstaubten Asphalt, vorbei an halb errichteten Gebäuden, deren Stahlkonstruktionen wie Skelette über das morgendliche Verkehrschaos ragen. Zwar haben die ersten Sonnenstrahlen gerade einmal seit wenigen Minuten den neuen Tag angekündigt, dennoch schieben sich die Menschen bereits wie Ameisen über die Zebrastreifen, bieten die Händler an kleinen Straßenmärkten ihre mit Staub überzogenen Früchte an, sitzen die Werkstattbesitzer bei Kaffee und Schach vor ihren Geschäften auf den Bürgersteigen. Auf den ersten Blick könnte man das morgendliche Skopje als normale Stadt abstempeln, dessen Straßenbild fast schon einen Hauch von griechisch-türkischer Atmosphäre verbreitet. Auf Normalität wird man hier jedoch wohl kaum stoßen.
Es sind nur wenige Minuten zu Fuß, um dem Trubel der breiten Straßen zu entkommen und die mehrstöckigen Wohnhäuser gegen die gepflasterten Gassen des alten Basars zu tauschen. Wenn es jenen Ort, an dem die mazedonischen Uhren noch anders ticken, irgendwo geben sollte - hier, zwischen der mächtigen Festung Kale, die über den roten Ziegeldächern der Čaršija thront, und den traditionellen Kaffeehäusern, ist er zu finden. Ab und zu breitet sich der schallende Gebetsruf von einer der Minaretten aus, vermischt sich mit den Gerüchen frisch gebrühtem Mokkas und trägt einen Hauch von Exotik durch die verwinkelten Gassen; verstärkt wird dieses Gefühl durch die fast unscheinbaren Stuben, in denen auch kulinarisch mit selbst gebackenen Süßigkeiten wie Baklava oder Ma'amoul der Nahe Osten nach Europa teleportiert wird. Kaum zu glauben, dass dieses Kleinod muslimischer Kultur bereits zwei schweren Erdbeben - das letzte liegt erst 56 Jahre zurück - sowie einem riesigen Stadtbrand im Jahr 1689 zum Opfer fiel und nichtsdestotrotz heutzutage wie Phoenix aus der Asche als Mittelpunkt mazedonischer Gelassenheit blüht.
Mehrfach zerstört, das letzte Mal 2014 durch den Menschen
Man kann bereits wenige Schritte außerhalb des traditionellen Altstadtkerns Zeuge werden von einem der aufwendigsten, größten und zugleich auch unnötigsten Bauprojekten, welches selbst deutschen Größenwahn á la Stuttgart 21 oder Flughafen Berlin-Brandenburg wie durchgeplante Perfektion erscheinen lässt. In 29 Metern Höhe streckt Philipp II. von Makedonien seine bronzene Faust dem Himmel entgegen, überragt die aufgespannten Schirme, die umliegenden Dächer und wirkt doch irgendwie fehl am Platze. Wem er wohl mit eiserner Miene die Hand entgegenstreckt? Dem angrenzenden Springbrunnen mit seiner Vielzahl gusseiserner Figuren? Den griechischen Nachbarn, um unmissverständlich die mazedonische Identität und Selbstständigkeit heraufzubeschwören? Oder wohl doch eher Alexander dem Großen, seinem Sohn, der in nicht einmal 500 Meter Entfernung auf der anderen Flussseite thront?
" ... vielmehr als der verzweifelte Versuch, die eigene Identität durch übersteigerten Nationalismus zu begründen"
Überquert man zusammen mit den Händlern und spielenden Kindern die alte Steinbrücke, von den Römern erbaut und seither Verbindungsweg zwischen den zwei Stadthälften, eröffnet sich vollends ein Maximum an mazedonischer Geschichtsklitterung, ethnischer Rivalität und Demokratieverständnis auf dem westlichen Balkan. Da fällt der Blick unweigerlich auf die pompösen Außenfassaden des Archäologischen und des Museums für die makedonische Unabhängigkeit, deren schlohweißen Säulen sich im rauschenden Vardar widerspiegeln. Oder die 29 Skulpturen bekannter makedonischer Künstler auf der "Art Bridge", angestrahlt durch eine fragwürdige Kombination knallbunter Farben. Und als ob das Gesamtbild nicht schon vielmehr als der verzweifelte Versuch erscheint, irgendwie die eigene Identität durch übersteigerten Nationalismus zu begründen, liegen auch noch drei nachgebaute Piratenschiffe am Ufer der Vardar - absoluter Höhepunkt einer fast schon peinlichen Selbstinszenierung; vielleicht übersehe ich aber auch die makedonischen Vorfahren von Captain Jack Sparrow (Einheimische mögen mich berichtigen, wenn auf dem Vardar tatsächlich jemals Piraten Schrecken verbreiteten).
"Alexander der Große: Grieche? Nein, Mazedonier! Oder doch nicht?"
Was für Touristen auf den ersten Blick skurill und unterhaltsam wirken könnte, lässt die Bewohner Nord-Mazedoniens ganz und gar nicht lachen. "Skopje 2014" nennt sich die Ursache dafür, dass die Paläste und Prunkbauten nun wie ein klassizistischer Freizeitpark inmitten des sonst kommunistisch grauem Stadtbildes zu finden sind; sarkastische Bemerkungen über die erneute Zerstörung des Stadtbildes seit 2014 (Skopje wurde mehrfach in seiner Vergangenheit Opfer schwerer Erdbeben) gehören fast schon zum Standardrepertoire eines jeden Smalltalks mit den Einheimischen.
Hinter dem Projekt verbirgt sich nicht nur eine der größten Verschwendungen öffentlicher Gelder auf dem gesamten Balkan, sondern auch ein unvorstellbares Maximum an staatlicher Inkompetenz. Triumphal erheben sich nur die stummen Zeugen aus Bronze, Marmor und Gips; Anlässe zur Einweihung stolzer Krieger oder eines weithin sichtbaren Triumphbogens sucht man vergebens in Nord-Makedonien, wo die Jugendarbeitslosigkeit bei desaströsen 50% liegt. Der Staat von ethnischen Spannungen durchzogen, wachsende Statistiken der abwandernden Bürger, ein Fünftel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze - doch trotzdem setzte die ehemalige Regierung unter Ministerpräsident Nikola Gruevski offensichtlich andere Prioritäten. Was bleibt sind das neoklassizistische Regierungsgebäude, dessen Säulenallee sich als künstliche Styropor-Fassade entpuppte, das Reiterdenkmal Alexanders des Großen, welches die makedonisch-griechischen Beziehungen an den Rande einer Eskalation brachte, das eigentlich bescheidene Geburtshaus der Mutter Teresa, als hypermoderner Stahl-Glasbau neu errichtet eher das Haus eines millionenschweren Designers denn einer Heiliggesprochenen. Während die Politiker also mehr in der eigenen Parallelwelt ihrem Größenwahn freien Lauf ließen und sich hinter den meterdicken Wänden ihrer Paläste versteckten, begannen die Schulen zu verroten und Bürger sich die Frage zu stellen, woher denn eigentlich die fast 700 Millionen Euro für die Baukosten kamen - berechtigt, in einem Land, wo doch das monatliche Durchschnittsgehalt unter 400 Euro liegt und dessen Staatshaushalt sich zwischen dem von Jemen und der DR Kongo einordnen lässt.
Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt, wer hat so viel Geld?!
Und siehe da - schlüssig konnte Gruevski nicht argumentieren, wächst der mazedonische Denar ja auch nicht auf Bäumen. Schon offensichtlicher erscheint da eher die verblendete Haltung der verantwortlichen Regierung, ohne jegliche Teilhabe der Öffentlichkeit "Skopje 2014" zu beschließen und ohne Rücksicht auf das Wohl des Volkes umzusetzen.
Skopje ist eine Stadt voller Symbolik, fast jedes Bauwerk verbirgt seine eigene Hintergrundgeschichte, unter deren Oberfläche es jedoch nach wie vor gewaltig brodelt. Da ist beispielsweise das 66 Meter hohe Milleniumskreuz auf dem Hausberg Vodno; das Straßennetz und die Blocks von Skopje überragend macht es unmissverständlich deutlich, welcher Konfession die nord-makedonische Hauptstadt zugehörig ist - oder doch nicht? Spannungen zwischen der albanisch-muslimischen Minderheit auf der Flussseite des alten Basars und der makedonisch-slawistischen Mehrheit in der anderen Stadthälfte sind nicht von einem Tag auf den anderen entflammt, bereits 2016 zerstörten albanische Mazedonier das als Provokation empfundene Fundament für ein überdimensionales orthodoxes Kreuz - dessen Bau selbst war ebenfalls eine Antwort auf den errichteten albanischen Doppeladler.
Doch das sind längst nicht die einzigen Spannungen, die sich über das einst als Vorzeige-Land des Balkans geltende Nord-Mazedonien gelegt haben und Fortschritt sowie die Verwirklichung demokratischen Standards behindern. Während man nun gegen Ende des Stadtrundgangs durch die abendlichen Straßen Skopjes streift, führt der Weg gewiss auch am Nationalparlament vorbei. Immer noch erscheinen die Aufnahmen der aufgebrachten Nationalisten lebendig, zu Hunderten stürmten die maskierten Anhänger der Gruevski-Regierung den Parlamentssaal, verletzten die Abgeordneten der sozialdemokratischen Nachfolgeregierung teilweise schwer. Abgekühlt ist die Stimmung unter den Nationalisten auch knapp zwei Jahre nach den Vorfällen keineswegs, daran erinnern noch die in einem gegenüberliegenden Park aufgebauten Zelte nationalistischer Demonstranten. Die Umbenennung in Nord-Mazedonien und damit vermeintliche "Kapitulation" gegenüber dem griechischen Nachbarn dürfte deren Chauvinismus zur Explosion bringen und dem jungen Balkanstaat mehr als nur eine ungewisse Zukunft bescheren.
Mit Farbbeutel gegen Korruption
Wie reagiert man angemessen auf jenes ungewollte Disneyland vor der eigenen Haustür, in dem statt Goofey und Micky Maus eine korrupte Regierung das ganze Volk zum Narren hält? Würden die Berliner Angela Merkel auch frei gewähren lassen, durch milliardenschwere Bauprojekte den preußischen Glanz Friedrich II. an der Spree wieder aufleben zu lassen?
Knallbunte Farbflecken an zahllosen Regierungsgebäuden und Monumenten zeugen immer noch vom Widerstand vordergründig junger Mazedonier, der sich vor drei Jahren während der "Bunten Revolution" in den vielfältigsten Variationen entlud: mit Farbe gefüllte Luftballons, Tüten oder Eimer schleuderten die aufgebrachten Demonstranten über improvisierte Katapulte gegen die schlohweißen Fassaden jener Hassobjekte, die ihren Hoffnungen auf eine prosperierende Zukunft den Riegel vorschoben. Im Schatten der Europameisterschaft und des Brexit-Schocks erzwang das junge Gesicht Nord-Mazedoniens Neuwahlen; die neue Regierung unter Ministerpräsident Zoran Zaev ist dabei, die festgefahrenen Beziehungen zwischen Skopje und Athen zu entspannen, spricht vom Nato-Beitritt und der europäischen Perspektive, Pläne werden geschmiedet, Skopje wieder von den Hinterlassenschaften korrupter Eliten zu befreien.
Und Gruevski? Im Gegensatz zu den Prunkbauten am Vardar ist sein Abschied keineswegs von königlicher Größe gewesen. Nach der rechtmäßigen Verurteilung wegen Korruption ergriff er schlagartig die Flucht aus seiner Heimat und erhielt - bei wem auch sonst? - im November 2018 durch Viktor Orbán ein Recht auf Asyl.
Zurück bleiben die normalen Bewohner von Skopje, Monatsgehalt unter dem deutscher Sozialhilfeempfänger, die in diesen bitterkalten Dezembertagen durch die hell erleuchteten Fußgängerzonen ziehen. Eine abstoßende Kälte strahlt von den Verzierungen der Häuserfassaden auf die Passanten herab, bewegen sich wie Fremdkörper durch eine Stadt, die seit 2014 nicht mehr ihre eigene ist, die sich schrittweise von der makedonischen Realität abgewandt hat.