Kulturschock
Lockenjule ist nach einigen Schwierigkeiten in Moldawien angekommen und erlebt einen herben Kulturschock. Auch nach einigen Tagen ist vieles im Land ungewohnt und seltsam.
Gerade geht mein zweiter Tag in Moldawien zu Ende, dabei ist es gerade mal viertel acht. Aber gegen acht ist es hier dunkel.
Ich hab ziemliches Heimweh. Weil ich allein bin in meinem Zimmer und auf die Müdigkeit warte. Für Bücher war in meinem maximal 20 kg Fluggepäck kein Platz. Für meine Familie leider auch nicht. Das klingt ziemlich traurig; wahrscheinlich deshalb, weil ich gerade erst hier bin und mir alles noch sehr unwirklich vorkommt. Ich glaube, die Zeit des Realisierens wird es gar nicht geben - zuerst kommt man sich vor wie in einem Film, dann ist auf einmal alles Gewohnheit. Zum Beispiel mein Fußweg von dem bröckeligen Zwanzig-Geschosser, in welchem ich bei einem älteren Ehepaar ein Zimmer habe, zur Innenstadt und dem dortigen größten Supermarkt der Stadt. Aber ich will ja nicht hinten anfangen, sondern vom Beginn der – wie es mir noch vorkommt - ‚Reise‘.
Am 13. September, gestern, um halb vier morgens klingelte mein Wecker. Ich hatte überraschend tief geschlafen; was wahrscheinlich daran lag, dass ich von den kurzen Nächten auf dem Ausreiseseminar und dem Thermenbesuch am Tag vorm Abflug ziemlich fertig war. Trotz meines tiefen Schlafes ließ mich das erste Geräusch des Radioweckers sofort aufschrecken. Schnell war ich für eine (vorläufig wahrscheinlich letzte) ausgiebige Dusche im Bad verschwunden. Dann noch schnell anziehen, die Haare machen, schminken, Waschtasche einpacken. Bloß keine Zeit zum Nachdenken. Zum Zweifeln.
Mama und Papa waren inzwischen aufgestanden, Papa hat uns wie jeden morgen Frühstück gemacht. Auch morgens um viertel sechs. Dann noch mal überprüfen, ob die Taschen mit allem bepackt sind, was mit muss. Oder zumindest soviel, dass die Maximalkapazität von 20 kg bis aufs letzte ausgenutzt ist. Falls noch mehr erlaubt sein würde oder die Personenwaage aus dem Bad gar ein paar Kilos weniger angezeigt hat, als mein Gepäck tatsächlich barg, nahm Mutti noch zwei kleinere Reisetaschen mit. Dann gings ab ins Auto.
Mein Bruder schien alles nicht so recht mitzukriegen. Viel zu müde war er. Auf dem überraschend kurzen Weg zum Flughafen Tegel überprüfte ich gedanklich noch mal mein Handgepäck: Reisepass, Ticket, Geld …. Alles dabei. Dann waren wir auch schon auf dem Flughafengelände. Papa ließ Mama und mich schon mal samt Gepäck aussteigen, um selbst noch den richtigen Parkplatz für Terminal C, den Air-Berlin – eigenen Abfertigungsschalter, zu finden. Noch recht euphorisch marschierten Mama und ich mit meinem Trekkingrucksack, einer Reisetasche und meinem überdimensionalen Handgepäck zum Schalter, um das Gepäck abzugeben und einzuchecken.
Schönen guten Tag, einmal nach Moldawien, hier sind Ticket und Reisepass. Könnten wir das Gepäck noch mal bei Ihnen wiegen, wir sind uns nicht sicher, wie schwer es ist. - Guten Morgen, nur zu, bitte, wiegen Sie…..Na da können Sie sogar noch was reinpacken, eins zwei Kilo können Sie noch verstauen. Kein Problem. Nur mit ihrem Check, sehe ich grade, da gibt es ein Problem. Sie haben ja kein Visum, da bräuchte ich dann mal ihr Rückflugticket um zu sehen, dass sie auch innerhalb von drei Monaten wieder ausreisen. Ansonsten kann ich sie leider nicht einchecken. –Wir haben aber noch kein Rückflugticket, das buchen wir kurzfristig vor Ort.- Dann kann ich leider nicht sicher sein, dass Sie wieder ausreisen. Da lässt man Sie in Moldawien bestimmt auch gar nicht einreisen.
Das hatte mir grad noch gefehlt. Hatte ich doch an diesem abschiedsträchtigen Morgen doch eh schon nah am Wasser gebaut. Ewig ging es hin und her. Mehrere Male wurde der Vorgesetzte angerufen; selbst die ADVIT-Emergency-Number wurde gewählt und zur Flughafendame weitergereicht. Doch es nützte alles nichts, und die Zeit lief. Rannte. Also mussten auch wir Rennen. Mama und ich im gestreckten Galopp ins andere Flughafengebäude, zum Zoll. Der Zollbeamte schaute auch noch mal nach, erklärte uns, was wir schon wussten, kam aber immerhin mit mir zum Schalter.
Mama suchte inzwischen den noch weiter entfernten Ticketverkauf der Lufthansa, da Air Berlin natürlich keine Flugtickets von Moldawien nach Deutschland anbot. Der Zollbeamte versuchte zu vermitteln, hatte aber auch keinen Erfolg. Mama kam zurück. Man entschied sich zum Kauf eines Rückflugtickets, um es gleich darauf wieder zu stornieren. Mama und Papa rannten noch mal. Bei mir rannen die Tränen, irgendwann konnte ich mich einfach nicht mehr zusammenreißen. Toralf tröstete mich. Die Sekunden schlichen. Die Schalterdame versuchte sich rauszureden. Das brachte mir aber auch nichts.
Papa kam zurück gerannt, mit einem vollständig stornierbaren Businessclassticket; kurz darauf Mama mit dem Reisepass. Endlich konnte ich einchecken. Dann fiel der Dame aber spontan auf, dass sie das Gepäck für Osteuropa gar nicht abfertigen darf. Zumindest bereitete sie alles vor und ging dann mit uns zusammen und dem bezettelten Gepäck zu einem anderen Schalter. Ich wäre am liebsten auf der Stelle umgekehrt und nach Hause gefahren. Doch dann war das Gepäck auch schon mit dem Fließband verschwunden, und es hieß Abschied nehmen. Noch schnell, denn bald kam das Flugzeug.
Überraschender Weise kullerten die Tränen nur bei mir und meinem Bruder. Papa machte noch mal ne klare Ansage. „So Dicke, erstens Durchhalten, zweitens deine Eltern sind immer für dich da.“ Auch Mama sprach mir Mut zu drückte mich ganz fest, jetzt kann es ja nur noch besser werden. Dann legte ich auch schon meinen Pass vor und Handgepäck aufs Band. Der Kontrolleur ließ mich noch meine Tasche auspacken, da er einem kastenartigen Gegenstand nicht über den Weg traute, der sich als meine Aquarellfarben herausstellte. Dann stand ich schon kurz vor dem Transitbereich, winkte ein letztes Mal durch die Scheiben. Oh, es klingelt auch gerade. Das wird meine Mitbewohnerin sein. Gleich lerne ich sie kennen. Danach schreibe ich weiter.
Aha, noch mehr Stoff zu Erzählen. Jetzt habe ich meine (Wohnungs-)Mitbewohnerin kennen gelernt. Sie wohnt jetzt im Nachbarzimmer, ebenfalls ehemaliges Kinderzimmer der Töchter von Natalia und Alec. Aber mehr zu ihr später. Zurück zur An- und gleichzeitig Abreise. Also mit der Air Berlin gings dann zum Domodedovo Airport Moskau. Tolle Fluglinie, von Berlin über Moskau nach Moldawien… was für ein Umweg, wo es doch einen Direktflug von Frankfurt einen Tag später gegeben hätte. Dann wäre ich aber auch einen Tag später angereist. Die Nachteile dessen erläutere ich gleich, zuerst möchte ich aber noch ein paar Worte zum Moskauer Flughafen loswerden.
Domodedovo, der größte von Moskaus fünf Flughäfen. Im Flugzeug dahin lernte ich, was ist die Welt doch für ein Dorf, einen Koordinator des EFD (Europäischer Freiwilligendienst, das Dachprogramm meiner Entsendeorganisation) kennen, der mal für ein Jahr in Bosnien war und den für mich Verantwortlichen kannte. Er erzählte mir auch gleich noch von seiner Arbeit und wünschte mir viel Erfolg. Er selbst war übrigens auf dem Weg nach Moskau, um die Cousine seiner Freundin zu besuchen. Zufälle gibt’s…
In Moskau selbst lief alles glatt. Ich fand verhältnismäßig schnell eine Flughafenangestellte, die der englischen Sprache zumindest soweit mächtig war, dass sie mir den winzigen, vollkommen unauffälligen Zugang zum Transitbereich für Umsteiger zeigen konnte. Mein Gate fand ich dann sehr schnell. Der Flug verspätete sich zwar um eine dreiviertel Stunde und es wurde spontan das Gate gewechselt, aber da musste ich ja dann nur noch den zahlreichen Russen um mich herum folgen.
Apropros Russen. Die haben ja Männlein wie auch Weiblein alle ein gemeinsames Merkmal. Wenn auch sonst nischt sitzt, die Schuhe sind immer blank poliert. Fast alle Männer tragen diese Macho-Schnabel-Lederschuhe in Schwarz, gern auch in Schlangenhautoptik. Die Frauen tragen jede erdenkliche Form viel zu hoher Schuhe, am liebsten mit Glitzer und fetter Goldschnalle. Und wenn schon kein Absatz, dann wenigstens Lack. Und alle führen eine pompöse Handtasche mit sich. Gleich vorweg, bei den Frauen und Männern hier in Moldawien ist das genauso. Nur dass hier auch die Männer eine Handtasche haben, zumeist braunes oder schwarzes Leder.
Im Allgemeinen ist hier alles sehr russisch. Das merkte ich nicht nur im Flugzeug, in dem es plötzlich überall nach Knoblauch stank, als die Stewardessen das Essen zubereiteten, während ich noch um meine heile Ankunft in der dröhnenden Maschine bangte. Auch bei der Ankunft begegneten mir sofort kyrillische Buchstaben. Erst Handywerbungen, dann Warnschilder vor der Schweinegrippe. Diese Schilder gab es samt Verhaltensvorschriften und Passkontrolleurinnen mit Mundschutz auch in Rumänisch und Englisch. Zuerst dachte ich, in Moldawien sei ohne mein Wissen irgendeine Epidemie ausgebrochen. Erst anhand der Wörter „Pandemia“ und „Don’t hug people around you“ wurde mir klar, dass auch hier die Grippepanik ausgebrochen war.
Bei mir hingegen stellte sich keinerlei Panik ein, insbesondere, weil ich mir dank des teuren Rückflugtickets der Einreise sicher sein konnte. Ich brauchte es übrigens nicht! Die Dame an der Passkontrolle lugte nur über ihre Brille zu mir, nickte kurz und weg war ich. Dann stand ich ewig, wahrhaft ewig am Gepäckband und freute mich schon auf eine Woche mit nur einem Schlüpper, als dann doch endlich mein Trekkingrucksack und die Tasche erschien. Beides ungeöffnet und halbwegs wohlbehalten. Juppheidi, zumindest dies hat geklappt.
Dann ging es eigentlich auch sehr gut weiter, denn nachdem ich mich durch die freudig wartende Moldawenmenge am Ausgang gequetscht hatte, sah ich zwei hoffnungsvoll blickende junge Frauen mit einem ‚Julia Lisnec‘-Schild in der Hand. Beide, die Freiwillige Rachel aus London und die ADVIT-Angestellte Oksana aus Chisinau, begrüßten mich sehr freundlich und halfen mir sofort mit dem Gepäck. Im Taxi mit Riesensprung in der Frontscheibe und ohne Gurte erzählten wir sehr locker und offen miteinander auf Englisch, was bei Rachel als gebürtige Engländerin und gleichzeitig Stotternde sehr niedlich klang.
Zwischendurch schaute ich immer wieder aus dem Fenster… und was ich sah, gefiel mir ehrlich gesagt überhaupt nicht. Was hattest du erwartet, fragte ich mich selbst, du bist im ärmsten Land Europas, du solltest glücklich über den Anblick sein. Der Anblick bestand aus heruntergekommenen stalinistischen Bauten, die jeden Moment einzustürzen schienen. Tun sie übrigens nicht, das weiß ich, seit ich in solch einem wohne. Die Wände sind sogar dicker, als man denkt.
Nun ja, als nächstes war ich nach der Taxifahrt ziemlich angeekelt von den massenhaft herumstreunenden großen Kötern, die nachts übrigens einen mächtigen Radau machen. Als wir dann den Riesenblock betraten, der jetzt mein Heim ist, wollte ich eigentlich nur noch weg. Als ich dann im Fahrstuhl auch noch meiner Gastmutter vorgestellt wurde, einer –meinem ersten Eindruck nach, ich sag’s jetzt mal so böse - fetten älteren Frau mit kurzem, dünnen Haar, schon abgewetzten und damit fast durchsichtigen Haussachen und alten Latschen, sowie viel zu viel Lidschatten, wurde ich allmählich immer misstrauischer. Aber zumindest war ich froh, die Fahrstuhlfahrt überlebt zu haben… was die Fahrt mit diesen Uralt-Monstern nicht gerade verspricht. Aber auch daran habe ich mich jetzt bereits schon gewöhnt.
Im 14. Stock angekommen, bemerkte ich den Übergang von Hausflur zu Wohnungsflur kaum, so freundlich ausgedrückt „Ton in Ton“ ist hier alles. Dann aber erkannte ich am Kühlschrank im Flur und der Aufforderung, die Schuhe auszuziehen die Wohnung als solche. Ich wurde den Flur entlang zu zwei leer stehenden Kinderzimmern geführt, von denen – und jetzt kommt der Vorteil der früheren Anreise - ich mir eines aussuchen konnte. Ich entschied mich natürlich für das Größere von beiden, was zudem einen winzigen Kinderschreibtisch und einen Fernseher enthält. Nur einen Schrank gibt es nicht so richtig. Eine kleine Kommode und zwei Schubladen, das ist alles.
An sich sollen Roswita (die noch neuere Freiwillige) und ich uns den Schrank in ihrem Zimmer teilen, aber das finde ich stressig. Wahrscheinlich wird sie aber die alten Sachen von Alec, die die Hälfte der Kommode in meinem Zimmer besetzen, in eine Schrankecke verfrachtet bekommen. An sich habe ich aber ein sehr schönes Zimmer; mit Steckdosen, die übrigens nicht wie per Mail von ADVIT beschrieben dieselben wie Deutschland sind, auch wenn sie gleich aussehen. An dieser Stelle sei meinem pragmatischen Vater in höchstem Maße gedankt, der an einen Adapter gedacht hat. Mein Bett ist breit und eigentlich eine ausklappbare, sonst furchtbar hässliche Couch. Leider hänge ich mit den Füßen raus und das Bett ist sehr hart, aber das geht schon. Schlimmer finde ich eigentlich, dass ich keine richtige Decke habe, nur eine Wolldecke, die ich mir über den Bettbezug legen kann. Deswegen war ich heute nacht drei Mal wach… ständig fehlte eine der beiden Decken.
Als ich gestern dann auspackte, bat Natasha mich zum Essen. Das heißt, sie winkte mich mit den Worten ‚Ham ham‘ dorthin, denn sie spricht nur Russisch, kein Rumänisch oder Englisch. Aber wir konnten uns trotzdem verständigen. Sie hatte mir Tomatensalat mit ordentlich Zwiebeln gemacht und etwas, das ich als ääääh frittierte Frischkäsebuletten bezeichnen würde. Das Zeug fand ich mitsamt dem Schmand darüber nicht gerade lecker, war es doch vollkommen ungewürzt (nur massig Dill drin) und ich hatte überhaupt keinen Hunger…trotzdem hab ich soviel gegessen, wie rein ging und dann angedeutet, dass es wundervoll geschmeckt hätte.
Danach erklärte ich Natalia mit Händen, Füßen, einem Russisch-Englisch-Wörterbuch und ihrem Mann Alec, der drei Worte Englisch kann, dass ich ein bisschen in der Gegend spazierten gehen wolle. Dies tat ich dann auch. Dabei lernte ich die verschiedensten und für nach wie vor ekligen Gerüche kennen, sah viele arme Menschen, streunende Katzen, Hunde und Ziegen und diverse ‚Mini Markets‘, in denen es alles zum Leben billig und teilweise dreckig (man entschuldige die Ausdrucksweise, aber so ist es wirklich) zu kaufen gibt.
Ich schaute mich also an diesem Sonntagabend zwischen den riesigen Blocks um, wo Bäume und Rasenflächen stark von den Anwohnern genutzt werden. Die alten Leute, die das Wort Rente wahrscheinlich nie gehört haben, sitzen auf Bänken und brabbeln ohne Zähne und in abgewetzten Sachen vor sich hin. In ich sag mal ‚Rudeln‘ stehen Jugendliche, zumeist nur junge Herren und verbringen ihre Zeit mit gut aussehen. Ebenso tun es die Muttis und jungen Frauen, die auch an einem Sonntag vor der Haustür ihre höchsten Schuhe, engsten Hosen und schönsten Oberteile tragen.
Die Männer sitzen in kleinen Cafés, na eher Kiosken mit Terasse, und belabern sich oder fahren vor ihrer kleinen miefigen Wohnung mit dem dicksten Auto, das sie sich leisten konnten, durch die Stadt. Soweit mein Eindruck. Als ich gegen halb acht wieder in der Wohnung war, hatte Natalia die beste Freundin ihrer Tochter eingeladen, welche einige Stockwerke darunter wohnte. Sie war Englischlehrerin ohne Arbeit und Mutter einer Tochter. Und eine echt nette Frau. Zuerst dolmetschte sie zwischen Natalia und mir, dann sprachen nur noch wir beide auf Englisch.
Sie erzählte mir, dass jeder Moldauer, der irgendwie die Möglichkeit zum Ausreisen hat, wegzieht oder zumindest als Gastarbeiter weggeht. Dass der Fortschritt hier nur sehr langsam kommt. Dass sie davon träumt, zu ihrer Schwester nach Kanada zu ziehen. Und in einer Bank zu arbeiten, denn sie kann irgendwie doch nicht mit vielen Kindern. Zumindest verdienen ihr Mann und ihr Vater (der auch in der Wohnung lebt) so viel, dass sie einen Internetanschluss haben und sie so mit ihren Verwandten im Ausland in Kontakt bleiben kann. Auch ich darf bei ihr mal Skype benutzen.
In eineinhalb Wochen bekommt sie Besuch von ihrer Cousine, die jetzt mit einem deutschen Mann in Leipzig lebt. Sie wird mich Ihnen vielleicht vorstellen.
Als sie sich gegen neun verabschiedete, zog auch ich mich in mein Zimmer zurück, um mich bettfertig zu machen. Leider war ich nicht müde, und so hatte ich leider, leider Zeit an meine Familie zu denken und Heimweh zu bekommen. Hoffentlich wird das heute Abend, also gleich, nicht wieder so. Da fällt mir ein, ich kann an Weihnachten nach Hause. Noch zähle ich die Tage bis dahin. Hoffentlich ändert sich das noch.
Heute erzähle ich von gestern. Auch heute ist wieder soviel neues passiert… ich hoffe, ich kann mich an gestern noch erinnern. Um mich herum ist es übrigens dunkel, nur mein Laptop leuchtet und das daran angebrachte USB-Lämpchen. Mal überlegen, was ist gestern, an meinem ersten vollständigen Tag hier, so alles passiert…
Ah ja, alles begann mit dem schrecklichen Piepen meines Handyweckers um viertel acht. Nach der ersten Nacht im fremden Bett war ich zwar ein wenig gebeutelt, dennoch stand ich voller Tatendrang sofort auf. Wie das bei mir eben so ist. Ich wusch mich, Duschen verbraucht bekanntlich zu viel Wasser und in die Dusche hier steigt man auch nur ungern. Dann noch schnell das obligatorische Aufhübschen, da rief Natalia auch schon „Juliiiiii, *blablablabla*, charascho?“ Sie hatte mir Frühstück gemacht. „Chai? Kuffje?“ Tee bitte, danke.
Zum Frühstück gab’s ein Scheibchen trockenes Weißbrot mit Sandwichkäse, eine Tomate und ein gekochtes Ei. Wo ich gekochte Eier doch so ‚gern‘ esse. Zum Glück war es halbwegs hart gekocht, und ich hab mich ehrlich über das liebevolle kleine Frühstück gefreut. Und natürlich aufgegessen. Dann räumte ich mein Zimmer auf, schrieb noch schnell einige Stichpunkte für mein Tagebuch, da steckte Natalia schon den Kopf durch die Tür. „Julii? Go?“ Ich hatte die Zeit völlig vergessen, sollte sie mich doch viertel neun zum Stefansdenkmal in der City bringen, wo eine andere Freiwillige mich holen und zum Büro bringen würde.
Zusammen verließen wir eilig das Haus und liefen vor bis zur nächstgelegenen Hauptverkehrstraße. Eigentlich wollten wir den Weg laufen, aber da es bereits so spät war, winkte Natalia eins von den ‚Madschukas‘ heran. Das sind Busse in Van-Größe, die eine bestimmte Strecke fahren und unterwegs für drei moldawische Lei jeden, jeden der an der Straße steht und winkt, mitnehmen. (Nur für die Preisvorstellungen: 16 Lei entsprechen einem Euro). Mit diesem überfüllten Gefährt gings jedenfalls ziemlich rasant einige überfüllte Straßen entlang zum Stefansdenkmal. Dort musste ich dann jedoch noch zwanzig Minuten auf die Freiwillige warten, weil wir eigentlich erst neun Uhr verabredet waren. Wir hatten uns da irgendwie missverstanden.
Abgeholt wurde ich von Helena aus Dänemark, ein Alternativ-Mädchen mit roten Haaren, Piercing und großen blauen Augen. Sie war bereits zwei Wochen hier und kannte die Stadt schon sehr gut. In dem Moment dachte ich noch, wow, sie kennt die Stadt nach so kurzer Zeit schon sooo gut. Heute denke ich, dass man sich hier sehr schnell zurechtfindet. Und wenn selbst ich das sage, dann stimmt das auch. Helena brachte mich jedenfalls zum Büro… wenn man das so nennen kann. Eigentlich ist es nur ein kleiner Raum in einem kleinen Haus hinten in einem Innenhof, aber es gefällt mir gut, gerade, weil es so inoffiziell und versteckt ist.
Dort angekommen, wurde ich von einer ehemaligen Freiwilligen und jetzt Mitarbeiterin in die wichtigsten Dinge eingewiesen. Dann kam die Chefin, Natasha, mit der ich zuvor immer E-Mail-Kontakt gehabt hatte. Ihr erzählte ich von meiner schwierigen Einreise wegen der Probleme mit Air-Berlin; und dass ich jetzt ein 1500 teures Ticket bei mir hätte, das auf sicherem Wege nach Berlin zurückmusste. Damit schied die moldawische Post schon mal aus. Aber ich hatte Glück. Natasha, welche am nächsten (also heute Morgen) für zwei Wochen nach Frankreich reisen würde, erklärte sich bereit, das Ticket von Frankreich aus loszuschicken. Nur müsste ich es sofort holen.
Zum Glück hatte ich jetzt einen Stadtplan und wusste ungefähr, wo das Büro lag. Als ich auf den Stadtplan schaute, wurde mir auch gleich klar, dass ich von meinem Zimmer zum Büro auf ungefähr so direktem Wege gekommen war, wie von Berlin nach Chisinau. Zumindest würde ich mit etwas Glück schnell bei meinem Wohnblock sein. In meinem Ghetto, wenn ich das hier mal so sagen darf. Tatsächlich gelang es mir auch, heil dort anzukommen, mein Ticket zu holen und dann den Weg zurück zu finden. Dann war zumindest schon mal das Problem mit dem Ticket geklärt.
Auch kam ich endlich an etwas zu trinken, denn im Büro gab es Tee und Trinkwasser. Außerdem gingen wir, einige Freiwillige, eine Mitarbeiterin und ich, zur Bank und einkaufen. Ja, auch meine EC-Karte mit etwas Geld auf dem Konto hatte ich schon bekommen. Nachdem ich erfolgreich etwas abgehoben hatte, gingen wir zusammen in den größten, aber auch teuersten Supermarkt der Stadt. Ich kam mir vor wie bei Rewe. Das lag vor allem daran, dass Moldawien durch mangelnde eigene Wirtschaft fast alles Essen importieren muss und ich somit zwischen allen Produkten der „Gut und Günstig“-Reihe sowie zahlreichen anderen deutschen Marken wählen konnte.
Fast genauso viele Produkte stammten aus Italien, einige aus Russland, kaum welche aus eigener Herstellung. Ich entschied mich für die gute „Gut und Günstig Käsemischung“ , russische H-Milch, einen russischen Riesenjoghurt, die leckere Ramm-Margarine, einen fünf-Liter Kanister Trinkwasser, Apfelsaft von irgendwoher sowie den guten alten „Früchtemischung“ Beuteltee. Zudem kaufte ich, voller Freude und Überraschung, zwei schnuckelig kleine dunkle Vollkornbrote (!) und Weintrauben. Von alledem habe ich übrigens bis jetzt gelebt, was einmal Mittag allein, einmal Abendbrot allein, einmal Frühstück zu zweit und einmal Abendbrot zu zweit bedeutet. Und die Milch ist immer noch geschlossen, und wir kauen immer noch am ersten Brot. Und der Tee reicht auch noch ne Weile.
Manmanman, ich direkt sparsam. Naja, eigentlich gezwungener Maßen, bei umgerechnet aufgerundet 45 Euro Essensgeld im Monat. Meine Sparsamkeit war auch in sofern von Vorteil, als dass schon das Gekaufte ein wahrhaft ätzendes Gepäck für eine halbe Stunde Fußweg nach Hause bedeutete. Insbesondere der Kanister. Im Zimmer angekommen ließ ich erstmal alles fallen, beköstigte mich trotz Hungerlosigkeit mit dem Riesenjoghurt , verstaute alles verderblich in dem ranzigen Kühlschrank im Flur und pennte erstmal ne Weile.
Am Nachmittag wollte ich irgendwie nicht raus, stattdessen probierte ich „Den tibetischen Weg“ aus, eine Reihe verschiedener yogaähnlicher Übungen für innere Ruhe und Stärkung, die Leute in einem Übungsfilm vormachen, den ich mir kurz vor der Abreise noch auf den Laptop gezogen hatte. War echt gut.
Frisch gestärkt auf meine Weise bin ich dann am späten Nachmittag noch mal in die Stadt gelaufen, um im selbigen Supermarkt wie Mittags eine Schüssel zu kaufen, in die ich abgekochtes Wasser füllen kann. Mit einem Schmuckstück für umgerechnet drei Euro und einer kleinen Flasche Wasser trat ich dann den Rückweg. Zuhause gab’s dann Abendbrot auf dem Bett, MTV und Zeit zum Tagebuch führen. Dann kam Rosi (Roswita aus Leipzig, meine Mitbewohnerin in der Gastfamilie) an. Ich habe ihr alles gezeigt und wir haben noch eine Weile gequatscht.
Sie hat wahrhaft sehr kurze Haare und eine breitrahmige Brille, was ihr aber beides sehr gut steht. Zudem ist sie genauso cool und unkompliziert wie ihre Frisur. Um noch ne kleine Anekdote einzubringen: Sie wurde zwar beim Check-In problemlos und auch ohne Rückflugticket durchgelassen, aber im Transitbereich zerbrach ihr Brillenrahmen, sodass sie sich schnell dort für fünfzig Tacken eine neue zulegen musste. Sachen gibt’s. Sie reiste dann zusammen mit Julia und Maxie, ebenfalls zwei deutschen Freiwilligen, abends hier an. Dieses Jahr gibt’s wohl eine regelrechte deutsche Mehrheit bei den Freiwilligen. Nun ja, trotzdem reden wir dauernd Englisch, es gibt ja auch mehrere Freiwillige von anderswo, aus Polen oder Belgien zum Beispiel. Alle, die ich jetzt noch nicht kenne, werde ich morgen kennen lernen. Dann fahren wir nämlich für drei Tage in so ein Dorf im Süden, wo wir ein dreitägiges Einführungsseminar erleben werden. Davon werde ich später sicherlich auch erzählen.
Heute Morgen war ich echt gut drauf. Rosi und ich haben gemeinsam gefrühstückt und dann habe ich sie zum Büro gebracht. Dort wurde ihr dann zusammen mit den anderen beiden ganz neuen Freiwilligen alles erklärt, während ich in der Küche mit drei anderen Freiwilligen quatschte. Dann hat uns eine junge Studentin aus Chisinau, die ab und zu auch bei ADVIT arbeitet, den ganzen Tag die Stadt gezeigt. Wir waren bei „Orange“, einer der beiden moldawischen Prepaid-Anbieter, und haben uns alle neue Telefonkarten besorgt.
Dann haben wir, Papa, halt dich fest, es gibt dat Zeuch immer noch, und immer nur im Sommer, und immer noch auch in Literflaschen, CVAS getrunken. (So schreibt man es auf Rumänisch.) Das ist, für alle, die das Zeuch nicht kennen, so eine Art Saft aus Brot, Wasser und Zucker. Wie süßes Bier ohne Alkohol. Ich fand’s lecker, ganz ehrlich. Die meisten anderen nicht so. Ein Lei kostet ein Becher, das sind umgerechnet nicht mal 10 Cent.
Dann haben wir für Julian auf einem großen stickigen Schwarzmarkt ein gebrauchtes Handy gekauft, weil bei seinem supertollen IPhone die moldawischen Karten nicht funktionierten. Auf dem Markt wurden auch massig Haustiere verkauft. Arme Hunde und Katzen, zu Hauf eingesperrt in kleinen Käfigen. Und Bonbons gab’s in Unmengen. Und frittiertes Teig-Schnellessen, was auch immer das war. Wir fuhren jedoch zum späten Mittagessen mit dem Trolleybus (Busse mit Kabeln wie bei uns die Straßenbahnen) zurück in die City und aßen in einer Pizzeria. Ich bezahlte für ein Getränk und eine halbe Pizza (ich teilte mir eine) umgerechnet ca. 2,50 Euro. Als Deutscher lebt man hier ziemlich fett. Von dem ganzen Smog und Dreck mal abgesehen.
Ebenso fett ist das American Ressource Centre in der Stadt, eine Zweigstelle der Botschaft direkt neben der Wirtschaftsuniversität in der Nähe des ADVIT Büros. Aber als deutsche kommt man da nach einigen Kontrollen in die hauseigene Bibliothek und DVD-thek. Da hab ich mir gleich einen Film und eines der wenigen nicht-verherrlichenden Ami-Bücher ausgeliehen, die es dort gab. Außerdem konnten wir dort ins Internet. Hach ja, die gute alte Web-Gewohnheit, man kann einfach nicht mehr ohne. Dann haben wir jedoch herausgefunden, dass in zwei Parks (!) in der Innenstadt überall WLAN herrscht. In der Natur, eine nette Idee. Werde ich am Samstag gleich mal ausprobieren, wenn ich mit meiner Familie skypen will.
Zuhause angekommen habe ich mich dem zweiten Großprojekt neben der Stadtbesichtigung gewidmet: Das Zimmer wohnlich gestalten. Zwei Stunden habe ich geputzt, eine Million ranzige, glotzende Kuscheltiere in Tüten und einen Schrank in Rosis Zimmer verbannt, Einige der russischen Bücher entfernt, Fotos aufgestellt und ein wenig umgeräumt. Jetzt fühle ich mich schon wohler hier. Danach haben Rosi und ich zu Abend gegessen und uns gegenseitig Fotos gezeigt, ewig gequatscht. Dann ist sie ins Bett verschwunden, und ich habe mich meiner Schreibarbeit gewidmet. Jetzt habe ich wieder aufgeholt und bin im Präsens angekommen. Jetzt kann ich getrost schlafen gehen.
Bärbel (meine Kuschelente) ruft schon.
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