kleiner Schock am Rande
Dass die rechtsradikale Szene in der litauischen Hauptstadt Vilnius leider ziemlich aktiv ist - besonders am Nationalfeiertag -, erfuhren evil_eva und ihre Mitfreiwilligen leider erst, als es beinahe zu spät war.
Die letzte Woche war wenig ereignisreich. Obwohl ich nur einmal Sprachunterricht hatte, habe ich ziemlich viel an meinen Litauischkenntnissen gearbeitet. Jede Menge Vokabeln gelernt und außerdem Deklinationen geübt – die sind von der Schwierigkeit her ziemlich gut mit Latein vergleichbar.
Immer wenn die Kids Hausaufgaben machten (also eigentlich jeden Nachmittag zwischen eins und drei), habe ich mich dazugesetzt und Litauisch gepaukt. Eigentlich hatte ich ja auch angeboten, den Kindern bei den Englischhausaufgaben zu helfen - das kann hier ja sonst keiner. Aber das hat sich als ziemlich kompliziert erwiesen: momentan brauche ich meistens noch einen Übersetzer, der das ganze von Deutsch auf Litauisch dolmetscht. Grammatik erklären erfordert eben doch einen ziemlich großen Wortschatz. Hoffe mal, dass mein eigener Englisch- oder Deutschunterricht (wenn er denn zustande kommt), etwas leichter wird. In so einem Fall muss ich mich natürlich vorbereiten und die jeweiligen Wörter auf Litauisch vorher lernen. Und Grammatik kommt dann erst später, wenn ich besser Litauisch kann, hehe.
Am Mittwochvormittag war ich mit Kristina, meiner Mentorin im Projekt, ihrem Sohn und einer Freundin von ihr in der Sauna. War echt witzig: so früh am Tag war noch wenig los und außerdem hatten wir Bier und Snacks dabei, die wir dann am Rand des Abkühlbeckens verzehrt haben. Man hat dort eine tolle Aussicht auf den Fluss und den zugefrorenen See dahinter.
Den Donnerstagabend habe ich zur Abwechslung in Vilnius zugebracht, wo wir wieder bei der alldonnerstäglichen traditionellen Tanzveranstaltung waren. War total witzig und diesmal auch schon etwas leichter, weil wir ein paar der Tänze schon von der Woche davor kannten. Vermutlich kann man richtig gut werden, wenn man jede Woche hingeht. Dafür sollte man allerdings in Vilnius leben. Weil wir noch nicht genug hatten, sind ein paar von uns noch ins Brodvejus, eine der vielen Tanzbars in Vilnius. Die Musik war zwar nicht so toll, aber damit rechne ich inzwischen schon gar nicht mehr. Ist dann auch relativ spät geworden.
Am Freitag hat mich Nacho, mein Tutor von der koordinierenden Organisation, im Projekt besucht. Er hat sich ziemlich ausführlich mit Gintare unterhalten und sich alles erklären lassen. Hab immerhin die Hälfte verstanden, weil die anderen mit Nacho alle sehr langsames und deutliches Litauisch sprechen (er ist auch erst seit einem Jahr hier). Wir haben auch noch eine Weile mit den Kindern gespielt. Theoretisch wollte er ja für mich übersetzen, da ist aber nicht ganz so viel draus geworden. Er wird mich aber ab jetzt regelmäßig im Projekt besuchen kommen, um mir „am Anfang“ ein bisschen mit der Kommunikation zu helfen.
Es hat mir aber auf jeden Fall etwas gebracht, dass er da war: ich habe nochmal eine andere Sicht auf die Dinge bekommen und mich vor allem auch wieder daran erinnert, wieso ich am Anfang so begeistert von meinem Projekt und den Kindern bin. Das bin ich auch immer noch, aber inzwischen stelle ich eben auch höhere Ansprüche an mich selber, vor allem was die Sprache angeht.
Freitagabend war ich dann zu müde, um schon wieder wegzufahren und konnte endlich mal richtig ausschlafen. Dachte ich! Samstagmorgen wurde ich nämlich von einer SMS von Irene geweckt, dass sie ausnahmsweise arbeiten muss und ich deswegen nicht in die Wohnung kommen werde. Nach großem Hin- und Her habe ich sie dann zufällig auf dem Weg vom Bahnhof zu ihrer Wohnung mit ihren Kindern getroffen. Ich habe mich ihnen dann gleich mal angeschlossen, weil sie zu den Nationalfeiertagsfestivitäten wollten. Es gab eine große Militärparade in Gedimino Prospektas, der größten Straße von Vilnius, und danach noch feierliches Hissen der Staatsflagge. Nach den Feierlichkeiten sind wir ins Parlament gegangen, wo eine Ausstellung zum Thema „15 Jahre Freiheit“ war. Es war ziemlich interessant und zumindest die Bilder waren auch ohne Sprachkenntnisse verständlich.
Den Nachmittag haben Irene und ich mit „Backen“ verbracht. Eigentlich war alles aus Schokolade, aber Irene und Kristell haben sowieso keinen Ofen. Abends war dann die Abschiedsparty von Judith, einer deutschen Freiwilligen, die ich vor einer Woche zum ersten Mal getroffen habe. Es war aber sehr lustig: wir saßen mit etwa fünfzehn Leuten in der winzigen Wohnung von Emanuel und Inka (auch zwei Freiwillige), haben Bulvinai Bliniai und Crêpes gegessen und Wein getrunken.
Irgendwann haben wir uns dann entschieden, mit dem letzten Bus in die Stadt zu fahren und da irgendwo tanzen zu gehen. Leider haben wir den Bus verpasst und mussten laufen! Die Wohnung von Emanuel liegt ziemlich weit außerhalb und um ins Zentrum zu kommen, muss man ziemlich lange eine nachts vollkommen ausgestorbene Straße entlang laufen. Wir waren eine Gruppe von etwa zehn Freiwilligen, die anderen hatten keine Lust gehabt, mitzukommen. Auf dem Weg ins Zentrum ist uns dann eine kleine Gruppe von rechten Skinheads entgegengekommen. Leider waren die auch ziemlich aggressiv und haben sofort Lamine, einen aus unserer Gruppe mit ziemlich dunkler Haut, angegriffen. Die eine Hälfte von uns stand dabei geschockt da, während die andere Hälfte Lamine angeschrien hat, er soll doch wegrennen und nicht zurückkämpfen und hat versucht, ihn zu schützen. Erst als einer von den Skins mit dem Gürtel in der Hand dastand und dazu noch eine Peitsche gezogen hat (also ich hielt es für eine Peitsche, kenne mich mit Waffen nicht so aus), ist Lamine endlich losgerannt Richtung Zentrum und Sebastien und ich mit, während der Rest der Gruppe langsamer hinterhergekommen ist. An uns „Weißen“ waren die Skins auch null interessiert, zumal wir fast alle weiblich waren.
Auf dem Weg ins Zentrum sind wir an noch einer Gruppe von Skins vorbeigekommen, die damit beschäftigt waren, Autofenster mit Hakenkreuzen und Siegesrunen zu beschmieren. Dank Lamines hochgezogener Kapuze und der Tatsache, dass wir schnell die Straßenseite gewechselt haben, haben sie uns nicht groß beachtet. Ein paar von der anderen Gruppe sind allerdings immer noch hinter uns hergelaufen.
Sebastien, der Einzige von uns mit ausreichenden Litauischkenntnissen, hat dann die Polizei gerufen. Bis die da waren, hatten die Skins anscheinend die Verfolgung aufgegeben und wir haben den Rest der Gruppe zu uns aufholen lassen. Dann kam auch heraus, dass Firat, ein Freiwilliger aus der Türkei, einen ziemlich heftigen Schlag auf die Nase gekriegt hatte und Lamines Tasche geklaut wurde. Sah nicht gut aus: Lamines Auge und Firats Nase (er ist Brillenträger) sind beide, trotz Schneekompressen, ziemlich schnell angeschwollen. Außerdem waren sie natürlich beide auch so echt fertig.
Es sind dann doch noch zwei Skins an uns vorbeigelaufen, als die Polizei gerade ankam, und sie wurden vorläufig festgenommen. Leider konnte keiner von uns die Beiden identifizieren – es ging alles zu schnell und sie sind natürlich auch alle ähnlich gekleidet. Den mit dem Gürtel hätte ich sicher wiedererkannt, aber der war nicht dabei. Lorena ist zusammen mit Firat und Lamine mit der Polizei zurückgefahren, um zu versuchen, Lamines Tasche zurückzukriegen, und wir anderen sind weitergelaufen Richtung Zentrum. Standen natürlich alle noch ziemlich unter Schock, wollten aber auch nicht nach Hause gehen, sondern auf die anderen warten, die noch aufs Kommissariat mussten.
Wir haben dann beschlossen, in eine Bar zu gehen, was sich leider auch als schlechte Idee entpuppt hat: es war dieselbe Bar, in der Julien seinen letzten Abend mit den anderen verbracht hat und es waren ziemlich viele aus unserer Gruppe dabei gewesen. Julien war ein Freiwilliger aus Frankreich, der vor einem Monat Selbstmord begangen hat, was natürlich alle Freiwilligen hier immer noch sehr beschäftigt, weil sie ihn alle sehr gut kannten und mit ihm befreundet waren.
Wir sind deshalb zwar schnell wieder aus der Bar raus (ein paar von uns sind gar nicht erst mit reingekommen, was wir leider erst zu spät bemerkt haben) und weiter ins Universiteto, eine Tanzbar. Dort haben wir uns alle ziemlich die Kante gegeben, um den Schock zu verwinden. Hat auch ganz gut geklappt – die meisten von uns waren ziemlich betrunken und haben durchgetanzt, bis die Bar gegen Vier zugemacht hat. Von da aus ging es weiter ins Prospekto, einen Club, in den man ab halb Fünf umsonst reinkommt. Gegen Fünf sind dann endlich auch Lorena, Firat und Lamine angekommen, die auf dem Kommissariat ewig warten mussten und dazu noch in denselben Raum mit den fünf (sind noch drei dazugekommen) festgenommenen Skins gesetzt wurden! Sie waren auch entsprechend fertig.
Am Sonntag habe ich den halben Tag verschlafen und bin danach noch in ein Café in der ein Treffen mit Litauern und Italienern sein sollte. Irene hatte mir das zwar vorher nicht so gesagt, war aber okay, weil noch ein anderer Deutscher dabei war und auch so ziemlich viel Englisch gesprochen wurde. Es war dann auch total lustig, vor allem als wir gegen später immer weniger Leute wurden ist die Stimmung aufgelockert. Ich habe auch endlich mal ein paar Litauerinnen in meinem Alter kennen gelernt!
Tollerweise wurde uns am Sonntag auf einmal von allen gesagt, dass es in Litauen beziehungsweise Vilnius eine riesige (rechte!) Skinszene gibt und auch sonst die Stimmung gegen Dunkelhäutige eher feindselig ist. Na toll! Hinterher ist man immer klüger... Wenn wir uns klargemacht hätten, dass es am Nationalfeiertag besonders gefährlich ist, hätten wir natürlich ein Taxi genommen!
Sonntagabend war ich dann wieder bei Emanuel in der Wohnung, wo wir zusammen mit Peter und Judith einen Film anschauen wollten. Aus dem einen Film sind dann irgendwie drei geworden und es war schon nicht mehr ganz so früh, als ich zuhause war.
Da ich am Montag noch etwas anderes machen wollte als Schlafen, war ich mit Irene zusammen in „der freien Republik Užupis“, dem sehr alternativen Künstlerviertel von Vilnius. Peter, der in Užupis wohnt, hat uns dann noch ein bisschen rumgeführt – das Viertel ist echt toll! Ich kann mir nur vorstellen, wie es dort im Sommer sein wird...
Da wir uns noch einmal mit den Leuten von Samstagmittag getroffen haben, konnte ich natürlich erst am Dienstag zurück nach Elektrenai fahren. Langsam habe ich das Gefühl, genauso viel Zeit in Vilnius zu verbringen, wie in meinem eigentlichen Wohnort. Ist aber vielleicht ganz gut so – an der Angebotslosigkeit in Elektrenai hat sich nämlich nichts geändert.
So habe ich diese Woche, außer Arbeiten und Einkaufen, noch nicht viel gemacht. Dafür sammle ich fleißig Ideen für Spiele, die man auch ohne gemeinsame Sprache gut erklären und spielen kann und will mich auch noch nach Unterrichtskonzepten umschauen.