Ist ein Leben in Autonomie möglich?
Erlebnisse und Gedanken zu meiner WWOOFing Reise auf den Permakulturhof „Les enfants de la terre“
„Nach vier Jahren ohne Sofa wäre ein Ort zum Hinsetzen schon schön“
Nach vier Jahren ohne Sofa wünsche er sich doch bald einen Ort, an dem er sich gemütlich ausruhen könne nach der Arbeit – das ist die einzige humorvoll-kritische Beschwerde, die ich von meinem Gastgeber in den 2 Wochen die ich hier verbringe gehört habe.
Aber wovon rede ich überhaupt? Es folgen einige Details zur oben beschriebenen Situation.
Mein Gastgeber ist Jean Charles, der mit seiner Frau Corentine und seinen beiden kleinen Söhnen in Nordfrankreich, in einem 120-Einwohnerdorf in der Normandie, ein Autonomieprojekt auf die Beine stellt. „Les enfants de la terre“, zu Deutsch „Die Kinder unserer Erde“. Benannt nach dem gleichnamigen Romanzyklus von Jean M. Aurel.
Im Rahmen meiner WWOOFing* Reise durch Frankreich bin ich auf den Hof hier gekommen und erlebe und lerne nun seit zwei Wochen das autonomieorientierte Leben der Familie mit. Das Paar hat das alte Landhaus mit einem knapp 7000 qm2 Garten vor vier Jahren erworben und angefangen, ihre Vision umzusetzen. Die vielen besonderen Bestandteile des Hofes werde ich in den kommenden Zeilen schildern, um schlussendlich genauer die Vision und das Konzept des Projektes zu erklären.
Außenbereich
Beginnen wir mit dem Außenbereich um das Haus herum. Zum einen wird im Garten ein vielfältiges und naturbelassenes Ökosystem aufgebaut, welches einen Gegenpol darstellt zu den gigantischen, scheinbar unendlich reichenden Sellerie- und Rüben Monokulturfeldern, von denen das Dorf umgeben ist.
Ganz wichtig ist: Im Garten wird Permakultur betrieben, das ist eine bestimmte Art der Landwirtschaft. Der Boden z.B. wird besonders schonend bewirtschaftet durch ausschließlich manuelle Arbeit und Verzicht von chemischen Düngemitteln und Pestiziden.
Die Familie möchte selbstproduziertes, frisches Gemüse konsumieren und zugleich die Natur im Garten besonders schonen.
Im ganzen Garten verteilt befinden sich zudem eine Vielzahl an Obst-, Nuss- sowie Kastanienbäumen. Dazwischen verstecken sich Himbeerbüsche, Minze oder andere essbare Gewächse. Langfristig soll ein „Dschungel“ an verzehrbaren Pflanzen entstehen.
Der Garten beherbergt verschiedenste Tierarten, wie zum Beispiel den Igel, der unter für ihn günstig gelagerten Laub- und Holzhaufen ein Zuhause findet. Auch Mäusebussarde, Nagetiere und Libellen fühlen sich im Garten wohl.
Mit dem Ziel, 10 % der Fläche zu einer Wasserfläche zu transformieren, gibt es verteilt auf dem Gelände mehrere Teiche und Weiher. Weitere sind in Planung oder bereits teilweise ausgegraben. Der Hintergedanke ist das Erhöhen der Feuchtigkeit, welches ein gesundes, funktionsfähiges Ökosystem benötigt.
Generell wird der Garten zum Großteil sich selbst überlassen. Die Idee ist, dass sich verschiedenste Tier- und Pflanzenarten ansiedeln, gegenseitig regulieren und damit z.B. der Permakultur-Gemüsegarten auch ohne Pestizide ausreichend Ertrag erbringt und nicht die komplette Ernte weggefressen wird. Deshalb sind die vielen ökologischen Nischen für verschiedenste Tier- und Pflanzenarten auch so wichtig.
Weiterhin sind die lokalen Kreisläufe von zentraler Bedeutung. Zum Beispiel werden die kompostierbaren Küchenreste den Meerschweinchen, Hühnern und Gänsen verfüttert. Die Meerschweinchen halten die Ratten fern und die Hühner helfen bei der Regulierung von Insekten. Restliche Garten- und Küchenreste werden, zusammen mit dem Inhalt der Trockentoilette auf dem Kompost zu wertvollem Dünger zersetzt.
Hausumbau
Abgesehen vom Garten ist das momentane Hauptprojekt der Hausumbau. Das alte Landhaus wird nämlich ökologisch renoviert. Genauer gesagt bleibt der Kern des Hauses zum Teil erhalten; einige Balken und manche Holzwände zum Beispiel. Größtenteils werden jedoch die alten Mauern, die bereits am Zerfallen und von Ratten angefressen sind, durch sogenannten „Torchis“ ersetzt. Dieses Baumaterial besteht aus Lehm aus dem Garten (Erde, die beim Teichausheben entnommen wird), Sand, Heu und Wasser. Dazwischen stecken einige Glasflaschen, die einen schönen Lichteffekt kreieren. Diese Mischung trocknet mit der Zeit und stellt eine fantastische, natürliche Isolierung dar. Später Das Dach wurde ebenfalls neu gedeckt und von innen mit Schafwolle isoliert. Diese Lehmbauweise hat eine jahrtausendalte Geschichte. Das bekannteste Kulturdenkmale ist die chinesische Mauer mit über 4000 Jahren! (Nur um zu sagen, dass das Zeug sich echt gut hält)
Auch der Dachstuhl von innen wurde komplett neu mit Holzbalken ausgekleidet. Demnächst soll das Dach von innen mit Schafswolle isoliert werden. Diese ist ein genialer natürlicher Isolierstoff, da das natürliche Fett (hoher Kreatingehalt) Schimmelpilze und andere Schädlinge fernhält und zudem um die 30% ihres Eigengewichts an Feuchtigkeit aufnehmen und wieder abgeben kann. Gerade in der Normandie findet man viel Schafswirtschaft, weshalb ein Großteil der Wolle verbrannt wird und man als Abnehmer das Material geradezu nachgeworfen bekommt.
Realisierung des Projekts
Die Arbeit an seinem Projekt hat Jean Charles alleine mit der Hilfe von anderen wwoofern gestemmt. Er selber hat zwar keine Ausbildung oder Arbeitserfahrung in dem Bereich, konnte sich aber durch Youtube Tutorials und Ausprobieren sein Wissen in den Bereichen Landwirtschaft und Bauen aneignen. Es ist wirklich beeindruckend, wie präzise er sich auskennt und welchen Reichtum an Erfahrung er besitzt und teilt.
Momentan ist ein großer Teil des Hauses jedoch noch im Bau, weshalb die Familie einen Teil des alten Hauses bewohnt, der eigentlich nur aus zwei Zimmern besteht, die Schlaf-, Gäste-, Spiel- und Esszimmer darstellen. Das Bad mit der Dusche ist zum Teil auch die Küche, denn der Rest der Küche (Herd und Ofen) stehen im halbfertigen Teil des Hauses auf der anderen Seite. Dieser große Raum ist zwar schon von den selbstgebauten Wänden und dem ausgebauten Dachstuhl umgeben, durch fehlende Türen und teilweise offene Kacheln am Fenster ist es jedoch recht zugig. Sehr vorteilhaft an fehlenden Kacheln im Fenster ist allerdings, dass man manche Abfälle einfach rauskippen kann, ohne das Fenster öffnen zu müssen! Dieser besagte halbfertige Raum ist gleichzeitig ein Abstellort für Maschinen und Holzvorräte, weshalb man sich trotz der Bierbank, dem Biertisch und den einigen Küchengeräten eher wie in einer Werkstatt fühlt. Stühle gibt es, abgesehen von der lehnenlosen Bierbank und einem Campingstuhl, keine. Daher auch der anfangs genannte Kommentar meines Gastgebers, der nun seit vier Jahren mit seiner Familie einen stark auf das Wesentliche reduzierten Lebensstil lebt, unter anderem ohne Sofa, sich aber niemals darüber beschwert (Abgesehen von der geäußerten Sehnsucht nach einem gemütlichen Ort zum Hinsitzen).
Permakultur – alles Gute braucht Zeit
Ein wichtiges Merkmal der Permakultur ist, dass alles Zeit braucht. Sowohl die Arbeit durch Verzicht auf große Maschinen, wie auch der Aufbau des Ökosystems. Gut verdeutlicht wird dieser Aspekt durch das Grünschnittbeispiel. Ein Freund meines Gastgebers, der einen großen Hof besitzt, lädt hier regelmäßig seine Mähreste (Blätter, Gras) ab. Diese großen Grünschnitthaufen haben eine anderen Wwooferin und ich ganz altmodisch mit der Heugabel auf mehreren Flächen im Garten verteilt – das waren Stunden Arbeit und ein gutes Ganzkörpermuskeltraining zugleich. Der Grund für die ganze Arbeit ist jedoch sehr clever, denn der Grünschnitt zerfällt über die Wintermonate zu Erde und so bildet sich eine waldähnliche Humusschicht. Ein unheimlich fruchtbarer Boden entsteht, und das ganz ohne chemischen Dünger.
So wird auch die Fertigstellung des Projektes noch seine Zeit brauchen. Nach vier Jahren konstanter Arbeit ist gerade einmal die Hälfte des Hauses fertig renoviert, zwei Gewächshäuser wurden gebaut und werden genutzt, der Garten wächst und gedeiht und Jahr für Jahr steigen die Erträge.
Für andere Lebensbereiche plant die Familie bereits eine Umstellung, manche Fragen sind aber auch noch ungeklärt. Zwar gibt es mehrere Brunnen auf dem Grundstück, es ist jedoch noch nicht sicher, wie das Wasser gelenkt werden kann, um den Garten und den Haushalt zu versorgen. Auch die zukünftige Energieversorgung ist nicht vollständig geklärt, denn der Holzofen kann zwar teilweise den Energiebedarf beim Kochen, Backen und Heizen decken, nicht aber das Licht oder das warme Wasser.
Ist ein Leben in Autonomie nun möglich?
Schließlich muss ergänzt werden, dass eine vollständige Autonomie schwer erreichbar ist, selbst wenn die Familie hier an westlichen Maßstäben gemessen einfach lebt und innovativ an Alternativen arbeitet. Natürlich könnte man zusätzlich Schafe halten um aus der Wolle Kleidung herzustellen, aber solche Arbeiten nehmen Zeit in Anspruch, die dann wiederum an andere Stelle für relevante Arbeiten fehlt. Außerdem wäre eine Unterhose aus Schafswolle doch vielleicht etwas kratzig.
Das Ziel also ist, den höchst möglichen Grad an Selbstständigkeit zu erreichen und den Verbrauch in allen Bereichen zu reduzieren, gleichzeitig jedoch an Lebensqualität zu gewinnen. Damit ist die Familie durchaus auf dem richtigen Weg, denn mit Kreativität und Einfallsreichtum werden Ideen umgesetzt und Alternativen zum konventionellen System überlegt. Auch an Lebensqualität haben sie gewonnen, denn durch das Landleben profitieren sie von der guten Luft und der angenehmen Ambiente in ihrem eigenen großen Garten. Vor allem der Gedanke, einen zukunftsfähigen, resilienten Ort zu schaffen, gibt der Familie Kraft und ein positives Selbsverwirklichungsgefühl.
Nach meinen zwei Wochen hier auf dem Projekt bin ich überwältigt. Überwältigt von dem unaufhaltsamen Tatendrang der Familie, die hier ihre Vision lebt und sich an dem langsamen und kniffligen Weg zur Autonomie versuchen. Überwältigt von den vielen Ideen von Jean Charles, wie man das Projekt noch weiter vergrößern und andere Menschen mit einbinden kann, um einen Ort der Gemeinschaft, des Lernens und des Kreativseins aufzubauen.
Beeindruckend finde ich auch, was die Zeit hier mit mir gemacht hat. Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte ich komplett abschalten von den Sorgen des Alltags, konnte einfach mal sitzen im Garten auf dem Holzbänkchen unter der Kiwai in der Abendsonne, ohne mir Sorgen zu machen um die Welt und die Zukunft unserer Erde. Ich möchte damit sagen, dass ich durchaus ein Bewusstsein habe für die großen Krisen, in denen wir stecken- die Klimakrise allen vorweg, aber auch die Pandemie sowie andere humanitäre Katastrophen. Zum ersten Mal seit langem konnte ich diese großen, schier unlösbaren, verzwickt und verzweigten Lasten für einen Moment ausblenden und Zuversicht und Hoffnung tanken.
Die Zeit hier hat mir gezeigt, dass es Wege zu einer besseren Zukunft gibt und viele Menschen existieren, die sich mit vollem Ehrgeiz in Projekte wie dieses werfen, um einen Ort zu kreieren, an dem respektvoll und wertschätzend mit der Natur umgegangen wird. Sicherlich ist Permakultur und Autonomie nicht die Lösung für die Klimakrise, aber es ist ein Weg, um nachhaltiger zu leben und sich zu ernähren. Die Werte, die hier gelebt werden, sollten aber durchaus Teil einer nachhaltigen Zukunft sein und Orte wie hier können zudem für alle als Quelle für Inspiration und Rückbesinnung auf das Wesentliche im Leben dienen.
Zusammenfassend bin ich dankbar für die Zeit auf dem Hof „Les enfants de la terre“, sowie für die große Gastfreundschaft der Familie, durch die ich mich wie ein Teil des Projektes und der Familie fühlen konnte. Ich kann nur dazu ermutigen, sich das Projekt selbst einmal anzusehen und sich für einen Moment wie in Utopia zu fühlen.
PS: An alle Coronatoilettenpapierhamsterkäufer: Ein Leben ohne Klopapier ist möglich! Hier auf dem Hof wird eine Trockentoilette genutzt und anstatt Klopapier gibt es Wasser zum Spülen sowie Sägespäne, die das vollbrachte Werk dann bedecken. Man spart Papier, weniger Bäume werden also gefällt und zugleich dient die ganze Mischung dann als prima Dünger, indem sie den Kompost bereichert. Viele Vorteile, ganz ohne Hamsterkäufe.
*WWOOF (=world wide opportunities on organic farms) ist ein weltweites Netzwerk zur Freiwilligenarbeit in der Landwirtschaft, oftmals auf biologischen Höfen. Gegen einige Stunden Arbeit erhält man Kost und Logie und kann zugleich in die Sprache & Kultur des Landes eintauchen. Neben bereichernden Begegnungen gewinnt man praktische Erfahrungen in der Landwirtschaft.
Hier könnt ihr das Projekt „Les enfants de la terre“ verfolgen und unterstützen:
Youtube: https://www.youtube.com/channel/UC96_eZLW4qFK_qnGvIfDT8g/featured
Facebook: https://www.facebook.com/lesenfantsdelaterrepermaculture
Tip: https://fr.tipeee.com/les-enfants-de-la-terre-permaculture/