Im Winter
Die Jahreswende verbringt Johannson zwischen Torun, Deutschland, Warschau und Lodz. Er merkt dabei, wie schnell ein halbes Jahr vergehen kann, und wie leicht es ist, sich in der eigentlichen Heimat verloren zu fühlen.
Man muss dabei gewesen sein.
Hier ist der erste große Nachholnachtrag meines Tagebuchs: seit Weihnachten hab ich nicht geschrieben. Am letzten Wochenende vor den Feiertagen war ich noch mal in Torun um der großen Monika die Stadt zeigen. Leider hat es ständig genieselt und ich konnte meinen kniefallinduzierenden Eindruck 'von damals' nicht ganz vermitteln. Im Desperado war ich, sie spielten gerade diese Musik... diesmal habe ich Tee getrunken, für den wollen sie dort nicht mal Geld. Auf dem Rückweg habe ich in Warschau den Anschlusszug nach Lodz verpasst, konnte aber in Monikas WG übernachten.
Weihnachten
Am 24.12. bin ich dann in leeren Zügen über leere Bahnhöfe nach Deutschland gefahren und habe es geschafft, in sechs Tagen praktisch die gesamte Familie zu sehen. Ein bisschen komisch war es ja doch, als ich so allein in Berlin auf dem Hauptbahnhof gesessen habe. Man war halt doch schon ein halbes Jahr weg. Hat man gar nicht gemerkt, wie immer; hat man gedacht, was ist schon ein halbes Jahr. Genug um sich verloren zu fühlen, wenn man zurückkommt.
Silvester
Zu Silvester fuhr ich mit Friedemann wieder zurück, direkt durch nach Warschau. Dort feierten wir mit Freunden auf dem üblichen im Zentrum der Hauptstadt organisierten Konzert. Ich tanzte nachts auf dem Platz der Verfassung zum Grässlichsten was polnischer Pop zu bieten hat.
Am Neujahrstag zeigte ich Friedemann noch etwas von Warschau. Abends fuhren wir nach Lodz, wo ich ihn bis zum 5.1. durch die Stadt führte, zu den Fabriken, zur Kirche und soviel Gastronomie wie es die kurze Zeit zuließ.
Schnupperkurs Sibirien
Leider war gerade die brutalstmögliche Winterwelle hereingebrochen, was das ungestörte Ansehen fast unmöglich machte. Und das ist schade, denn Lodz sieht im Schnee vor allem abends wirklich schön aus. Die Flocken wirbeln aus dem schwarzen Himmel, werden erst von den Laternen sichtbar gemacht. Jede Straße sieht unendlich aus, weil man im Gestöber nicht weit sieht; Hinterhöfe sind gänzlich eingefroren und unbetreten. Wenige Menschen sind unterwegs, alles ist durch eine dicke Schneeschicht gedämpft. Es gibt ein russisches Cafe, in dem ich mich oft zum Sprachtandem treffe. Letztens haben wir fünf Stunden dort verbracht, danach hat man sich im Schnee draußen wie im Märchenwald gefühlt.
Großes Orchester, große Gefühle
Am letzten Wochenende fand das 'Große Orchester der festlichen Hilfe' statt. Das ist eine Art Band Aid, nur jedes Jahr, in jedem Ort und die Spenden gehen an Projekte im Land. Es werden Konzerte organisiert und drumherum jede Menge Programm, praktisch jede gesellschaftliche Gruppe stellt Stände, an denen auf diverse Weise Geld gesammelt wird. Menschen stellen ihre Oldtimer für Spritztouren zur Verfügung, Fitnessstudios lassen Leute für einen guten Zweck schwitzen, selbst die Armee lässt Kinder auf ihre Panzer klettern. Horden von Freiwilligen laufen mit Spendenbüchsen herum, auf Straßen und Plätzen, in Bussen und Zügen; für eine Spende bekommt man rote Herzaufkleber. Vor allem Teenager, aber auch Rocker in Lederoutfit. Wo sind die Zeiten, als es noch echte Rebellen gab...
Das wichtigste sind jedoch die Konzerte. Ich war gerade einmal mehr in Warschau, wo die Hauptveranstaltung stattfand. Stunden des Schlimmsten aus Charts und Castings, gealterte Rocker, Kinderrebellen, Einmannboygroups... eine Truppe aus Szczecin in seidenschimmernden Mönchskutten coverte die Plattenkiste des gemeinen Dorffest-DJs. Depeche Mode und Eurythmics, Pseudometal und Discoeletronik... im Gregorianerton. Vor dem finalen Feuerwerk kamen zum Glück K.S.U., die ich noch mit Torun verbinde. Die holten Gitarren und eine Geige raus und sangen über eine Kneipennacht, und ich wurde auf einmal sehr sentimental und auch ein wenig traurig.