Im Geiste von Élysée
56 Jahre nach dem Élysée-Vertrag unterzeichnen Merkel und Macron den Vertrag von Aachen. Was kann er bewirken – und ist er vielleicht noch viel mehr als eine Lehre aus der bewegten Vergangenheit?
Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Wahl ausgerechnet auf Aachen fiel; die Stadt Karl des Großen, der euphemistisch hin und wieder als Vater Europas bezeichnet wird und sowohl für Franzosen als auch für die Deutschen eine signifikante historische Bedeutung besitzt. Ganz sicher nicht zufällig gewählt waren jedoch Datum und Anlass. Was vor über 70 Jahren noch undenkbar – ein Vertrag über engere Zusammenarbeit und Integration – überhaupt die Definition des deutsch-französischen Verhältnisses mit Worten jenseits von Tod, Hass oder Krieg, gehört zu unserem heutigen Verständnis wie das Baguette nach Frankreich und Sauerkraut nach Deutschland. Das war jedoch nicht immer so; die Mittel der Diplomatie haben Hass und Munition abgelöst, Freundschaftsverträge haben Kriegserklärungen unnütz werden lassen. Was können wir also aus dieser Erfolgsgeschichte für die gegenwärtigen Herausforderungen lernen?
„Eine Union zwischen Frankreich und Deutschland würde einem schwerkranken Europa neues Leben und einen kraftvollen Auftrieb geben (…), würde Kräfte frei setzen, die Europa sicherlich retten würden“, wusste bereits Adenauer in einem 1950 erschienenem Interview zu berichten. Und obwohl in der hiesigen Geschichtsschreibung nichts von den adenauerschen Hellseherfähigkeiten bekannt ist, so trifft jenes Zitat den gegenwärtigen Gesundheitszustand der Europäischen Union mehr denn je. Brexit und die scheinbar wieder aufflammende Nordirland-Frage, die schleichende Abkehr vom Rechtsstaat durch Kaczyński und seiner Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), der Siegeszug nationalpopulistischer Regierungen sowohl in Budapest als auch in Rom – kann eine erneute proeuropäische Liebeserklärung zwischen den einst als Erbfeinden zerstrittenen Frankreich und Deutschland einen positiven Dominoeffekt auf andere Staaten Europas ausüben?
Drei verheerende Kriege in nur 75 Jahren
Zwischen dem Einmarsch deutscher Truppen im Juni 1940 und dem Vertrag von Aachen liegen erst knapp 80 Jahre, in denen sich jedoch eine politische Kehrtwende vollzogen hat, die in den Chroniken ihresgleichen sucht. Dass das deutsch-französische Verhältnis im Laufe der Geschichte durch tiefe Abgründe von Hass, Provokation und Ablehnung gezeichnet war, gilt als unbestritten. Was in den Befreiungskriegen ab 1813 gegen die napoleonische Fremdherrschaft über das deutsche Staatsgebiet begann, als der deutsche Schriftsteller Ernst Moritz Arndt mit seinem „Aufruf zum Hass gegen die Franzosen“ den Grundstein legte, dass sich aus Hass und Widerstand gegen ein anderes Volk – und somit aus Abgrenzung - eine Art nationale Identität der Deutschen bilden konnte; was sich über bilaterale Krisen wie die der Rheinkrise (1840/41) oder des Ruhrkonfliktes (1923) bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen wie 1870/71 oder auch über internationale Konflikte wie den 1. oder der 2. Weltkrieg weiter verschärfte, führte schließlich zur Frage, ob eine deutsch-französische Aussöhnung obgleich des schwer zerrütteten Verhältnisses der Vergangenheit überhaupt möglich sei.
Unbestritten verbinden Frankreich und sein deutscher Nachbar im Hinblick auf die Vergangenheit mehr Gemeinsamkeiten als den meisten wohl bekannt sein dürften. So wirkte nicht nur die von Frankreich ausgehende Juli- und Februarrevolution (1830 & 1848) als Katalysator für revolutionäre Bestrebungen auf deutscher Seite, auch steht der zwischen Merkel und Macron am 22. Januar 2019 unterzeichnete Vertrag von Aachen im Geiste von Élysée und Locarno. Dennoch muss sicherlich bei der Suche nach Antworten für die ambivalente Beziehung die französische Furcht vor einem erstarkten deutschen Nachbarn, wie sie bereits vor 1870/71, aber auch nach 1918 von höchster Aktualität war, berücksichtigt werden. Ein erster Schritt auf dem Weg zur deutsch-französischen Annäherung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war daher die Bildung der Ruhrbehörde im Zusammenhang mit dem adenauerschen Konzept der Westintegration. Durch die 1949 gegründete Ruhrbehörde (Ruhrstatut) sollte ähnlich wie in der 1951 gegründeten Montanunion ein verbesserter Handel zwischen der BRD, den Benelux-Staaten, Frankreich sowie Italien gewährleistet werden; zum anderen sollte auf diesem Wege die deutsche Rüstungsproduktion im Ruhrgebiet durch eine internationale Aufsicht kontrolliert werden. Als Beispiel für den charakteristisch wechselnden diplomatischen Erfolg bezüglich der deutsch-französischen Beziehungen kann der Vorschlag Frankreichs im Jahr 1952 zur Gründung einer „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ (EVG) gesehen werden. Letzten Endes scheiterte diese internationale Gemeinschaftsbildung jedoch an Frankreichs Veto selbst, woran das nur wenige Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges immer noch vorherrschende Misstrauen auf französischer Seite gegenüber einem militärisch wiedererstarktem, souveränen Deutschland deutlich wurde.
Verständigung über Abgrenzung
Als ein weiterer Schritt in die richtige Richtung kann auch die zunehmende Ausweitung der internationalen Beziehungen bzw. die Aufnahme der BRD in die europäischen Organisationen gesehen werden. Beispiele dafür sind u.a. die Aufnahme der BRD 1951 in den Europa-Rat, die 1954 in Kraft getretene „Westeuropäische Union“ (WEU) sowie der Zusammenschluss zur „Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft“ (EWG) 1957 im Zuge der Römischen Verträge; Deutschland und Frankreich näherten sich also vorerst über die gemeinsame Mitgliedschaft in den supranationalen Vereinigungen Europas an. Als Höhepunkt des deutsch-französischen Verhältnisses muss der Freundschaftsvertrag (Élysée-Vertrag) zwischen beiden Staaten betrachtet werden, den der französische Präsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer am 22. Januar 1963 unterzeichneten. Als Folge wurde so u.a. die kulturelle Annäherung zwischen den ehemaligen Erbfeinden in Form von Schüleraustauschen oder der Aufnahme der Sprache des jeweils anderen in den Schulunterricht gefördert. Auch kann die Aufnahme der BRD 1955 in die NATO sowie 1973 in die UNO auf ein zunehmend positives Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich zurückgeführt werden – immerhin hätte Frankreich als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat mit dem Gebrauch seines Veto-Rechtes die Aufnahme der BRD verhindern können.
Auf dem Weg zur Aussöhnung
Zudem erscheint die gemeinsame Einweihung der Gräberfriedhöfe in Verdun 1984 als ein weiterer symbolträchtiger Akt, als sich der französische Präsident Mitterrand und Helmut Kohl als Zeichen der Aussöhnung und des Gedenkens an die Opfer des 1. Weltkrieges die Hände reichten. Auch in Bezug auf die Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen im September 1990 wichen die anfänglichen Befürchtungen Mitterrands vor einem wiedervereinigtem Deutschland nach und nach, zumal Altkanzler Helmut Kohl mit der Abrüstung der gesamtdeutschen Bundeswehr auf 370.000 Mann und der Erklärung, dass das wiedervereinigte Deutschland einen atomwaffenfreien Status anstrebe und darüber hinaus auf den Besitz von ABC-Waffen verzichten werde, den Charakter Deutschlands als friedliches und auf einen Ausgleich zielendes Land unterstrich.
Das Projekt Europa mit all seinen Möglichkeiten und Herausforderungen - sei es nun der Europäische Freiwilligendienst, ein Auslandssemester mit der Unterstützung von Erasmus oder das EU-Programm „Jugend in Aktion“ zur Förderung von außerschulischen Aktivitäten - bietet Jugendlichen ein breites Spektrum an Chancen, um selbst Teil dieses historischen Prozesses zu werden. Wollen wir wirklich dieses einmalige Projekt aufgeben angesichts von erstärktem Populismus und Renationalisierung?
http://www.bpb.de/mediathek/178984/deutschland-und-frankreich-historischer-rueckblick
http://www.kas.de/einzeltitel/-/content/deutschland-und-frankreich-ein-langer-weg-zur-freundschaft
http://www.bpb.de/izpb/7892/grundzuege-deutscher-aussenpolitik-1949-1990?p=all