Im Geiste von Élysée II
56 Jahre nach dem Élysée-Vertrag unterzeichnen Merkel und Macron den Vertrag von Aachen. Was kann er bewirken – und ist er vielleicht noch viel mehr als eine Lehre aus der bewegten Vergangenheit?
Was haben uns also die vergangenen wechselvollen Jahrzehnte gelehrt? Wir müssen endlich begreifen, die Europäische Union als einen real existierenden Beweis wertzuschätzen, dass der Friede auf dem Kontinent vordergründig durch engere Zusammenarbeit, multikuturelle Begegnung und den Abbau von wirtschaftlichen, politischen sowie freiheitsgefährdenden Barrieren gesichert werden kann. Auch lehren uns die deutsch-französischen Beziehungen der letzten 70 Jahre, wie der Frieden zwischen ehemals verfeindeten Staaten schrittweise restauriert und nachhaltig gesichert werden kann; wie Multilateralismus gegenüber Unilateralität den stabilsten Weg zur Verhütung von Kriegen ebnet. Wenn US-Präsident Donald Trump eine Aufkündigung des 1987 geschlossenen Vertrages über das Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen (INF) ankündigt, die Gefahr eines erneuten Stationierungswettbewerbs strategischer Waffen über unserer heutigen Zeit schwebt; wenn autoritäre Regime in Ost, West und Fernost unsere globalisierte Welt in ihren demokratischen Grundpfeilern erschüttern, dann sollten die Staaten Europas keineswegs ohnmächtig und handlungsunfähig zuschauen. Vielmehr sollte die Europäische Union selbstbewusst und vereint durch ihren multilateralen Charakter als Hüterin demokratischer Vernunft auftreten: die Geschichte hat uns doch eindringlich gezeigt – ohne Völkerverständigung keinen Ausgleich, ohne Ausgleich keinen Frieden. So gesehen kann das erneute Freundschaftsbekenntnis weit mehr sein als nur ein bilateraler Schulterschluss, sind doch auch weitere positive Kopplungseffekte zu erwarten. Wäre ein solches Freundschaftsabkommen nicht auch zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn denkbar? Eine Aktualisierung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages von 1991 beispielsweise würde nicht nur die staatliche Zusammenarbeit stärken, sondern könnte den Bürgern Polens – immerhin in einem Land, in dem sich die Öffentlichkeit während der letzten Wahl fast zu 40% für eine europakritische Partei aussprach – vor allem wieder die Möglichkeiten eines geeinten Europas vor Augen führen.
"Ohne Völkerverständigung keinen Ausgleich, ohne Ausgleich keinen Frieden"
Dabei sollte der Freundschaftspakt von Aachen nur der Anfang von mehreren folgenden Verträgen zwischen den Staaten Europas sein, um nicht den Eindruck einer Europäischen Union unter deutsch-französischer Schirmherrschaft zu wecken. Umso wichtiger wird daher die Vermittlung des Gefühls sein, dass auch die Staaten Ost- und ganz besonders Südosteuropas Teil eines ganzen Projektes sind, an dessen Ende immer die Verwirklichung demokratischer Freiheiten sowie die supranationale Kooperation bei gleichzeitiger Rücksichtsnahme stehen. Allein der Blick auf die derzeitige Situation in den westlichen Balkanstaaten zeigt erschreckend, wie sich fehlende Kooperation vor allem auf den jungen Bevölkerungsanteil auswirken kann: angesichts der fehlenden Zukunftsperspektiven sowie der allgemeinen Unzufriedenheit über das eklatante Demokratiedefizit, sehen laut einer repräsentativen Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung fast die Hälfte aller Jugendlichen in acht Balkanländern Emigration als letzten Ausweg. Sollen diese Länder durch das Wegfallen von jungen und qualifizierten Arbeitskräften nichts vollends kollabieren, liegt es jetzt an der EU, ihr Engagement auch in dieser Region auszuweiten. Ein erster Schritt ist so beispielsweise das 2016 gegründete „Regional Youth Cooperation Office“ (RYCO), dessen Ziel die Versöhnung und Vertiefung der nachbarschaftlichen Beziehungen - vordergründig die der Jugendlichen - auf dem Balkan ist. Projekte wie RYCO können den Grundstein zur Normalisierung der Verhältnisse bilden, wie das Deutsch-Französische (DFJW) oder das Deutsch-Polnische Jugendwerk beweisen.
Ohne Frage ist ein stark verknüpftes und prosperierendes Verhältnis zwischen der deutschen und französischen Seite als Aushängeschild für Europa unabdingbar; jedoch sollten die Bilder aus Aachen vielmehr als proeuropäisches Symbol und Zeichen für den Aufbruch denn als abschließendes Ziel gewertet werden. Nur gemeinsam sind wir stärker. Das dürfte nun endlich auch dem letzten Euroskeptiker angesichts der trumpschen “America First“- Philosophie klar sein. Nur durch gemeinsame Unterstützung entgeht Europa seiner drohenden außen-, sicherheits- und handelspolitischen Isolation in einer sich wandelnden Zeit.
"Gemeinsame Schülerprojekte, Studieren in Straßburg, das zweisprachige Sendeprogramm von Arte - keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis von Toleranz und jahrelanger Kooperation"
Deutschland und Frankreich als Vorreiter der EU dürfen sich jetzt genauso wenig wie die EU selbst zurücklehnen. Dafür weisen die großen Probleme des 21. Jahrhunderts, mit denen das Projekt Europa konfrontiert wird, eine viel zu komplexe Struktur auf, als dass sie von Einzelstaaten gelöst werden könnten. Wie EU-Ratspräsident Donald Tusk bereits einsah, ist der deutsch-französische Motor auch nur dann gut, wenn auch der Rest des Fahrzeugs intakt ist. Ohne Frage sind die im 28 Artikel umfassenden Vertragswerk festgeschriebenen Bestimmungen zukunftsorientiert und geben der deutsch-französischen Beziehung Hoffnung auf weitere Jahrzehnte ohne Erbfeindschaft. Doch werden die Maßnahmen des Vertrages von Aachen erst dann mit Sinn und Erfolg für Europa in einem Satz genannt, wenn auch andere Staaten des Kontinents Teil dieses europäischen Updates sein werden. So können die geplante grenzüberschreitende Arbeitsvermittlung, eine enger verknüpfte Infrastruktur sowie die Schaffung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes Anstoß sein zu gesamteuropäischen Reformen. Schülerprojekte zwischen Bordeaux und Frankfurt, Studieren in Straßburg bei gleichzeitigem Wohnen in Freiburg, das zweisprachige Fernsehprogramm von Arte - alles keine Selbstverständlichkeit, sondern das Ergebnis von Toleranz und jahrelanger Kooperation.
Frankreich und Deutschland als die herausragenden Gallionsfiguren der EU wagen den ersten Schritt zu einem neuen Konzept der europäischen Diplomatie, importieren dadurch im besten Falle eine neue Begeisterung für das Projekt Europa und hauchen der europäischen Seele wieder neues Leben ein. Denn eines sollte uns klar sein – überlassen wir „unser Europa“ den Orbáns, Le Pens und Farages ohne den Versuch, das unter weiten Teilen der EU-Bürgern verloren gegangene Vertrauen wiederzugewinnen, finden wir uns zukünftig in einer längst vergangen geglaubten Zeit wieder – wo Chauvinismus das politische Alltagsleben definiert, Zäune aus Stacheldraht den kulturellen Austausch beenden, die Äußerung der eigenen Meinung als Strafbestand gewertet werden kann.
"Wäre ein solches Freundschaftsabkommen nicht auch zwischen Deutschland und seinen östlichen Nachbarn denkbar?"
Das Jahr 2019 wird deswegen vor allem im Hinblick auf die im Mai stattfindende Europawahl von ungeahnter Bedeutung für das europäische Verständnis sein. Rund vier Monate vor den Wahlen versteht sich Aachen als ein Plädoyer für Europa und gegen die rechtspopulistischen Tendenzen, für einen gemeinsamen Blick auf neue Zielstellungen der Zukunft. Das globale Problem des Umweltschutzes und der nachhaltigen Energieversorgung? Kein Problem, der erste wirksame Schritt wird die Schließung des Atomkraftwerkes in Fessenheim sein, ältestes AKW auf französischem Boden, größeres Sicherheitsgefühl für die Einwohner der Grenzregion zwischen Colmar und Freiburg. Und überhaupt die engere Verknüpfung zwischen den Grenzgebieten westlich und östlich des Rheins; die Förderung des gemeinsamen Kulturangebotes wenn sich erst das Goethe-Institut mit seinem französischem Pendant, dem Institut français, zusammenschließt; die Idee der finanziell unterstützten Bürgerfonds, um bilinguale Partnerschaften und Bürgerprojekte zu fördern; Pläne bezüglich der Schaffung eines gemeinsamen Zukunftswerkes, um Strategien beim Thema künstliche Intelligenz voranzutreiben; uneingeschränkte Mobilität, die weltweit auf bilateraler Ebene ihresgleichen sucht – egal wie: im Fokus steht immer die gemeinsame Verantwortung mit der Gewissheit, die großen Herausforderungen dieser Zeit nur Hand in Hand zu lösen. Vielleicht trägt auch der Vorschlag, bei Ministertreffen die Parlamente auf französischer und deutscher Seite zweimal pro Jahr gemeinsam tagen zu lassen, zu einer erhöhten Transparenz unter den Bürgern bei; sah sich die EU doch schon oft des Vorwurfs der bürokratischen Undurchsichtigkeit ausgesetzt.
Wiederbelebung antideutscher Ressentiments
Die Antwort der Populisten auf die Ereignisse von Aachen ließ nicht lang auf sich warten. So waren sich sowohl Abgeordnete der AfD als auch Marine Le Pen in der Ablehnung des Vertrages einig, wenn auch aus unterschiedlichen Positionen heraus. Gleich ist jedoch die Intention solcher rechtspopulistischer Demagogen. Wenn Le Pen offen ausspricht, dass der Vertrag von Aachen abzulehnen sei, da das französische Volk dies seinen Eltern, Großeltern und Urgroßeltern schulde; wenn der AfD-Abgeordnete Norbert Kleinwächter den Vorwurf ausspricht, die Franzosen hätten es vordergründig auf deutsche Finanzen abgesehen, dann gleicht dies vielmehr der Heraufbeschwörung des alten Geistes der Erbfeindschaft als dem Versuch, die Europäische Union zu erhalten. Wiederentdeckte antideutsche Ressentiments, gepaart mit Le Pens aggressivem Ton, Macron begehe durch die Kooperation mit Merkel einen Verrat am französischen Volke, bringe dadurch eine deutsche Vormundschaft über das Elsass zurück ins 21. Jahrhundert und akzeptiere somit die Verdrängung Frankreichs aus dem Kreise der Großmächte, werden das zwischenstaatliche Verhältnis auf eine neue Probe stellen. Auch in dieser Hinsicht wird es im Mai diesen Jahres darauf ankommen, jugendliche Erstwähler zum einen für das politische Geschehen auf europäischer Bühne zu informieren, zum anderen das unter jungen Menschen verbreitete Desinteresse an politischen Entscheidungen in Verantwortungsbewusstsein umzuwandeln und so letzten Endes die Bedeutung jeder einzelnen Stimme vor Augen zu führen!
Abgesehen von den extremistischen Lagern sowohl auf deutscher als auch auf französischer Seite, die immer noch vor dem jeweils anderen durch politische Hetze warnen und so das deutsch-französische Verhältnis zu unterwandern versuchen, hat sich die Beziehung zwischen den beiden Staaten, die als eine feste Stütze in der Europäischen Union zu sehen sind, grundlegend im Laufe der Geschichte bis in die Gegenwart hinein verbessert. Allein das wäre für sich schon eine Erfolgsgeschichte. Doch gerade in jenen Zeiten, wo offen ausgetragener Nationalpopulismus zunehmend zum politischen Jargon gehört, können wir uns nicht ausruhen. Zu lang und beschwerlich ist der Weg zur Verwirklichung der Privilegien gewesen, die die EU-Bürger heutzutage genießen dürfen. Lassen wir es nicht zu, dass der Nationalismus wieder Einzug in die Parlamente erhält. Lassen wir es nicht zu, dass ein Matteo Salvini offen sein Bedauern ausdrücken kann, Angehörige der Roma-Minderheit mit gültigem Aufenthaltsstatus „leider behalten“ zu müssen. Und vor allem – lassen wir uns nicht die Freiheit nehmen, europäische Staatsbürger zu sein.
Dass es auch andere Haltungen geben kann, zeigt die neue Form des „europäischen Patriotismus“, der sich in den letzten Jahren herauskristallisiert hat. „Wir lieben unsere Vaterländer“, bemerkte so Macron während seiner Rede in Aachen,“aber wir lieben auch Europa.“