Helsinki - Teil I
Ein Trip nach Finnland in mehreren literarischen Etappen... Teil 1: An Bord einer Festung mit Unterhaltungszwang
…schon wieder Freitag…
und diesmal auf Kreuzfahrt mit der Fähre nach Finnland – nach Helsinki. Oder Helsingfors wie die Schweden zu sagen pflegen . Und große Boote sind ein Mikrokosmos im Kleinen. Mit der Anzahl getrunkener Biere aus dem Landkauf und dem Duty Free an Bord steigt der Pegel der Angestrengtheit dieser schwimmenden Stahlkiste.
Wir lassen Stockholm unter einer grauen Wolkendecke zurück. Der Wind weht frisch aus Richtung West. Es nieselt leicht und durch die Luft gleiten dutzende Möwen.
Das Boot ist ein kleiner Freizeitpark mit Daddelautomaten an jeder Ecke, schrecklichen Bars mit schlimmer Musik und einem unerhörten Maß an Unterhaltungszwang. Es gibt wenige Ecken, an denen man sich zurückziehen kann. Eine davon ist unsere Kabine. Die hat keine Fenster, vier Betten und ein Klo mit Waschbecken – darin werden Getränke gekühlt. Die Überfahrt nach Finnland dauert 17 Stunden oder so.
In der Kabine saßen wir zu zehnt und aßen die Ernte aus dem Supermarkt aus drei Plastiktüten. Es gab Brot, Aufstrich, Salat, Käse und Wurst. Ob es erlaubt ist, mitgebrachte Speisen derart aufzutafeln, weiß ich nicht. Die Hausordnung regelt diesen Punkt sehr schwammig oder sehr sehr strikt: …passengers are not allowed to prepare meals in cabins or other parts of the ship … das lässt sich folgendermaßen auslegen: von Äpfel schälen bis Truthahn grillen scheint alles nicht erlaubt. Egal, wir ließen es uns schmecken und keinen hat es gestört.
Irgendwann bricht die Wolkendecke auf und die Abendsonne scheint uns ins Gesicht. Schön ist es draußen auf der Deckterasse, wo mir der Wind ins Gesicht peitscht und hell das das Abendblau sich kupfergoldblau auf der von Wellen durchkräuselten Ostsee spiegelt und das Meer schaukelt das Boot in einem Maße, das zu gering ist, um hochseeactionmäßig spannend zu sein und zu doll ist, um es nicht bemerken zu können. Auf den Gängen fühlt es sich an, als hätte ich acht Bier getrunken. Derweil sind es erst vier.
Ich sitze auf der Fensterbank von Deck 7. Diese Fähre ist ein Rummel, es gibt Nintendo-Räume für gelangweilte Kinder und alte finnische Renterpaare lassen sich am LED-Pokerautomaten nieder, der ganz schlimme Töne ausspuckt, als würde sich ein Wal auf eine Melodika legen. Ich packe mein Tagebuch ein und suche mir einen ruhigen Platz und finde keinen.
Ich entdecke unsere kleine Reisegruppe auf einem Sofa sitzend auf Deck 8 – das sogenannte „Fun Deck“. Dort befinden sich das Weinrestaurant, das Gourmet Restaurant und eine Bierbar mit Tischen aus Holz. Ganz vorne liegt die Partybar. Es ist 9 Uhr abends und alte Rentner tanzen zu synthetischer Walzermusik aus dem Keyboard. Die Tanzfläche ist lilapink beleuchtet, schwach riecht man das Parfüm der Hochseegesellschaft und es ist ein Geruch, deren Natur von Werbeagenturen nicht treffend beschrieben werden wird. Es ist eine Mischung aus 68 Jahre alte Fruchtbarkeit (fruchtbar und furchtbar liegen so nah beieinander) und sterilem Dachboden. Und so wie das Boot nach links und rechts schaukelt, so zerstören allgleich synchrone Schritte den uff-tata-Rhytmus des Walzers. Mal trampeln alle auf einmal nach links, mal torkeln alle auf einmal nach rechts. Es ist wie im Film und ich schaue mir das Theater eine Minute lang an. Dann wird mir das alles zuviel.
In dieser Höhle des Enforcement of Entertainment beugt sich meine gute Laune über die Reling. Wo ist der Eisberg, wenn man einen braucht? Wo ist Leonardo, wenn man nicht alleine untergehen möchte? Ich nehme ein leeres Glas, was irgendwo rumsteht und verlasse die Bar. Im Kabinenbad spült ich es aus, öffne eine Dose Landbier (also, kein Bier vom Dorf, sondern eins aus der Stadt, wohl versteckt in meinem Rucksack) und gieße es ein. Mit Bierglas in der Hand sieht es aus, wie an Bord gekauft. Da wird man nicht blöd angemacht deswegen. Noch 11 Stunden bis Helsinki. Noch 11 Stunden durch Wasser. Noch 11 Stunden an Bord mit Leuten, die sich chique machen für den Abend. Um 23 Uhr beginnt die Balzzeit auf dem Fun-Deck. Noch 11 Stunden auf einem Schiff, in dessen unbeachteter Ecke ein Film über Sicherheit und Feuertreppen läuft, stumm auf Endlosschleife, wohl noch auf VHS gespeichert…