Glasgow II – Wer wagt, gewinnt
„Ein Risiko. Glasgow ist ein Risiko. Anders als Stirling, Edinburgh, London, York bin ich mir nicht sicher, was mich erwartet; ob es sich lohnt, das gesamte vorletzte Wochenende zu investieren. So viele negative Meinungen, einige wenige positive. Doch wohin sonst soll ich gehen? Zeit für Glück.“
Sonntag: Draußen vor der Tür
Sonntag sah ich den besten Teil Glasgow’s und es war der Tag, an dem mich die Stadt endgültig überzeugte. Mein Weg sollte mich zuerst zu den botanischen Gärten und dann zur modernen Kunstgalerie führen, die gleich neben meinem Bahnhof liegt. Auf dem Weg zum Westend, gleich jenseits des Parks, half ich aber erst einmal einem leicht verlorenen Italiener und drehte noch eine kleine Runde durch die offenen Teile der Uni, die nicht nur innen schön ist, sondern über dem Kelvingrove Park auch die beste Silhouette der Stadt abgibt, wie ich finde. Der Park selbst war wie verwandelt, in der morgendlichen Sonne und Stille nur von einigen Joggern und alten Frauen frequentiert. Bevor ich die botanischen Gärten angehen konnte, wollte ich aber noch meine schwere Reisetasche per Metro in ein Schließfach am Bahnhof bringen. Doch schau einer an: in Glasgow macht sie vor elf Uhr gar nicht erst auf. Eine geschlossene U-Bahn, wo hat man das mal gesehen?
Sesam öffne Dich: Die Arabische Schatzhöhle
Was mich aber viel mehr aufhielt, war nach meiner taschenlosen Rückkehr das Westend selbst. Es ist sehr wie das in Newcastle, viele kleine Cafés und Einzelhändler. Eine wunderbare Sonntagnachmittags-Atmosphäre. Ich kam an einem kleinen, feinen arabischen Deli vorbei. Oh, was für eine Offenbarung, endlich einmal genau das, was man sich unter diesem Namen wünscht: Gebäck, Körner aller möglicher Herkunft, Wasserpfeifen, Dinge, deren Existenz man nicht einmal vermutet hätte. Dort habe ich auch eine gute Stange Geld gelassen und mich großzügig vor allem mit Baklava eingedeckt, sowie einer netten, großen Schachtel Helva. Mit dem Inhaber, einem Iraner, habe ich mich lange unterhalten, wie immer angefangen beim Thema englische Frauen bis hin zu deutscher Innenpolitik, denn der Mensch war unglaublich gut informiert. Das hat mich zwar die Zeit für die Galerie gekostet, aber genau dafür bin ich schließlich hergekommen: das Leben der Menschen sehen.
Die botanischen Gärten: Wissen fürs Gewissen
Immerhin zu den botanischen Gärten habe ich es noch geschafft, auch wenn ich bereits furchtbar müde war. Auf einer Bank in einer ruhigen Ecke liege ich, hier schleicht sich langsam das Abschiedsgefühl ein, dass mit jedem Sonntag schmerzhafter wird. Vor allem, wo sich an diesem Tag das Blau den Himmel nur mit der Sonnenscheibe teilte. Soviel Glück wie ich dieses Jahr, in diesem Land, mit dem Wetter habe, muss ich die Glücksbalance für EVSler ganz böse ins Ungleichgewicht gebracht haben. Irgendwo sitzt wahrscheinlich einer in Spanien und hat seit sechs Monaten Regen.
Extrem nett jedenfalls, die vielen bunten Blumenbeete und turmhohen Bäume entlang der Wege sowie der grünen Wiesen, auf denen Familien picknicken; ein Kinderfest am Rande, ein Buchmarkt...Gott, was für eine Idylle! Besonders faszinierend, neben dem Gewächshaus mit den Bromeliaceae und Trockenpflanzen, fand ich ein kleines Beet, in dem Getreide wuchs. Dort zeigten sie die gesamte Geschichte der Kultivierung von den ersten Wildgräsern über Einkorn und Emmer bis zum modernen Hochleistungsweizen. Ja doch, mein Projekt sitzt immer noch als Trauma zwischen einigen Gehirnwindungen. Toll war auch ein lebendes Fossil von einem Baum, metasequoia irgendwas hieß der und ist wohl seit der Vorgeschichte unverändert, vor allem seine Blätter sahen original wie vor der Entwicklung von echtem Laub aus. Ich mag es immer, wenn ich etwas Interesse für Biologie in mir spüre. Gibt einem das Gefühl, etwas weniger unqualifiziert für meine Stelle zu sein.
Langzeitfolgen
Gegen zwei Uhr war es Zeit, wieder zu gehen, da der Zug nach Glasgow und zurück fast genauso lang wie nach London braucht. Auf dem Rückweg ließ ich noch etwas mehr Geld und Zeit in diesem arabischen Laden für etwas Lunch, dass mir nach dem ersten Bissen die Schleimhäute weg brannte. Die letzte halbe Stunde im Zentrum ließ ich noch einmal das Leben einer Großstadt um mich fließen und stellte mich in den Menschenstrom der Buchanan Street, ihres Zeichens Hauptgeschäftsstraße. Eine Fußgängerzone voller Leute, Europäer, Araber, Afrikaner, Asiaten. Und doch schaffen sie irgendwie das Unmögliche (ich mag mich irren) und wirken unter der Oberfläche alle: britisch. In meinem Zug hatte ich zum ersten Mal Polizei mit an Bord, was ein bisschen komisch war. Noch komischer ist aber, wie mir jedes Mal, wenn ich aus Schottland zurückkomme, der Akzent hängen bleibt. Ich mag ihn irgendwie, immer klingt alles, was ich lese, schottisch in meinem Kopf.
Frühe Nächte & Morgenschimmer
Das war also Glasgow. Letztendlich bin ich zu dem Schluss gekommen: Ich mag die Stadt. Sie ist irgendwie wie Newcastle, nicht vordergründig schön, aber mit einem ganz bestimmten, rauen Charme. Ich bin auch gleich auf die Suche nach einem Park bei uns in der Stadt gegangen, nur um heraus zu finden: natürlich war ich bereits da gewesen. Leazes Park, gleich neben dem Stadion, gaaaanz am Anfang bin ich da mal durchgelaufen. Ja, es gibt nichts was wir nicht auch haben.
Ansonsten gibt es nicht so sehr viel zu berichten. Ich stehe mit zweien der Freiwilligen für Gibside in Kontakt, unsere Wiesen sind alle gemäht und sehen ziemlich komisch aus, so kahl. Aber: endlich sieht man nicht mehr dieses gelbe Meer von Ragwort. Ach ja, und uns ist wieder ein Schaf weggestorben, jetzt haben wir nur noch zwei. Scheint, als wenn jedes Mal wenn ich von einer Reise zurückkomme, ein Tier weniger da ist.
Vorbei sind die langen Tage der weißen Nächte, wo es bis Mitternacht hell blieb. Jetzt ist es um neun Uhr stockdunkel. Ja der Winter kommt.
Eines fällt mir auf: Die Leute hier in Easington verändern sich. Oder besser gesagt, ihr Verhalten uns gegenüber. Ich kann mich erinnern, am Anfang hat man so gut wie kein freundliches Gesicht gesehen. Heute lächeln sie einem zu, grüßen freundlich, fragen sogar häufig nach unserer Arbeit. Wir haben sogar Besucher von außerhalb Easingtons! Mit Karten, Ferngläsern und Vogelführern statt Motorsägen. Vielleicht, nur vielleicht, wird das hier eines Tages noch was.