Freiheit ist, wenn du einen Pass hast
Zu Tausenden fliehen sie vor Krieg und Hungerkatastrophen – in Deutschland dann erleben Flüchtlinge langwierige Asylverfahren und das bittere Gefühl, unwillkommen zu sein. So wie der Somalier Warsame Nuur Ahmed in Augsburg.
Die Hoffnung auf richtiges Asyl hat Warsame aufgegeben. Er betrachtet zerknitterte Fotos seiner Familie, die er zurücklassen musste. Drei seiner fünf Kinder. Ein Porträt seiner Frau, mit einem Tuch, bunt wie sein eigener Rock, um den Kopf geschlungen und mit einem sanften Lächeln um den Mund. Liebevoll streicht er über ihr schönes Gesicht mit den großen Augen. 2005 haben sie geheiratet, Warsame Nuur Ahmed war damals 27 und stolz, eine Familie zu haben.
Schlafen, essen, schlafen. Warsame sagt, daraus bestehe jetzt sein Tag. Schlafen und essen. Sonst nichts, sagt er und schaut dabei zu Osman, der für ihn dolmetscht. Aber Osman braucht er das nicht erklären: Sein Tag sieht nicht anders aus.
Die Somalier der Flak-Kaserne Augsburg, einer der größten deutschen Sammelunterkünfte für Flüchtlinge, sprechen oft mit Journalisten. Rund 400 der laut Pro Asyl bundesweit mehr als 40.000 Asylsuchenden leben hier, 26 verschiedene Nationen, nur Männer. Warsame ist seit gut einem Jahr hier, er und die anderen Somalier sprechen mit den Journalisten, weil sie hoffen, dass sich etwas ändert - die Journalisten kämen aber nicht wieder, wenn sie erst mal ihre Geschichte hätten, erzählen sich die Somalier.
Warsame hat so eine Geschichte zu erzählen. In Somalia, wo seit 20 Jahren Bürgerkrieg herrscht, gäbe es nur zwei Möglichkeiten: Entweder du killst für den Terror - oder du wirst gekillt. Warsame sitzt auf einem einfachen Bett, dessen Matratze fast bis zum Boden durchhängt und streicht behutsam über seinen bunten Rock. Am Leben ist er noch, sein linkes Bein aber fühlt sich nicht so an. Eine Kugel zerschmetterte seinen Oberschenkel.
9.000 Dollar bezahlte Warsames Onkel darum den Schleppern, damit sie Warsame nach Europa bringen. Deutschland, das kannte er vom Fußball. Fußball spielen kann er jetzt nicht mehr – über 40 röntgendichte Fremdkörper fanden die deutschen Ärzte in Warsames Bein. Entfernt haben sie nur wenige. Die übrigen seien „voraussichtlich nicht lebensbedrohlich“ oder „für Schmerzen verantwortlich“, so steht es im ärztlichen Bericht. Schmerzen aber hat Warsame oft. Und früher, da hätte auch kein bisschen Speck das billige, weiße Werbe-Shirt ausgefüllt.
Dass er wegen seines nun um 12cm verkürzten linken Oberschenkels keinen Sport mehr machen kann, verschärft seine Situation in der Flak-Kaserne deutlich: Den Flüchtlingen steht nur wenig Geld zur Verfügung. Das Asylbewerbergesetz sieht - durchaus auch zur „Abschreckung vor Asylmissbrauch“ - 224,97 Euro im Monat vor: knapp 40 Prozent unter dem durch Hartz IV definierten Existenzminimum. Das meiste davon erhält Warsame als Sachleistung: Alle vier Tage kreuzt er auf einem grünen Zettel an, ob er lieber Mischbrot oder Kartoffeln hätte, Tomaten oder Salat. Nur 40 Euro stehen ihm im Monat zur freien Verfügung – für persönliche Bedürfnisse wie zum Beispiel Fahrtkosten. Die anderen Flüchtlinge reparieren Fahrräder vom Sperrmüll, um günstig zur Ausländerbehörde zu kommen und ihre Anträge stellen zu können. Fahrrad fahren geht bei Warsame nicht.
Somalier sind politische Flüchtlinge und haben wegen der Bedingungen in ihrem Heimatland gute Chancen, in Deutschland zumindest geduldet zu werden. Die Flüchtlinge reisen jedoch meist ohne Papiere ein, weil die Schlepper ihnen die Pässe abnehmen. Iraker oder Afghanen können neue Pässe bei ihrer Borschaft beantragen. Somalia aber ist nirgendwo in Europa mit einer Botschaft vertreten. Alle paar Monate muss Warsame deswegen aufs Neue einen provisorischen Ausweis beantragen. Noch ein Problem beim Asylverfahren: Den Flüchtlingen werden im ersten Land, in dem sie Zuflucht suchen, die Fingerabdrücke abgenommen, um die Identifizierung später zu erleichtern. In den Schengenländern gilt die Regel, dass das Asylverfahren dort stattfinden muss, wo der Flüchtling zuerst eingereist ist. Die Flüchtlinge wollen aber nicht zurück nach Italien oder Spanien, dort seien die Bedingungen für sie noch schlechter. Deswegen wird getrickst, der Fingerabdruck in Deutschland absichtlich verschmiert. Ein für die Flüchtlinge zuständiger Sozialarbeiter sagt, die Flüchtlinge wären hier freier als anderswo. Immerhin verbiete ihnen niemand das Reden. Die Flüchtlinge aber sagen: Freiheit ist, wenn du einen Pass hast. Wenn du gehen kannst, wohin du willst.
Im Fernsehen hat Warsame Bekannte aus seinem Dorf gesehen, die sich dem terroristischen Regime angeschlossen haben. Er fürchtet, seine Familie habe das auch getan. Warsame sagt, er habe nie ein glückliches Leben gesehen und schaut dabei mit leerem Blick zu den Fenstern, die mit Pappkartons abgedunkelt sind. Als der Krieg ausbrach, war er selbst erst drei – von neun Brüdern wurden sieben umgebracht. Jetzt aber ist sein einziger Wunsch zurückzugehen in das Land, das er zwar nicht versteht, aber dessen Sprache er spricht. Und in dem er vielleicht seine Familie wieder findet. Solange aber sein Asylantrag noch läuft, darf er den Landkreis nicht verlassen.
Es gibt eine Organisation, die Flüchtlingen helfen will, in ihr Heimatland zurückzukommen. Dafür müsste Warsame einen Antrag stellen. Von Anträgen aber haben hier alle genug. Denn Anträgen folgt nichts.