Estland = Niederlande:16
Janhkorte sinniert zum Ende des Jahres über Zahlen, die in Estland einfach ungewöhnlich sind. Ganz normal scheint dagegen, mit einem Star im Chor zu singen.
"Oh my God, I can't believe it..."- „But hey…it’s Estonia!“
So oder ähnlich hört sich die universale Entschuldigung in meiner Wahlheimat Tallinn an. Denn Dinge, von denen man dachte, sie wären völlig normal, sind es hier nicht und anders herum gibt es Sachen, die anderswo ziemlich unvorstellbar wären.
Die erste Tatsache ist wohl die Größe und die geringe Bevölkerungsdichte Estlands. 1, 4 Millionen Einwohner, noch nicht mal halb so viele wie in der deutschen Hauptstadt; davon nur eine knappe Million estnische Muttersprachler. So überrascht es nicht, dass man schief angeguckt wird, wenn man im Bus eine andere Sprache als Russisch oder Estnisch spricht; ebenso wenig, dass man den gleichen Kerl, der morgens neben einem an der Trolleybushaltestelle gewartet hat, nachmittags am Kiosk und abends in der Bar in der Altstadt wieder trifft. Genauso interessant wird hier jede Art von Andersfarbigen, sei es Asiaten, Latinos oder Schwarzafrikanern, betrachtet. Letzte Woche sah ich zum dritten Mal einen Schwarzen – und das nach über vier Monaten hier… Wow! Ich denke, es gibt Esten, die noch nie einen gesehen haben (dass zwar dann auch nur auf dem Lande, aber immerhin).
Und apropos Land: In Estland zählt alles als Großstadt was über 5 000 Einwohner zählt (das dürften so um die zehn bis fünfzehn Städte sein, mehr allerdings auch nicht). Zwischen den Großstädten herrscht oft gähnende Leere, denn Eestimaa hat mit die niedrigste Bevölkerungsdichte in Europa. Zum Vergleich: Auf der gleichen Fläche haben die Niederlande 16 Millionen Einwohner.
Zugleich ist Estland auch nur unwesentlicher höher als die Niederlande: Die höchste Erhebung misst mit dem "Suur Munamägi" (dem großen Eierberg, fragt nicht, warum das Ding so heißt) gerade einmal 318 Meter!
"Oh, Dave!"
Jetzt kommt aber mein persönlicher Clou: Seit drei Monaten singe ich ja im wunderbaren „Tallinna Gospelkoor“. Wir (meine deutsche Mitfreiwillige Anna und ich) haben uns dann natürlich auch nichts näher dabei gedacht, als man uns erzählte, dass wir mit Dave Benton auf Weihnachtstournee gehen würden. Aber Moment! Dave Benton! Dave Benton (übrigens mein zweiter „Schwarzhäuter“ in Estland) ist derjenige, der vor ein paar Jahren den Grand Prix für Estland gewonnen hat, und seitdem eine Art Nationalheld ist. Er kommt ursprünglich aus der Karibik und lebt seit sieben Jahren hier, worauf die Menschen besonders stolz sind. Ältere und jüngere Frauen verfallen da gerne schon mal ins Schwärmen: „Ach, wenn der Dave singt, dann bekomm ich immer eine Gänsehaut“, meinte eine von den Erzieherinnen in Annas Kinderheim in Maidla, als sie von unserem Star-Solisten erzählte. Und wir, als nicht übermäßig talentierte Choristen mittendrin. Morgen werde ich mein letztes Konzert mit ihm haben. Das ist immer eine ganz schön witzige Veranstaltung, weil Dave mit tropischem Charme und Lebensfreude versucht, das ja sonst eher ruhige estnische Publikum zum Mitmachen zu animieren…was dann bei unseren flotteren „Jõulaklassika“ wie „Go, tell it on the mountain“ oder „Cover me lord“ auch gelingt.
Wer lästert, macht was falsch!
Eine estnische Redensart besagt, dass man nie etwas schlechtes über jemand anderes verbreiten sollte, denn am Ende ist es so gut wie immer gesichert, dass es über nur zwei oder drei Ecken zur gemeinten Person zurückkommt. Also, lieber Klappe halten und singen!
Häid jõule ja head uut aastat (Frohe Weihnachten und ein frohes, neues Jahr), übermorgen fliege ich nach Hause!
Bis dahin: Immer schön munter bleiben und sich von den -8 Grad Celsius (und gefühlten -35 Grad Celsius) in Estland nicht einschüchtern lassen!
Hier noch ein paar Impressionen aus Estland: