Es tut sich was auf der ältesten Baustelle Polens
"In Deutschland steht an jeder Baustelle eine Tafel, die den Abschluss der Bauarbeiten ankündigt. In Polen hängt auch ein Schild - mit dem Datum des Baubeginns." Dieser deutsch-polnische Witz hat einen wahren Kern. Zumindest in Lublin.
Der Sozialismus in Ostmitteleuropa wurde oft mit einem Projekt verglichen. Ein Projekt, das nie vollendet wurde. Stumme Zeugen der vergangenen Epoche sind heute Bausünden und Ruinen, die die Geschichte überholt hat. Gigantomanische Ideen und Bauprojekte gab es von der Sowjetunion bis in die DDR. Russische Ingenieure hatten gar den wahnwitzigen Plan gefasst, ganz Sibirien aufzutauen. Mit einer Kette von Atomkraftwerken!
Große Visionen gab es auch in Polen. In den Siebziger Jahren beschlossen die Genossen der polnischen Arbeiterpartei einen Plan mit ungewöhnlich elitären Zügen. Lublin würde eine Oper bekommen. Oder zumindest ein Musiktheater. Als Universitätsstadt mit fast 70 000 Studenten hätte die Stadt dies verdient. Ein Ort war schnell gefunden: Unmittelbar gegenüber dem 1951 gebauten Sitz der Vereinigten Polnischen Arbeiterpartei sollte die Kultureinrichtung auf insgesamt 10 000 qm (!) entstehen. Welch ein Zufall.
Die 70er - das waren die "fetten Jahre" im polnischen Sozialismus. Plötzlich waren die Geschäfte voll; der Staat investierte an allen Ecken. Doch es war ein Wachstum auf Pump. Auslandskredite in schwindelerregender Höhe deckten die Wohltaten und das Geld war bald aufgebraucht. Dann kamen gesellschaftliche Unruhen. Die Solidarność-Gewerkschaft streikte im ganzen Land. Das geplante Theater war plötzlich Nebensache.
Seitdem wartet der Bau auf seine Vollendung. Hinter dem graffitibesprühten Bauzaun schrecken blanke Stahlträger der offenen Frontfassade neugierige Touristen wie vorbeigehende Einwohner. Gras wuchert auf dem Gelände neben Bergen von Müll. Über Jahre tat sich nichts. Gerüchte kamen auf. "Die Bevölkerung meinte von einem unterirdischen Tunnel zu wissen, der von der Parteizentrale zum Theater führe. Als Fluchtweg für die Parteifunktionäre für den Fall von Massenunruhen." verrät Artur Trautman, langjähriger Stadtführer in Lublin.
In den späten Neunziger Jahren gelang es, wenigstens einen Teil des zu den größten Baustellen im Lande zählenden Komplexes nutzbar zu machen. Die gewählte Lösung ist eine sehr polnische, weil improvisierte. Wer heute entlang der Radziszewski-Straße flaniert, entdeckt sofort die Lubliner Philharmonie und das Musiktheater. Nur aus der Luft ist erkennbar, dass beide Spielstätten und die Ruine Teil ein und desselben Gebäudekomplexes sind. Seiteneingänge führen außerdem zu einer privaten Tanzschule, Uni-Instituten und Vereinen. Nur der Hauptteil, der dem ehemaligen Parteisitz zugewandte Flügel, blieb ein Rohbau. Das Beispiel des Lubliner "Theaters im Bau" zeigt, dass sich auch der Kapitalismus schwer tut, Großprojekte umzusetzen. Ein Investor fand sich zunächst nicht.
Mit der Bewerbung um den Titel "Europäische Kulturhauptstadt 2016" kommt jedoch langsam Bewegung in Sachen "Theater im Bau". Kaum ein Lubliner hätte noch darauf wetten wollen. Doch seit einigen Jahren entdeckt die Stadt offensiv ihr multikulturelles Erbe wieder. Daher will die Politik aus der Bauruine nun ein "Zentrum der Begegnungen der Kulturen" erschaffen. Der Gebäudekomplex wird im Zuge der Renovierung noch um Konferenzräume ergänzt. Die regionale Woiwodschaft ist bereit, Geld in die Ruine zu stecken. Ebenso die EU - 75 % der notwendigen 38 Millionen Euro werden aus Brüssel kommen. Im Jahr 2010 soll es losgehen. Der Platz vor dem Theater wird zusätzlich auf Stadtkosten saniert.
Das "Forum für die Entwicklung Lublins" hat aber noch Zweifel, ob alles wirklich glatt geht. "Wenn man bedenkt, wie lange der Bau des Theaters dauert, muss man sich freuen, dass überhaupt etwas passiert.", erklärt Daniel Stelmasiewicz von der Bürgerinitiative. "Das Siegerprojekt des veranstalteten Architekturwettbewerbs ist etwas unscheinbar. Es muss dem Autor aber zugute gehalten werden, dass der Zustand des über 30 Jahre alten Gebäudes die gestalterischen Möglichkeiten stark einschränkt." Auch ob die geplanten Großbildschirme an der Front verwirklicht werden, ist bereits fraglich. "Hier wurde ohne die Brandschutzbestimmungen geplant", weiß Stadtkenner Stelmasiewicz.
Der ostpolnischen Stadt ist zu wünschen, dass der Schandfleck im Zentrum der Stadt schnell verschwindet. Die ehemalige Zentrale der polnischen Arbeiterpartei gegenüber ist seit langem umgenutzt. Sie beherbergt heute die Medizinische Universität Lublin. Den angeblichen Tunnel vom alten Parteibunker zum Theater hat man beim Umbau allerdings nicht gefunden.