Erlebnisbericht über das Erdbeben in Nepal, am 25. April 2015
Ja, ich war dabei und nein, ich habe keine Lust, es jedem der fragt, aufs Neue erzählen zu müssen. Deshalb habe ich es aufgeschrieben. Damit es jeder lesen kann. Um meine Seele zu reinigen und als Hommage, an dieses wunderbare Land. Mein Nepal.
Am dritten Tag nach dem Erdbeben saß ich abends ausgehungert im Benchen Monastry, einem tibetanischen Kloster im Viertel Swayambu (Kathmandu) und hoffte auf eine Portion Reis, den die Mönche in badewannengroßen Töpfen für die Nachbarschaft bereit stellten. Zuvor wurde mir ein warmer „Milk Tea“ angeboten – ein Luxusgut, in Zeiten ohne Wasser, Strom und Gas. Einer der Mönche, in weinroter Robe und Sandalen, saß neben mir und begann zu lachen, als ich mich über die kalten Reisklumpen hermachte. „You know, we believe that everything is impermanent. So please, don't worry. Today you eat only plain rice. But tomorrow maybe Daal Bhat. Who knows.“ Ich lachte. Nach vier Monaten in Nepal habe ich gelernt, loszulassen. Das habe ich mir von den Nepalis abgeschaut. Diesem Völkchen, welches aufgrund der Reinheit seiner Seele auch die widrigsten Umstände im Leben mit einem Lächeln akzeptiert.
Der 25. April – so fangen die meisten Artikel an, die ich in der „Kathmandu Post“ oder „Himalayan Times“ lesen konnte – war eigentlich ein ganz normaler Tag. Auch für uns. Wir hatten in der „Fine Grains Bakery“ ein üppiges Frühstück genossen und uns dann zu Fuß in die Stadt aufgemacht, um die „Tattoo Convention“ am Durbar Marg zu besuchen. Es war Samstag, der freie Tag der Nepalis. Die meisten Geschäfte waren geschlossen, viele Leute in den Straßen. Wir telefonierten mit unserer Familie, 20 Minuten bevor die Katastrophe über das Land hereinbrach. In einer der namenlosen Straßen Thamels, in der Nähe vom „Buddha Tea Shop“ Richtung Kanti Path, liefen wir verträumt nebeneinander her und wurden, wie alle anderen Tagträumer, jäh aus unseren Gedanken gerissen.
Die Erde begann zu beben. Wie ein riesiges Monstrum, welches plötzlich zum Leben erwacht. Von einer Sekunde zur anderen schien die ganze Welt aus den Fugen zu geraten und die Häuser begannen zu schwanken, als wären sie auf hoher See gebaut. Gefühlte zwei Sekunden lang habe ich nicht realisiert, was passierte. Ich fühlte zuerst nur, wie meine Knie anfingen einzuknicken und fragte mich, warum ich so grundlos in Ohnmacht fallen würde, bis ich verstand, dass es nicht mein Körper war, der sich bewegte. Meinem Freund ging es ähnlich. Er wurde plötzlich von einem Nepali brutal am Arm gepackt und erschrak, weil er dachte, derjenige wollte ihn verletzen. Wenn die Erde unter den Füßen Wellen schlägt, als würde man auf der Meeresoberfläche stehen, stellt man als normaler Mensch zuallererst sich selbst in Frage. Die Gravitation, der verlässliche Boden unter uns, hat mich in den 25 Jahren meines Lebens bis zu diesem Tag nicht einmal zweifeln lassen. Nun war es soweit. Und ich hoffe, dass ich mich nie wieder in meinem Leben so überwältigend machtlos fühlen werde. Mein Freund packte mich am Arm und rief: „Lauf! Lauf! Und schau nach oben!“ Verzweifelt versuchten wir, gegen die Druckwellen anzukämpfen und schafften nur 20 Meter weiter auf eine Kreuzung zu laufen. Vor meinem inneren Auge sah ich schon die Gebäude über uns einstürzen und versuchte gleichzeitig, irgendwie meinen Atem unter Kontrolle zu kriegen. Ich musste meinen Verstand zu bewahren! Um uns herum begannen die Leute zu schreien. Zu weinen. Ein Motorradfahrer wurde von seinem Sitz geworfen und sein Helm flog in unsere Richtung. Die Taxis hatten angehalten und die Insassen standen mit weit aufgerissenen Augen und dem puren Entsetzen im Gesicht uns gegenüber und schauten wie wir auf die schwankenden Gebäude über unseren Köpfen. 54 endlose Sekunden, die ich nie wieder vergessen werde. Die längste Minute meines Lebens. Ich habe nicht einmal gedacht, okay, das ist es jetzt gewesen, du wirst jetzt sterben. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich ohne Umwege direkt in der Hölle gelandet und als würde das alles hier nie wieder aufhören.
Dann war es vorbei. Ich zitterte am ganzen Körper, als hätte ich soeben in die Steckdose gefasst und war nicht einmal in der Lage zu weinen, wie die amerikanische Familie neben mir. Raus hier! Weg von den Häusern auf eine offene Straße oder in einen Park. Im eng bebauten, chaotischen Thamel konnte uns jederzeit die Stadt über dem Kopf zusammenfallen.
Wir rannten Richtung Kanti Path, der größten offenen Kreuzung in der Nähe. Backsteine und Betonbrocken lagen auf den zerissenen Straßen. Bordsteine hatten sich von den Häusern losgerissen, Strommasten lagen quer über den Autos, Tische der Souvenirshops waren in der Mitte zerschlagen, ganze Mauern eingestürzt und Häuseretagen eingefallen. Massen von Schaulustigen schienen den Ernst der Lage nicht zu begreifen, versperrten die Straßen, filmten und fotografierten. Ob die im Geografieunterricht nicht gelernt haben, dass es Nachbeben geben kann? Eine Touristin kam lachend auf uns zu und fragte: „What the hell was that?“ Und ich schrie: „That was a fucking earthquake, so you better move!“
Die Nachbeben passierten wenige Minuten später. Tausende von schwarzen Raben erhoben sich über unseren Köpfen und wollten sich nicht wieder in die Bäume setzen. Mein Gleichgewichtssinn lief völlig aus dem Ruder und ich fühlte mich wie betrunken, während die Strommasten wankten. „Seid ihr Christen? Können wir beten?“, fragte eine Frau. Neben uns eine französische Familie mit zwei Kindern. Der kleine Junge hatte eine dicke blaue Beule auf der Stirn. Das Mädchen weinte. Hätte ich auch gern gemacht. Aber wir mussten klar im Kopf bleiben.
Wir entschieden so schnell wie möglich unsere Familien zu informieren, solange es noch ein funktionierendes Telefonnetz gab.
Die Nacht schliefen wir dann unter freiem Himmel auf der Wiese des „Military Camp“, zusammen mit hunderten anderen Flüchtlingen, Soldaten und Verletzten. Zuerst regnete es nur leicht, sodass wir Zuflucht unter einem kleinen Baum finden konnten. In der zweiten Nacht war der Regen so stark, dass wir erneut umziehen mussten. Da alle Zelte und Baracken bis auf den letzten Platz besetzt waren, haben wir unseren Schlafplatz kurzerhand in das Wachhäuschen am Helikopterlandeplatz verlegt. Dort sollten wir dann, von Tag zu Tag von immer mehr nepalesischen und israelischen Soldaten umringt, die nächsten fünf Tage verbringen. Ohne Strom, Wasser, Toilette, Telefonnetz, geschweige denn Internet. Weder unsere Mitmenschen, noch die Soldaten oder Medien konnten uns irgendeine Auskunft über den Zustand des Landes oder den Ernst der Lage geben. Wir wurden von mehreren kurzen und längeren schweren Nachbeben heimgesucht, die den bereits beschädigten Häusern den Todesstoß versetzen, was wir den aufsteigenden Staubwolken über der Stadt entnahmen.
Und in all dem Chaos, der Angst und der Ungewissheit, blieb Kathmandu sich trotz allem seiner Seele treu. Adler badeten früh zum Sonnenaufgang in den Regenpfützen. Die Affen von Swayambunath traten noch eifriger als gewohnt ihre tägliche Suche nach Nahrung an. Mönche spielten Fußball und Rugby mit den Kindern. Männer kauten Tabak und diskutierten vor den Zelten. Frauen kochten Reis und Daal auf ihren heimischen Gaskochern. Ein alter Mann sammelte Holz. Die Soldaten weckten uns mit einem „Good Morning, Sir!“ und wünschten uns ein „Enjoy yourself!“, wenn wir unsere Chips und Kekse zum Mittag aßen. Frauenchöre sangen in die Nächte hinein, in denen der Mond unsere Laterne war.
Erst am sechsten Tag konnte ich mir nach der Zeitungslektüre der lokalen Nachrichten einen Eindruck über den Ernst der Lage verschaffen: drohende Epidemiegefahr, Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung und das Ausmaß der Zerstörung. Zu allem Überfluss mussten wir auch noch unseren Schlafplatz auf dem Militärcamp verlassen. Ich war müde und erschöpft und die Nachbeben ließen mir jedes Mal wieder das Blut in den Adern gefrieren. Ich beschloss, die Deutsche Botschaft anzurufen und wurde mit dem lapidaren Hinweis abgespeist, ich solle doch im Internet ein Ticket bei Turkish Airlines buchen.
Mehr Glück hatten wir bei der französischen Botschaft, die uns anbot, in den nächsten vier Stunden evakuiert zu werden. So wurden wir von der höchst organisierten französischen Armee mit einem Militärflugzeug am 30.April über New Delhi nach Paris, Charles-de-Gaulle, außer Landes geflogen. Ohne uns von einem einzigen unserer Freunde verabschieden zu können.
Nach all diesen Strapazen und zwei schlaflosen Nächten hat mich das Aufgebot an Fernsehteams, Journalisten, Politikern, Psychologen und Polizei bei unserer Ankunft restlos überfordert.
Nun sitze ich auf einer Dachterrasse in Paris, wundere mich, welche Themen für die Menschen hier wichtig sind: Warum hier alle über Arbeit reden, die Leute Angst voreinander haben, jeder zuerst an sich denkt und man bei der großen Auswahl im Supermarkt gar nicht weiß, was man zuerst kaufen soll, während ich mich über richtige Toiletten, warmes Wasser und ein Dach über dem Kopf freue. In Nepal werden jetzt die toten Tauben vom Durbar Square mitsamt dem Holz der Weltkulturerbe-Tempel verbrannt. Die Regierung ist unfähig, das Überlebensminimum ihrer Bevölkerung zu sichern. Die Verletzen und Toten übervölkern die Krankenhäuser. Die Regenzeit steht vor der Tür. Unsere Freunde können den Touristen jetzt keine Gebetsmühlen und Klangschalen mehr verkaufen. Sie haben ihre Arbeit verloren und können nicht zurück in ihr einsturzgefährdetes Haus. Es wird vermutlich Jahre dauern, bis sich Nepal wieder aus der Asche erheben kann.
Die Bilder und Berichte in den Medien versuche ich zu vermeiden, denn sie machen mich traurig.
Ich möchte lieber an die Worte des Mönchs denken und die Hoffnung nicht verlieren. Denn „Everything is impermanent“.
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