Einer, der Grenzen kennt
Besondere Menschen müssen nicht außergewöhnlich sein. Aber natürlich dürfen sie das. In diesem Text stelle ich meinen Freund Karl vor, den ich bei einem Auslandspraktikum in Děčín (Tschechien) kennengelernt habe.
„Ich bin Karl, oder auch Karel.“ Seine wachen Augen schauen mich durch eine randlose Brille an, als wir in dem kleinen Lokal unweit der Bibliothek unser Mittagessen bestellen. Ich hatte für ihn ein paar Texte korrigiert. Karl ist Deutscher, lebt aber schon sein ganzes Leben lang in Děčín, einer kleinen tschechischen Stadt an der Elbe, nahe der sächsischen Grenze.
„Wie kommt es, dass du hier ein Praktikum machst?“ Ich erzähle ihm von meiner Ausbildung. Wie ich Tschechisch gelernt habe. Und nun für 3 Wochen in der Děčíner Stadtbibliothek neue Bücher einarbeite, bei Veranstaltungen mithelfe und Besucher berate.
Karl freut sich, wenn Gäste aus Deutschland in seine Stadt kommen. Die meisten Deutschen, die vor dem Krieg in und um Děčín zu Hause waren, mussten das Land verlassen oder leben nicht mehr. „Wenn ich etwas falsch sage, korrigiere mich!“, bittet er mich in fehlerfreiem Deutsch. Ich lächle.
Wir tauschen unsere Nummern aus. Und er lädt mich ein.
Ein paar Wochen später, es ist kalt und Winter geworden, sitze ich wieder im Zug nach Děčín. Der „Weihnachtskomet“ bringt tschechische Touristen nach Hause. Und mich zurück in die Stadt, die mir während dieser kurzen Zeit so ans Herz gewachsen ist.
Karl holt mich vom Bahnhof ab. Wir fahren mit dem Auto in den Ortsteil Bělá. Dort bewohnt Karl ein altes Pfarrhaus, das er selbst renoviert hat. Er zeigt mir auch die verlassene Kirche daneben. „Es sind nur noch wenige Gläubige im Ort“, seufzt Karl, „aber einmal im Jahr feiern wir eine Messe, da kommen auch Leute, die mit Gott überhaupt nichts am Hut haben.“
Der Hof des märchenhaften Děčíner Schlosses hat sich in einen Weihnachtsmarkt verwandelt. Während ich den leckeren trdelníky nicht widerstehen kann, trifft Karl alle zwei Meter Bekannte und begutachtet die Stände: Vom Heimatverein bis zum Kunsthandwerker – es gibt so viel zu entdecken ... Zusammen genießen wir heißen Tee und Livemusik.
Abends sitzen wir am Kamin in seiner Stube. Karl schreibt Bücher. Ich sage ihm, dass ich auch ab und zu schreibe, für ein paar Freunde mal einige Texte zusammenstellen möchte. Nur leider fehlt mir oft die Zeit. Karl lächelt. „Geht mir genauso. Manchmal muss man sich einfach zu etwas zwingen.“
Es ist schon dunkel. Direkt hinter Karls Haus beginnt der Nationalpark. Er ist ein naturverbundener Mensch, arbeitet bei der Landschaftsschutzbehörde. Dennoch ist er wenig begeistert, dass die Wildschweine seinen Garten für sich entdeckt und einer Mondlandschaft gleichgemacht haben.
„Könntest du mir helfen, den Zaun weiterzubauen?“ Was für eine Frage! Tags darauf sind wir mit Akkuschrauber und Brettern bewaffnet im Garten zugange. Dabei fällt mir eine wunderschöne Doppelwippe aus Holz auf.
„Die hat ein Freund von mir gebaut. Die Kinder aus der Nachbarschaft nutzen sie gern.“ Und nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Deswegen wollte ich eigentlich keinen Zaun um den Garten bauen, vielleicht trauen sie sich dann nicht mehr herein.“
Grenzen trennen. Aber sie sind nicht unüberwindbar. Karl lebt diese Überzeugung. Er bewegt sich in unterschiedlichen Kulturen, spricht zwei Sprachen. Er ist keine Ausnahmepersönlichkeit. Er ist ein ganz normaler Mensch. Einer wie du und ich.