Eine Liste
Um nicht das Wichtige aus den Augen zu verlieren.
Was tun?
Es muss euch langsam wirklich langweilen, aber es ist schon wieder ein Jammerpost. Ich muss mich kurzfassen, weil ich diese Woche keine Energie für irgendetwas hatte - also auch keine Notizen. Sechzehn Babys und Kleinkinder haben wir nun, im Alter von neun Monaten bis drei Jahren. Doppelt so viele wie im September. Was wir nicht haben? Sechzehn Stühle, einen Tisch ausreichend groß für sechzehn Kinder, genügend Mittagessen für sechzehn Kinder, sechzehn Decken, sechzehn Betten oder einen Raum, auf dessen Boden sechzehn Betten passen oder sechzehn Kinder Platz finden.
Zwei Kinder, Esther und David, sind brandneu und schreien (schreien, nicht weinen) den ganzen Tag nach ihrer Mutter. Alle anderen beißen und schlagen sich gegenseitig, weil sie jeden Tag in dieser Stressumgebung verbringen müssen, weil sie sich langweilen ohne Stimulation oder Programm, und weil sie bei der schieren Menge an Kindern die Aufmerksamkeit der Erwachsenen nur bekommen wenn sie laut heulen oder was anstiften. Mit keinem Kind kann ich länger als zwei Minuten bleiben, bevor ich das nächste trösten oder zurechtweisen muss.
Das ist also mein europäisches Projekt im Moment, sechs Stunden pro Tag - Windeln wechseln, Essen servieren, ins Bett bringen, putzen, aufräumen, schreiende Kinder beruhigen ohne die Sprache zu beherrschen. Als Beruf wäre es schlimm, als EVS ist es bestenfalls lachhaft, wenn man schwarzen Humor hat. Oder wie ich es vor Evelyn ausgedrückt habe - “ich hoffe, dass das hier der schlimmste Job ist, den ich je haben werde.”
Die Kinder leiden, die Erwachsenen leiden, es gibt hier keinen Gewinner außer die tolle “gemeinnützige” private Kita Csemete Ovoda, die uns Volunteers nicht aus eigener Tasche bezahlt und für jedes Kind ordentlich Einnahmen macht. Guess who.
Aber was ist anders?
Und das war ja schon immer so. Was sich verändert hat, ist, dass der Job noch nie so anstrengend war wie jetzt. Ich komme von der Arbeit und kann nur noch ins Bett fallen und die Kopfschmerzen von sechs Stunden Geschrei ausschlafen. Letzte Woche war das TIFF, ein wahnsinnig berühmtes Filmfestival auf das ich mich seit Monaten gefreut habe - und ich bin nicht einmal hingegangen vor Erschöpfung. Das Projekt hat mir bereits so viel genommen, und nun nimmt es mir auch das einzige, das einen über Wasser halten kann - das Leben außerhalb dieser grauenvollen Kita.
Deswegen habe ich seit einiger Zeit so eine Wut im Bauch, die sich so manifestiert, dass ich nicht mehr hier sein will. Dass ich froh bin, wenn all das in sechs Wochen vorbei ist und der Csemete-Wahnsinn ein Ende hat. (Na gut, wenn man dazu noch abserviert wird von Stipendien, potenziellen Wohnungen und Mädchen, hilft das nicht gerade mit der positiven Einstellung.)
Und das ist natürlich das Schlimmste, das mir passieren kann… dass ich die letzten Wochen in Frust verbringe. Denn wenn es vorbei ist, ist es vorbei und kommt nie zurück.
Aufgezählt
Tja, jetzt kommt also - nur für mich selbst - die Liste, die ominöse Liste der Cluj-exklusiven Dinge, die ich hier liebe und die ich vermissen werde, wenn ich bald zurück bin.
- Koffer! Das Café! Die besten Kekse in der Stadt, die allersüßesten Besitzer und mein zweites Wohnzimmer wann immer mir im Zimmer die Decke auf den Kopf fällt.
- Günstiges Leben. So reich in Relativität werde ich nie wieder sein, mit deutschem Kindergeld in Rumänien. Mal gucken, ob ich das auch hinkriege mit dem Sparen, wenn es härter kommt.
- Meine Psychotherapeutin hier. Hoppla, nun wisst ihr Bescheid, dieses Stigma ist doch wirklich bescheuert. Ich gehe hier zu Therapie und es hilft mir enorm. Therapeuten wechseln ist nie einfach. Ein wenig Angst habe ich.
- Die Suppenküche, O masa calda… oh mann, was hab ich da für eine liebe Truppe gefunden. Übrigens, diesen Donnerstag war es wieder soweit. Ich lief hinein, eigentlich fertig von der Arbeit, und alle freuten sich - und übergaben mir das Kommando über die Küche! Ah! Weil ich schon so lang dort bin… und viele Rezepte für sie gefunden habe. Bitte stürzt doch nicht so mit der Tür ins Haus. Aber es klappte, und am Ende kamen sogar Komplimente rein, hehe.
- Die LGBT+ Community hier. Das wird in Berlin ganz anders sein, was ja wirklich das europäische Mekka meiner Leute ist. Nicht dass ich es vorziehe, hier auf einem Date Angst zu haben, die Hand meines Gegenübers zu nehmen. Aber, nunja, es ist so eine kleine, intime, starke und unglaublich inspirierende Gruppe, und für mich auch die allererste Community dieser Art, vielleicht macht mich das am emotionalsten.
- Es ist angenehm zu wissen, dass… dieses Jahr nur mir gehört. Nichts, was ich getan habe, wird wirkliche Konsequenzen haben, es ist alles wie in einem Vakuum. Wäre es ein richtiger Freiwilligendienst, so wäre Volunteering das antikapitalistischste, das ich risikofrei tun kann, so tu ich dem Kapitalismus eher etwas sehr Gutes, aber wenigstens tu’ ich auch mir was Gutes. Eine Zeit lang weg von unserer bildschönen Leistungsgesellschaft und deren Druck, und die Selbstfindung passiert von ganz allein.
- Cluj, generell. Eine wunderschöne Stadt. Hoffentlich wird mir Berlin genau so ans Herz wachsen.
- Die Kinder. So blöd es klingt nach dem Text da oben. Ich liebe sie. Ich liebe sie auf eine Art, die ich noch nie gefühlt habe und die wohl exklusiv für Kinder reserviert ist.
- Meine Freunde. Ich kann keine Namen nennen, dafür bin ich noch zu vorsichtig mit meinem Herz, aber ich habe grad einige Namen im Kopf. Gewisse Leute nicht mehr eine Fahrradfahrt entfernt weit zu wissen - das wird vielleicht am meisten wehtun.
Ich bleibe bei meiner mittlerweile nicht mehr wandelbaren Meinung, dass dieses Jahr pure Ausbeutung und Korruption von Seiten Csemetes war und hier nie wieder EFD-Freiwillige hinkommen dürfen.
Aber ich würde es nie, nie bereuen, die Position angenommen zu haben. Garantiert nicht für das Projekt, sondern für all das auf der Liste und noch mehr, bereits abgeschlossene Dinge, die ich getan habe. Wenn man mich nochmal vor die Wahl stellen würde, hierher zu kommen oder in Deutschland zu bleiben - ich müsste keine Sekunde nachdenken.
Das ist doch die Hauptsache, oder?