Eine kunterbunte Tasche
Wir hören das Pfeifen des Schaffners, sehen noch ein letztes Mal aus dem Fenster und können nicht glauben, dass es vorbei ist.
Der Zug setzt sich langsam in Bewegung und verlässt mit einer ungarischen „fünf Minuten Verspätung“ den Bahnhof. Pécs liegt nun hinter uns – auch geographisch. Ein komisches Gefühl. Julia und ich sehen uns an, schweigen und schließlich müssen wir lächeln. Nach all den feuchten und fröhlichen und feuchtfröhlichen Verabschiedungen tut das gut. Gerade hatten wir uns noch über unser provisorisches und dezent chaotisches Matratzenlager im Wohnzimmer amüsiert. Durch das noch kurz davor tagein und tagaus viele emsige Bauarbeiter stiefelten und viele staubige Schuhabdrücke hinterließen. Die Fenster in unserem Zimmer müssen ausgetauscht werden, ganz dringend und ganz schnell und ganz unbedingt nur wenige Tage bevor wir ausziehen. Sie bekamen sogar die einmalige Gelegenheit uns beim Mittagsschlaf in Mitten unseres Chaos zu beobachten.
Auch die Baustellen, die nicht vor, sondern mitten im Kulturhauptstadt-Jahr eine nach der anderen aus dem Boden sprossen, rangen uns bald nicht mehr als ein müdes, aber gewitztes Lächeln ab. Denn so mancher Weg, den man morgens noch wie gewohnt nehmen konnte, wurde abends prompt zum Abenteuer und forderte höchst kreative Lösungen. Die Autofahrer konnten uns, brav auf den nicht vorhandenen Radwegen fahrend, bald auch nicht mehr schocken. Frech sein? Kein Problem. Können wir. Schon lange.
Doch nicht? Kein Problem. Zeit vergeht auch am Straßenrand. Dann - ein Fahrer bremst, er erbarmt sich. Wahrscheinlich ein heimlicher Radfahrer.
Zehn Monate zuvor: In Österreich auf dem Linzer Bahnhof treffe ich Julia. Bis zu diesem Zeitpunkt wissen wir nicht viel voneinander, aber wir wissen eines: In den nächsten Monaten haben wir genügend Zeit das zu ändern. Sie mag Musik und spielt Gitarre, sammelt Zitate und mag harmonierende Farben mit einer kleinen Bevorzugung der Blautöne. Und noch bevor wir uns das erste Mal sehen, schreibt sie mir, dass es in Ungarn im Juli einen Anna-Ball gibt und dass dieser Tag mein Namenstag sei. Oder zumindest einer von vielen, typisch für Ungarn.
Zusammen machen wir uns auf den Weg. Auf den Weg nach Ungarn, ins Land der Paprika. Für mich wird es auch das Land der unmöglichen und faszinierenden Sprache, das Land der Fahrrad-Verachter und der Schlaglöcher, das Land des Kürtos Kalács und des Lángos und das Land des Übermuts, der Freude und der Freiheit – klingt, wenn man die aktuellen Entwicklungen in Ungarn bedenkt, besonders kurios.
Und wir lassen das alte Leben hinter uns und nehmen nichts mit, außer uns selbst und unsere Erwartungen. Und der Rest passt in einen Koffer.
Voll bepackt, mit großen Erwartungen, können wir uns nicht ausmalen, wie schnell die Zeit verfliegen wird. Aber noch wollen wir das auch nicht.
Wir stehen am Anfang unseres Abenteuers und verschwenden keinen Gedanken daran, an die Zeitrechnung „nach Ungarn“. Es zählt erst einmal das hier und jetzt.
Mitten auf meinem Reiserucksack thront, provisorisch mit Geschenkband befestigt, ein großer brauner Teddybär, der vielen Kindern und ebenso vielen Erwachsenen ein Lächeln auf das Gesicht zaubert. Mein entgeisterter Gesichtsausdruck, den ich beim Verabschieden am Bahnhof nicht ganz verbergen konnte, kommt mir auf einmal lächerlich unbedeutend vor. Dein Abschiedsgeschenk hat seine Wirkung also in keinster Weise verfehlt. Danke, Lena. Zu dem Zeitpunkt ahnt auch noch niemand, dass Ramona ihn zu ihrem absoluten Liebling ernennen wird: „Der ist sooo weich!“ Und dass dieser große, braune Bär mit den Knopfaugen eine Kuschelattacke nach der anderen über sich ergehen lassen muss.
Der Zug ruckelt vor sich hin, wir unterhalten uns und schnell stelle ich, heimlich und zufrieden, fest, dass es sich für die zehn Monate sicher gut miteinander leben lässt. Lachen, weil wir uns kurz vor Budapest kaum auf den Beinen halten können. Das Gepäck macht es uns fast unmöglich. Was soll 's. Wir sind bald da.
Die Landschaft wird immer flacher und grüner, nur hin und wieder ein Dorf in dem der Zug hält. Wir sind umso überraschter, als wir in den Bahnhof von Pécs einfahren und ringsherum Berge sehen. Auch den Mecsek, auf dem wir fast ein Jahr später eine Grillparty feiern werden, die dank wild gewordenen Moskitoschwärmen spontan in unsere Küche verlegt wird. Aber all' das wissen wir noch nicht.
In Ungarn selbst erleben wir die volle Ladung deutscher Kultur. Mehr, als wir uns hätten träumen lassen und überzeugter, als wir in Deutschland jemals erleben werden.
Stolz und restlos begeistert, eingekleidet in schicke Tracht, tanzen die Kleinen unseres ungarn-deutschen Kindergartens zu Volksmusik. Mit nahezu perfekten Texten, Ohrwurm garantiert. „Der Spielmann, der Spielmann ist immer noch nicht da. Er kümmert aber schon, er kümmert aber schon.“
Unsere ovo nénis (Kindergarten-Tanten) brachten uns zum Schmunzeln, Grübeln, Diskutieren und manchmal fast an den Rand der Verzweiflung. „Warum heißt es „die Maus“ und „die Mäuse“, aber nicht „der Hund“ und „die Hünde“? Und warum macht ihr es so furchtbar umständlich mit den Artikeln und sagt „der Löffel“, aber „die Gabel“ und dann auch noch „das Messer“?
Mein Gefühl und mein zerbrochener Kopf rufen im Chor und sind sich sicher, dass ich über die ver-rückte deutsche Grammatik noch nie so viel gesprochen habe, wie während meiner Zeit in Ungarn.
„Könnten wir uns ein paar Tage frei nehmen?“
„Natürlich! Geht es nach Hause? Wie schön!“
„Nein, wir planen 'ne kleine Rundreise.“
„Oh.......ja, wie nett. Passt gut auf euch auf.“
Es kommen wilde Ideen auf, die mitunter zu Plänen und Reisezielen werden und letztendlich fahren wir doch meist völlig ohne Plan.
Und so sitzen wir dann eines nachts im Januar in einem Bus in der Slowakei, durchqueren ein Dorf nach dem anderen und sind schließlich die letzten Fahrgäste. Nach einiger Zeit überkommen uns leise, dann immer lauter werdende Zweifel. Wir bemühen uns dem Busfahrer verständlich zu machen, dass wir nach „Cadca“ möchten – natürlich das einzige slowakische Wort und noch dazu ein einfacher Dorfname, das wir beherrschen.
Er fuchtelt prompt mit den Armen, zeigt nach rechts und links und dann geradeaus, nickt hastig und sagt „Cadca, Cadca, Cadca.“ Wir waren weiter. Und sind nicht schlauer als zuvor. Als wir schließlich wieder halten und der Busfahrer uns erneut „Cadca!!!“ entgegen bellt, steigen wir aus und stehen im Dunkeln im Schnee. Und sind dennoch richtig.
Die Anspannung weicht der Erleichterung, wir lachen über uns, den Schreck und den Moment und plötzlich - ist alles so einfach.
In Rumänien steigen wir völlig überstürzt aus dem Zug aus, mit einem Schuh in der einen und einem Buch in der anderen Hand und einem Stift zwischen den Zähnen. Verwirrt stehen wir am Bahnhof in Arad und verstehen die Welt nicht mehr. Um dann kurz darauf festzustellen, dass in Rumänien die Uhren einfach anders ticken. Nach Winterzeit. Sie werden nicht umgestellt. Danke an den netten Herrn, der uns fast verzweifelt beschwörte doch bitte endlich auszusteigen, insofern wir Arad noch bei Tageslicht erreichen möchten.
Im Frühling bereisen wir drei Länder in einer Woche – Kroatien, Serbien und Bosnien – per Anhalter. Zumindest war das der Plan.
Also, ein optimistisches „Daumen-raus“ nahe der ungarisch-kroatischen Grenze und - wir können unser Glück kaum fassen - das erste Auto hält, nimmt uns mit und bringt uns prompt wieder zurück ins Zentrum von Barcs. War voll nichts. Kommunikation fehlgeschlagen. Der Fahrer bietet an uns zur Grenze zu fahren und nach kurzer Bedenkzeit steigen wir ein und stehen kurze Zeit später wieder an der Schranke in Ungarn. Kroatien so nah, nur einen Steinwurf entfernt.
Passkontrolle:
„Where are you going to?“
„Trampen? Sicher nicht erlaubt.“, so unser erster Gedanke.
Lieber nicht lange zögern. „Well,.... Croatia.“
Ein misstrauischer Blick. „By foot?“, die prompte Antwort.
„Oh, yes...and no. By foot... and train, of course.“
Und dann wackeln wir in der brütenden Mittagshitze mit unseren, natürlich viel zu vollen, Rucksäcken über die Grenze. Sogar die Schranken werden uns geöffnet. Zu Fuß die gleichen Privilegien wie ein Autofahrer – wir können unser Glück kaum fassen.
Nach zahlreichen kleinen Dörfern mit Pferdekarren, einer Schnellstraße, einem Kamillenfeld und einem Graben, den ich mit dekorativen Schlammspritzern wieder verlasse, trampen wir schließlich zum Bahnhof von Virovitica.
Damit wir nicht noch einmal In The Middle Of Nowhere landen, imitiere ich zur Sicherheit eine Eisenbahn, sehr zum Vergnügen von Julia und Carina. Als wir schließlich den kleinen Bahnhof erreichen, weiß ich: der Fahrer konnte mit „trainstation“, „Bahnhof“ oder vielleicht auch meinem zaghaften „Schschschsch“ etwas anfangen, denn wir sind richtig.
Unsere Tramping-Pläne müssen wir über den Haufen werden, als uns klar wird, dass es leicht gewagt ist am späten Nachmittag noch knapp 200 km bis Zagreb vor sich zu haben. Nicht zu wissen, wann das nächste Auto hält, geschweige denn ob es überhaupt in unsere Richtung unterwegs ist.
In Zagreb angekommen treffen wir a Freak in a black dress, Selbtbeschreibung von Gaby, unserem Host. Wir kaufen keine Straßenbahn-Tickets, denn eigentlich wird abends nicht kontrolliert. Eigentlich trifft nicht ein, sondern ein Kontrolleur, keine zwei Minuten später.
Ohne Kuna, nur mit Euros in den Taschen, laufen Julia und ich gehetzt durch die Stadt auf der Suche nach einer Wechselmöglichkeit, um die Strafe zahlen zu können. Und hätten Unmengen draufzahlen müssen an der Rezeption eines schicken Hotels. Wäre da nicht dieser Mann aus Österreich, der im Rollstuhl in der Schlange vor uns wartete, und uns völlig selbstverständlich und unkompliziert unser Geld wechselt.
Atemlos tauschen wir wenige Zeit später das Geld gegen unsere Pässe ein und können uns wieder auf den Weg machen. Endlich.
Meine Zeit habe ich nicht vergeudet, nein. Sie war gefüllt bis oben hin - eine kunterbunte, ausgebeulte Tasche mit Erlebnissen, die ich nicht zurückgeben möchte und die mich noch lange begleiten.
„Der Weg ist das Ziel." Denn alles, was die Zeit für dich so einmalig werden ließ, das findest du auf deinem Weg. Und dieser Weg kann sich gehen wie auf Wolken. Oder es können Steine im Weg liegen, aus denen du Schönes bauen kannst. Vielleicht nimmst du auch deinen Mut zusammen und wirft die Steine weg, weit weg, so dass sie aus deinem Blickfeld verschwinden. Oder du hebst vorsichtig deinen Fuß, einen nach dem anderen, und steigst darüber.
Das Ziel deines Weges ist nicht einfach das Ende dieser Zeit. Es sind die Menschen, Momente und Missgeschicke. Und diese finden wir nur auf dem Weg dahin.
Nur manchmal, manchmal frage ich mich, ob es der richtige
Augenblick war.