Ein Haus gegen das Vergessen
Oft sind es die kleinen, persönlichen Geschichten, die einem plötzlich die ganz großen, abstrakten Zusammenhänge begreiflich machen. Eine kleine Statue vor der verlassen wirkenden Villa Lawrence neben meiner Wohnung war der einzige Hinweis darauf, dass hier eine solche Geschichte versteckt sein würde.
Oft sind es die kleinen, persönlichen Geschichten, die einem plötzlich die ganz großen, abstrakten Zusammenhänge begreiflich machen. Eine kleine Statue vor der verlassen wirkenden Villa Lawrence neben meiner Wohnung war der einzige Hinweis darauf, dass hier eine solche Geschichte versteckt sein würde. Die Büste war dort zu Ehren von André Pommies aufgestellt worden, der, so stellte sich heraus, ein Held der regionalen französischen Résistance Bewegung gewesen war und den „Corps Franc Pommies“ gegründet hatte, die Basis also der Résistance hier im Gebiet der französischen Pyrenäen.
Tatsächlich war auch die Villa keineswegs so verlassen wie sie wirkte, sondern das „Musée de la Résistance et de la Déportation“, das Museum des Widerstands gegen den deutschen Besatzer und der Deportation in Pau also, das jeden Mittwochnachmittag für einige Stunden sein altes Eichenportal für Besucher öffnet. Ein Gruppe älterer Herren, denen die Bewahrung der Geschichte aus verschiedensten Gründe besonders am Herzen liegt, hat hier eine ebenso eindrucksvolle wie persönliche Sammlung an Dokumenten und Fundstücken zusammengestellt. Und hinter jedem der Objekte verbringt sich eine Geschichte, mal berührend, mal grotesk, aber immer verstörend nah am Menschen. Da ist das Hirschgeweih, das ein französischer Soldat in der Villa Hitlers in Berchtesgaden erbeutet hat und diese seine Trophäe anschließend begleitet von einem stolzen Schreiben seinem Freund zugeschickt hat. Da ist ein Zeitungsartikel über die Musterung junger Elsässer vor ihrer Zwangseinziehung in die Deutsche Armee. Auf dem Bild ist auch Martin, der Vater von Gerhard zu sehen, der persönlich anwesend ist um seine Geschichte zu erzählen. Um dem Dienst an der Waffe gegen seine französischen Brüder zu entgehen, flieht er mit einem Freund in den am weitesten entfernten Winkel Frankreichs, nach Pyrénées-Atlantiques. Sein Freund wird auf der Flucht als Deserteur getötet, während Martin Pau erreicht und unter verändertem Namen der französischen Armee beitritt. Da ist das Modell eines nach dem Deutschen Vorbild errichteten spanischen Konzentrationslagers aus der Zeit der Franco-Diktatur, realisiert von einem überlebenden Lagerinsassen. Es ist ein Besuch des Grauens, ein Museum das einem keine Möglichkeit zur Fluch in die Unpersönlichkeit lässt. Und während des ganzen Besuches sind da Männer wie Jean, die sich hingebungsvoll um diese Ausstellung gegen das Vergessen kümmern und mit sanfter Altherrenstimme dem sprachlosen Besucher ein Sammlungsstück nach dem anderen erläutern.
Und wenn man das Glück hat der einzige Besucher zu sein, dann kann es passieren dass man in das kleine Büro zu Galette de Roi, dem französischen Dreikönigsgebäck und Champagner eingeladen wird, und Gelegenheit bekommt die Geschichte von Néné, dem letzten Überlebenden der regionalen Resistance-Bewegung zu hören. Biarritz, seine Heimatstadt, wurde aufgrund seiner Lage direkt an der baskischen Küste gefürchtet, könnte die Stadt doch als Einfallstor für die Engländer dienen. Folglich wurde die Küstenstadt zur „Zone interdit“, aus der kein Heraus- oder Hereinkommen mehr war und schon früh im Krieg eine besonders hohe Dichte deutscher Soldaten herrschte. Néné, der die Zwangsarbeit in einer Fabrik zur Waffenherstellung für die Deutschen verweigert hatte fand sich zu diesem Zeitpunkt illegal in seiner eigenen Heimat wieder, da er ohne Arbeit kein Anrecht auf Lebensmittelrationen hatte. Zugleich traf der 18-jährige im Kino auf gleichaltrige deutsche Soldaten, man spielte gemeinsam Pingpong. Da begriff er, erzählt Néné und nippt an seinem Champagner, dass nicht alle Deutschen Nazis waren. Der Hass, sagt er, ist nie gut, wir dürfen nie vergessen was er schon alles kaputt gemacht hat, und verweist auf die jüngsten Attentate in Paris. Eine Einstellung, die er trotz all der negativen Erlebnisse die noch folgen sollten behalten hat und die auch seine große Offenherzigkeit mir als Deutscher gegenüber erklärt. Nur wenige Wochen vor der Befreiung werden er und andere Resistants verraten, und von der aus 10 jungen Männer bestehenden Gruppe überleben nur drei, Néné selbst nach einem Schlag auf den Kopf mit einem Gewehrkolben nur schwer verletzt. Das alles erzählt er ohne jede Bitterkeit, lädt mich ein nächsten Mittwoch doch wieder zum Kuchen vorbeizukommen, die Herren gehen jetzt noch auf eine Partie Boule in den Park vor der Villa.