Ein halbes Jahr ist um
Die Zeitrechnung in Estland scheint mir inzwischen eine andere zu sein. Jedenfalls ist das vergangene halbe Jahr schneller vergangen, als ich vor meiner Reise hierher gedacht hätte.
Jedes Jahr am 24. Februar feiern die Esten den sogenannten Vabariigi aastapäev, den estnischen Unabhängigkeitstag. Eine Feier, die ich mir nicht entgehen lassen wollte. Gemeinsam mit anderen Freiwilligen war ich schon am Tag zuvor von einem Freiwilligen, der in einem Jugendzentrum arbeitet, zu einer Nachtwanderung, welche seine Mitarbeiter für die Kinder organisiert hatten, eingeladen gewesen. Der sogenannte Öömatk startete um 22 Uhr in Laoküla, was aus Tallinn innerhalb von einer Stunde mit dem Zug zu erreichen ist. Trotz kalten Temperaturen um die null Grad und einer riesigen Gruppe von 100 Teilnehmern kamen wir sehr gut voran. Auf der Hälfte der Strecke gab es für jeden Wanderer eine kleine Stärkung in Form von Suppe, Tee und Kuchen und eine Medaille als Belohnung. Es wurde außerdem die estnische Nationalhymne gesungen, um den Unabhängigkeitstag gebührend zu begrüßen. Das Highlight der Tour folgte aber nach der Pause, als unser Weg für eine gute Stunde direkt am Meer vorbeiführte und wir im Dunkeln unter klarem Sternenhimmel durch den Sand laufen und dem Rauschen der Wellen lauschen konnten. Gegen zwei Uhr morgens erreichten wir schließlich den Parkplatz, auf dem mehrere Busse auf uns warteten. Müde und geschafft wurden wir Freiwilligen von einem Bus in das Jugendzentrum Saue gebracht, wo wir netterweise ausharren durften, bis die ersten Züge uns um sechs Uhr nach Tallinn bringen konnten. Mit mageren zwei Stunden Schlaf kamen wir also gegen sieben Uhr in der Hauptstadt an und zogen auch schon direkt weiter. Um 07:34 Uhr, pünktlich zum Sonnenaufgang, wurde nämlich die estnische Flagge auf dem Hermannsturm gehisst. Jeder Besucher bekam eine kleine Estlandflagge und ein Liederheft in die Hand gedrückt und so schienen wir gar nicht als Ausländer aufzufallen, bis die ersten Lieder angestimmt wurden. Dank Liederheft meisterten wir jedoch auch diese Hürde einigermaßen und verstanden sogar bei den Reden, die vor der Menschenmenge gehalten wurden, kleine Ansätze. Gegen 08:15 Uhr löste sich die Versammlung am Hermannsturm dann auf, weshalb wir mit sieben Freiwilligen das nächste Café aufsuchten. Auch hier wurde der Unabhängigkeitstag mit einem speziellen Frühstücksangebot gefeiert, welches uns aber ehrlicherweise eher weniger überzeugte. Wir waren alle müde und wären am liebsten nachhause verschwunden, doch die Militärparade, welche um zwölf Uhr am Vabaduse Väljak beginnen sollte, wollten wir uns auch nicht entgehen lassen. So aßen wir in dem Café, wie die Esten es an diesem Nationalfeiertag traditionell tun, noch ein Stück Kuchen, bevor wir zu der Parade aufbrechen konnten. Nachdem diese sich dann auch endlich einmal in Bewegung gesetzt hatte, war es ziemlich spannend mit anzusehen, wie die Esten ihr Land feiern. Ganze Familien standen wedelnd mit kleinen blau-schwarz-weißen Fähnchen am Straßenrand, während Soldaten, Spürhunde und Panzer durch die Straßen zogen und Helikopter und Düsenjets am Himmel entlangflogen. Das lange Wachbleiben hat sich im Endeffekt jedenfalls gelohnt, da dies eine Erfahrung war, die ich in Deutschland nicht so schnell hätte machen können. Außerdem konnte ich selber erleben, wie stolz die Esten auf ihr Land sind und wie viel ihnen, die solange von Besatzung und Annexion geprägt wurden, ihre Unabhängigkeit bedeutet.
Zwei Tage später ist dann endlich das eingetreten, womit eigentlich niemand mehr gerechnet hatte. Es hat eine ganze Nacht durchgeschneit. Die knapp 15cm Schnee haben meine Mitbewohnerin und ich am nächsten Tag auf der Arbeit direkt mit unseren Klienten ausgenutzt und einen riesigen Schneemann gebaut. Für die Esten ist eine solche Menge Schnee zwar eigentlich nichts Besonderes, doch da es diesen Winter ansonsten nur im Dezember ein wenig Schnee gab, freuten auch sie sich jedenfalls ein wenig mit uns.
Ende Februar hatten wir zudem auch unsere letzten Stunden im A1 Sprachkurs. In der vorletzten Stunde schrieben wir den Abschlusstest, welcher wirklich sehr einfach gehalten war und mussten in zweier oder dreier Gruppen eine zehnminütige mündliche Prüfung vor unserer Lehrerin absolvieren. Alle zehn Teilnehmer unseres Kurses haben die Prüfung bestanden, womit wir nun offiziell jedenfalls das Sprachlevel A1 haben. Die Urkunde mit der Bestätigung und der erreichten Punktzahl, welche sich aus Anwesenheit und gemachten Hausaufgaben zusammensetzt, wird uns innerhalb der nächsten Wochen noch zugeschickt. Die allerletzte Stunde Sprachkurs hatten wir dann eine kleine Exkursion in der Tallinner Altstadt, bei welcher wir in Form einer kleinen Stadtrallye Fragen zu bestimmten Gebäuden oder Straßen beantworten mussten. Danach haben wir uns noch alle im Kompressor, einem sehr leckeren Pfannkuchenhaus, getroffen und einige lustige Stunden verbracht. Dieses Wochenende wollen wir uns auch mit einigen Leuten aus unserem Sprachkurs in einer Karaokebar treffen und auch mit denen, die es zeitlich neben dem Job schaffen, einen Vormittag pro Woche gemeinsam in einem kleinen Languagecafé weiterlernen. Die kostenlosen A2 Kurse sind nämlich sehr überfüllt und so ist es fast aussichtlos in der öffentlichen Bewerbungsphase Mitte März einen Platz zu bekommen. Versuchen werden wir es mit Sicherheit aber trotzdem alle.
Über das erste Märzwochenende fahre ich außerdem mit vier weiteren Freiwilligen für zwei Tage nach Riga und dann weiter für zwei Tage nach Vilnius. Wir hoffen, dass das Wetter mitspielt, aber sind bisher noch ganz zuversichtlich. Wir haben bereits Züge und Busse für die Hinfahrt und Hostel in beiden Städten gebucht, müssen uns die nächsten Tage aber noch um einen Bus für die Rückfahrt kümmern. LUX Express, welches nebenbei erwähnt das Busunternehmen ist, durch welches die erste mit dem Coronavirus infizierte Person von Riga nach Estland gelangt ist, bietet einige günstige Fahrten an, doch wir hoffen noch auf ein spezielles Last-Minute-Angebot.
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