Ecotopia 2005
Den Traum einer ökologischen Utopie leben, ökologische Themen nicht nur diskutieren, sondern auch umsetzen - das war das Ziel hunderter Jugendlicher aus 35 Ländern. Wie es sich lebte mit Duschen, die aus Bottichen gebastelt wurden und Komposttoilletten, in denene strikte Trennung herrschte zwecks Gestankvermeidung, erzählt mart.
Nichtexistente Staaten, Waffenschmuggel, Gefängnisse, Umweltprobleme - alles, was mich durch mein Jahr in der Republik Moldau begleitet hat, konzentrierte sich Anfang August noch einmal: bei Ecotopia.
Nur durch den Nistru getrennt vom Schattenstaat Transnistrien, 26 Kilometer vom größten Munitionsdepot Europas und nicht viel mehr als ein Blick von einer Eisenfabrik entfernt, die (Dank dubioser Kontakte zu Tschernobyl?) mit strahlendem Stahl die höchste Krebsrate im Land zu erregen im Verdacht steht; zehn Kilometer weit weg vom Knast, für dessen Zugang man schon fünf Jahre Strafe braucht, und dessen Wärter nach zehn Jahren pensioniert werden, und fünf Kilometer entfernt vom Naturdenkmal, den Wasserfällen Saharnas, und der Wunderwerkstatt, dem Kloster Saharna, dessen Priester allwöchentlich den Teufel austreiben: hier haben wir - 300 Ökos aus 35 Ländern - dieses Jahr ein Ecotopia zu errichten versucht!
Ecotopia, das hat zwei Bedeutungen: Ökologische Utopie, gelebt jeden Sommer in einem anderen Land. Oder auch ökologisches Thema, jedes Jahr neu zur Sprache gebracht. Dieses Jahr wurde es also von meiner NGO organisiert. Das war eine riesige Herausforderung, da meine lieben Kollegen, die das Projekt an Land zogen, dann nichts mit der Organisation zu tun haben wollten. Irgendwie klappte es aber, auf sechs Paar Schultern verteilt, doch noch, die meisten Dinge zu regeln, außer einigen Visaproblemen.
Wir bauten unsere eigenen Sommerduschen (dunkle Bottiche auf einer Holzkonstruktion), Komposttoiletten (immer schön Dunkles und Helles trennen, sonst stinkt's!), Kompost, Abfallbehälter.
Die Idee von Ecotopia ist zu beweisen, dass umweltfreundliches Leben möglich ist - ohne nicht abbaubare Produkte, ohne weitgereiste Produkte, ohne Überkonsum. Dazu kommt das Prinzip alles solle in der Gemeinschaft, im Konsens, gelöst werden. Wir haben es zwei Wochen lang versucht, schon zum 17. Mal. Und für die Republik Moldau haben wir das Beste daraus gemacht.
Jeden Tag trafen sich die Teilnehmer beim Morgenkreis und brachten die Seminare des Tages, die Probleme der Gruppe und die Ideen zur Sprache. Die Seminare wurden von den Teilnehmern selbst organisiert, denn jeder war automatisch Organisator. Eine manchmal nervenraubende Angelegenheit, gingen diese Diskussionsrunden doch bis zu zwei Stunden täglich.
Die Duschen funktionierten mit Wasser aus einem Brunnen, und für das Abwasser bauten wir mit Steinen ausgelegte Kanäle, so dass alles begehbar blieb und das Wasser in Ruhe versickern konnte. Erlaubt waren nur biologisch hergestellte und abbaubare Reinigungsprodukte. Die niederländischen Ko-Organisatoren mussten diese für die moldawischen Teilnehmer mitbringen, denn hier gibt es so etwas einfach nicht zu kaufen. Ein Teilnehmer machte sogar ein Seminar, wie man Seife selbst herstellt!
Das Essen war meist veganisch, immer aber vegetarisch. Dieses Prinzip wurde erklärt, denn Tiere zu essen, kann man nicht nur von moralischen, sondern auch von energetischen und heutzutage leider auch gesundheitlichen Standpunkten hinterfragen. Dazu muss gesagt sein: Unser Essen war lecker und nie genug. Und: Am Ende sah ich doch jemanden mit einer Büchse Geflügelpastete herumsitzen. Dabei war in einem Workshop ein ausgewogener, alles Notwendige enthaltender veganischer Speiseplan erstellt worden...
Für mich fühlte es sich danach komisch an, wieder Fleisch zu essen. Getan habe ich es dennoch, obwohl ich mir Dank einiger anderer Workshops wohl den Gang zu McDonald's endgültig verkneifen kann. Zumal es wirklich nicht geht, in Zentren das M zur Hauptattraktion zu machen und Angestellten 33 Cent pro Stunde zu zahlen.
Wichtig zum Thema Versorgung war noch, dass die Produkte aus der Region kamen. Denn lange Wege führen zu Umweltbelastung und oft unkontrollierbaren Anbaubedingungen. Nicht neu war, dass wenigstens drei Erden nötig wären, wenn jeder wie wir Deutsche leben wollte. Wollten wir alle US-Amerikaner sein, benötigten wir wenigstens fünf. Und da die Erdbewohner der Paralleluniversen (wenn Stephen Hawking denn Recht haben sollte) sicher genau viel verbrauchen wie wir, sehe ich gar keinen Ausweg.
Die Aussage von Ecotopia war am Ende, dass die Moldauer viel fortschrittlicher und zukunftsgerüsteter seien, als die meisten Westeuropäer. Oder weiß jemand der geehrten Leser, wie er ein Dreigängemenu samt Getränken selbst produziert? Viele Moldauer wissen es. Es ist ihre einzige Chance, denn Kaufen ist hier viel zu teuer. Und so werden, wenn die Erdölreserven erschöpft sind, vielleicht die Moldauer "Experten"-Seminare geben.
Seminare gab es auch bei Ecotopia einige. Aktionen und Kampagnen wurden geplant, Situationen der Heimatländer in Pressefreiheits-, Menschenrechts- und Umweltfragen diskutiert. Die "Genderfrage" wurde auch hier diskutiert, denn wenige Männer beteiligten sich mit viel mehr Beiträgen an den ersten Morgenkreisen. Ich selbst gab Workshops über Trampen und hospitalityclub.org, eine Webseite für den Austausch von Gastfreundschaft.
Der bittere Beigeschmack: ein Tramper aus der Ukraine war mit einem Auto zu Ecotopia gekommen, dass 40 Kilometer vor der Ankunft einen Unfall hatte - mit totem Fahrer und verletzter Ehefrau und Kind. Diesen Teilnehmer, der als einziger Insasse glimpflich davon gekommen war, im Workshop zu haben, war eine echte Herausforderung, die er aber gut überstand (und schließlich freiwillig).
Der wohl krasseste Workshop nach all den Schreckensgeschichten über Shell, das mit einer neuen Pipeline Irland zerstört, Nestlé, das Babys mit hinterhältiger Milchpulverwerbung umbringt, und Coca-Cola, das die fossilen Wasservorräte an etlichen Orten der Welt ausbeutet (verdammt, mein moldauisches Lieblingswasser, Dorna, ist auch von Coke produziert), war: Shoplifting.
In einem Workshop, der auch ganz altmodisch "Diebstahl" hätte heißen können, erläuterte uns ein spanischer Teilnehmer aus einem Squat-Kommunen-Projekt die Philosophie des "Stehlens bereits Gestohlenen", und seine Erfahrungen. Vom täglichen Nahrungsbeschaffen bis zur Kettensäge im Rucksack, der Jung ließ nichts aus, und stieß auf belustigte bis ungläubige Gesichter. Wie erklärt man Diebstahl? Etwa so: Wenn ich für das Projekt arbeite, tue ich etwas Gutes für die Gesellschaft. Wenn ich arbeite, um einzukaufen, habe ich weniger Zeit für das Projekt - also shoplifte ich. Kann man wirklich so argumentieren? Meine durch meine geliebten Eltern (taschengeldtechnisch sinnvolle Formulierung, Anm. d. Autors) anerzogene Abscheu gegenüber Diebstahl ließ mich daran doch stark zweifeln...
Nach all den theoretischen Dingen machten wir uns noch an eine Aktion. Wie gesagt, 26 Kilometer entfernt ist das größte Munitionsdepot Europas, von russischer Armee bewacht, seit Jahren internationalen Gutachtern unzugänglich. Das Ganze hätte laut einem Abkommen seit Ende 2002 abtransportiert werden müssen, beziehungsweise in einer aus Spenden finanzierten Spezialkammer für kontrollierte Sprengungen zerstört worden sein.
Die transnistrischen Machthaber jedoch verweigern nach ein paar Zügen, die 2002 etwa 3.000 der geschätzten 40.000 Tonnen Material nach Russland zurückführten, jeglichen Zutritt oder Abtransport durch irgendwen. Das können sie nur Dank der Unterstützung durch Russland, das seine "Friedenstruppen" dort hält, die Nachfolger der 14. Sowjetarmee, einer der stärksten Einheiten während des Kalten Krieges. Das Problem? In der Ukraine löste ein Feuer letztes Jahr in einer ähnlichen Stätte eine Kettenreaktion mit gewaltigen Zerstörungen aus. 40.000.000 Kilogramm Sprengstoff - unser Camp wäre, bei "richtigem" Timing, im Nu "abgebaut" gewesen...
Unsere Aktion, besonders für die Medien konzipiert, bestand aus einem großen Peacezeichen, von Menschen auf dem Gras gebildet, von Menschen mit nackten Oberkörpern rundum, auf deren Rücken in Russisch, Rumänisch, und Moldawisch (Rumänisch mit kyrillischen Buchstaben) "Keine Bomben" stand. Später machten wir für TV-Teams eine Performance aus menschlichen Pyramiden, die bei einem simulierten Bombenaufschlag kollabierten, und einen Demomarsch "Bomben kennen keine Grenzen". Das Ganze wurde umrahmt von Interviews (mein Rumänisch war schrecklich) und Diskussionsrunden fürs TV, sowie einer öffentlichen Erklärung.
Und Aktionen gab es natürlich auch sonst - Yoga, Tai Chi, Capoeira, Kontaktimprovisation, Knuddelgruppen, Gesangs- und Tanzabende am Lagerfeuer, einen EcoVision-Gesangswettbewerb. Jede Gelegenheit wurde genutzt, glücklich zu sein. Besonders als die beiden Radtouren, eine aus Banja Luka in Bosnien und die andere aus Lettland, ankamen.
Menscheleien ohne Ende hinter den Kulissen, unsere moldawische Köchin fand ihren armenischen Jüngling, insgesamt formten sich mindestens drei armenisch-moldawische Pärchen. Die hübsche Franzosin verließ den ersten, einen Japaner, für einen hübschen Sachsen (nicht mich! ;-) ) Die verheiratete Armenierin spielte mit einem anderen Sachsen, und dessen Freund fand die kroatische Liebe, die in Amsterdam lebt. Der Niederländer selbst flirtete mit der Russin, die mit ihm nur Deutsch sprach. Noch ein paar sehr süße Beispiele (hättet Ihr's doch gesehen!): Schwede-Ukrainierin, Moldawier-Tschechin, Deutscher-Ukrainierin, Australier-Polin, Japaner-Moldauerin, Portugiese-Spanierin, Ire-USAmerikanerin, Australier Spanierin... Ja, Reduktion auf Nationalitäten sage man - aber ich bin mir sicher, die kulturellen Unterschiede erhöhten die Anziehungseffekte.
Was bleibt? Viele Freundschaften; die Vorbereitungen und Erfahrungen fürs nächste Jahr; Ideen und Kampagnen; vielleicht ein paar bessere Verhaltensweisen; niedergetrampeltes Gras auf dem Gelände; die gleiche Situation in vielen, vielen Gebieten.
mehr Infos: www.eyfa.org