Du darfst heulen!
Mein erster Monat in Ljubljana.
Am Anfang war die Scheiße. Es schneite Enttäuschung, es zitterte der Schock, es kochten Einsamkeit und Fertigravioli.
Warum? Die Realität besaß die Dreistigkeit, nicht meiner Vorstellung zu entsprechen.
Hat sich das geändert? Nein.
Bin ich trotzdem zufrieden? Ja.
Lasset mich davon berichten, wie ich nicht gescheitert bin.
Am 2.12.2021 zwängte ich mich, mein Fahrrad und mein unmögliches Gepäck in den Eurocity nach Zagreb, über Spittal-Millstättersee und St. Johann im Pongau.
Aufgeregt war ich am Tag selbst witzigerweise gar nicht, aber ihr wisst sicher noch, wie geil ich das fand, nach Ljubljana zu ziehen und wie super ich mir das ausmalte, für eine queere NGO zu arbeiten. – Einfach der Hammer! (Grüße)
Und der Hammer war das dann tatsächlich, als ich am Abend desselben Tages in einer leeren Wohnung saß, alleine, heulend. Halt weniger der Hammer der Euphorie, eher der Hammer, der dir von hinten über den Schädel gezogen wird.
Keine Wilkommensdinner, keine WG voller krass interessanter Europäerinnen, bei der Arbeit keine queeren Leute, die mich anfixen, sondern nur welche, die mich anpissen.
Schmunzeln kann man da nur, weil ich mir so hammermäßig viel Mühe beim Textschreiben gebe, es war wirklich gar nicht witzig. Ich hab mich gefühlt, als ob ich einen riesen Fehler gemacht hätte. Als sei ich naiv und übermütig gewesen, einfach mal random nach Slowenien zu ziehen und mir dabei sicher zu sein, dass das eine arschgeile Zeit werden würde, die ich mir dazu auch noch viel zu genau herbeiphantasiert habe. Ich hatte Probleme zu essen, ich war richtig unglücklich und enttäuscht von allem.
Mir ist das wichtig, das einmal ganz ungeschönt aufzuschreiben, weil meine Erfahrung teilweise überhaupt erst dadurch zustande gekommen ist, dass ich keinerlei Negativbeispiele fürs ESC kannte und mich nicht darauf eingestellt habe. – Damit will ich NICHT sagen, dass alle lügen, die erzählen, sie hätten einen rundum fantastischen Auslandsaufenthalt gehabt. Ich will sagen, dass alle Erfahrungen in Ordnung und vor allem individuell sind.
Bin ich der einzige Dulli, dem das nicht klar war?
Um mich selbst nicht ganz so eselhaft zu präsentieren: Es wurde vorher auch schlecht kommuniziert, wie ich wohnen werde und was passiert, wenn ich ankomme. Das war nicht mein Fehler.
Gut, aber was ist ´n dann eigentlich noch so passiert?
Ich habe meine Co-ESClerin und spätere Mitbewohnerin Maja kennengelernt. Am Anfang habe ich auch sie für eine Enttäuschung gehalten. – Ist sie nicht, im Gegenteil! Bevor sie hier eingezogen ist, hat sie mir unfassbar viel nützlichen Kram vorbeigebracht – scharfe Messer, Pfeffer, ein Küchenhandtuch und sowas. An meinem zweiten Abend waren wir zusammen bei IKEA und im Kino.
Mit ihr und zwei anderen Freiwilligen bin ich auch für einen Abend nach Koper gedüst, zu einer Filmvorführung im Rahmen eines LGBT-Filmfestivals. Da habe ich mir auch hier in Ljubljana ein paar ganz tolle Filme angeguckt (House of Hummingbird Leude, der shit!) und durfte sogar eine introduction speech für einen davon halten.
Mein moral support an dem Abend war Lan, ein lokaler Freiwilliger, Transmann und ein extrem motivierter, energievoller Mensch – was hier wirklich eine Besonderheit ist. Denn die queere Community in Ljubljana ist zwar groß (es gibt fünf, sechs verschiedene queere Organisationen, alle sehr aktiv), aber auch trübselig.
Lan und ich haben uns schnell gut verstanden und beschlossen, gemeinsam ein Projekt zu starten, das jetzt gerade in Planung ist.
Richtig kennengelernt haben wir uns beim queeren Wintercamp, organisiert von DIH, das an meinem zweiten Wochenende hier stattgefunden hat. Dafür sind wir zwei Stunden lang durch die slowenischen Serpentinen geschwummert und haben drei Tage im Dorf Cerkno verbracht. Das war das erste Mal, das ich hier geatmet und gefühlt habe, dass nicht aller Traum vom Abenteuer verloren ist und ich auch wirklich interessante, herzliche Menschen kennenlernen kann. Ab dem zweiten Abend hab ich dort außerdem alle Leute mit meinen ersten slowenischen Wörtern genervt („Dober dan? Kako si?“) und mir wurde eine richtig verheißungsvolle Tarot-Kartenlesung gemacht.
Ansonsten hatte ich in meinen ersten Wochen bei der Arbeit so viel zu tun, dass ich erstmal ein ZEIT ONLINE-Abo abgeschlossen habe.
Ljubljana als Stadt ist entweder eine Suppe aus Nebel und beißender Winterkälte oder aber eine sonnenbeschienene Schönheit, im Zentrum mit Pflasterstein und Häusern wie Prag und Hauswänden wie Berlin-Kreuzberg. Weiter außen sind´s dann eher wunderbar klotzige Hochhäuser – ich lieb´s! Es gibt auch ein Schloss, zu dem man hochstapfen kann, um sich entweder von der Suppe oder den fernen Berggipfeln bezaubern zu lassen. Bemerkenswert sind auch die weihnachtlichen Planeten und Chromosomen!
Der Winter, insbesondere der Corona-Winter, ist wohl nicht ganz die ideale Zeit für die true experience, weil es hier eigentlich eine große alternative Szene mit Clubs, Theatern und Kaffees, aber auch das Ufer der Ljubljanica gibt, die gerade aber natürlich allesamt eingeschlafen bzw. eingefroren sind. – Etwas, auf das ich mich im Frühling freuen kann!
Über Weihnachten war ich eine Woche in Stuttgart (sorry an alle, die´s nicht wussten), wurde geboostert, hab viel zu viel Sauerbraten und Fondue gegessen und mit meinen Eltern auf der Couch gegammelt, das war schön! … Und leider war es dann wieder fürchterlich, als ich zurückgefahren bin. Wieder die Einsamkeit, wieder am Heulen.
Und dann hab ich was richtig gemacht: Ich hab mit Ana, die Chefin bei DIH, drüber geredet. Sie hat sich mit mir hingesetzt und richtig viele Ideen gehabt, was ich alles machen könnte. Und das tat gut! Aufgaben haben und mit ihr und ihrer Kollegin Tjaša immer enger zu werden, macht mein Arbeitsleben schön.
Ich fühle mich aber auch sonst nicht mehr einsam. Maja und ich haben inzwischen gemeinsam eine Matratze und ein Regal geschleppt, Witze gerissen, über Ängste gesprochen und Pancakes gemacht. Außer den Leuten, die ich schon beschrieben habe, gibt es noch drei Deutsche (zwei Erasmus-Studentinnen und eine andere ESClerin), mit denen ich gut reden, heiße Schokolade trinken und Billard spielen kann.
Das macht auch das Alleinsein wieder schön. Alleine was unternehmen ist super, aber eben nur, wenn man sich dazu entscheidet, nicht, wenn man keine Wahl hat.
Immer mal wieder passiert es mir, dass ich das, was ist, mit dem vergleiche, was sein könnte. In meinem Kopf konkurriert die Realität mit der Phantasie. In der Realität bin ich aber einfach zu phantasievoll.
Heute, am 9.1.2022, war mein einunddreißigster Tag in Ljubljana. Gestern habe ich bei IKEA Pflanzen gekauft und mit Maja die Wohnung geputzt. Die Sonne scheint.
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