Die sieben Siegel der Offenbarung
Sieben Tipps, wie dein EVS unvergesslich wird.
Seit vier Monaten bin ich zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Textes in Tschechien. Eine lange Zeit, in der man zu so manchen Erkenntnissen kommt. Aspekte, von denen ich mir damals, zu Beginn meiner Bewerbungsphase, gewünscht hätte, dass ich sie damals schon gekannt hätte.
Beim Schreiben des Untertitels musste ich schmunzeln. Man sieht beim täglichen Aufenthalt im Netz genug dieser Listen, die einem in einer zeitraubenden Galerie sagen, was man sowieso schon weiß. In diesem Fall kann es jedoch von Vorteil sein, dieses Genre zu nutzen, denn es bündelt meine Erfahrungen und sieht vielversprechender aus als ein ellenlanger Fließtext.
Die nächsten Wochen werden die heißesten sein. Nicht wörtlich genommen – in Bezug auf das Wetter etwa. Zweistellige Minusgrade waren in den letzten Tagen keine Seltenheit. Und doch muss man bereits jetzt, im tiefsten Winter, daran denken, was nach einem hoffentlich heißen Sommer auf einen zukommen wird. Im September, wenn die meisten EVS-Projekte starten, der Schulabschluss in scheinbar weiter Ferne liegt und man nicht so recht weiß, wie es weitergehen soll.
Für mich war nur klar, dass ich bestimmt nicht gleich an die Uni gehen werde. War man der zweiwöchigen Lernhölle des Abiturs doch gerade erst entflohen. Doch was machen? Ein Urlaub in Australien macht sich schlecht im Lebenslauf, beim Bund ist nichts mehr zu holen, da bleibt wohl nur ein Freiwilligendienst übrig. Nur welcher? Freiwilliges Ökologisches Jahr? Freiwilliges Jahr in der Denkmalpflege? Gibt es alles, das sind keine Erfindungen. Jedenfalls kein Freiwilliges Soziales Jahr. Warum kein Freiwilliges Asoziales Jahr? Das war ein Vorschlag, den einer meiner ehemaligen Mitschüler geäußert hat. Mallorca sei dabei das zu präferierende Reiseziel.
Schnell stand fest, dass das das Wahre nicht sein kann. Bleibt noch das Freiwillige Europäische Jahr. Die Möglichkeiten sind beinahe unbegrenzt, man kommt in der ganzen Welt unter, was an den Partnerstaaten des Programms liegt. Als dann klar war, in welchem Kontext ich das Jahr verbringen würde, begann die Suche nach Informationen.
1. Die Zunge hüten
Einen nicht wiedergutzumachenden Fehler neigt man schon zu Beginn der Planung zu machen. Man sollte Verwandten und Freunden nicht zu früh von seinem Vorhaben erzählen. Dass der Neffe, das Patenkind, der Enkel, der Cousin, der Freund, der Kumpel, der Mitschüler, der Besserwisser nach dem Abitur ins Ausland gehen wird, verbreitet sich wie ein Lauffeuer, sobald man den Kreis der Mitwisser über den Rahmen der engsten Familie hinaus erweitert. Hier sollte man den richtigen Moment abwarten und nicht voreilig Pläne herausposaunen, wenn die Sache noch nicht in trockenen Tüchern ist. Es war demütigend, bei jedem Geburtstag, bei jeder Familienfeier von allen gefragt zu werden, ob es denn schon Neuigkeiten aus dem Ausland gäbe. Man hat gerade genug mit der Schule zu tun und muss tatenlos zusehen, wie die eigene, aufwändig ausgearbeitete Bewerbung irgendwo im Nirvana Europas verschwindet, ohne gelesen, geschweige denn beantwortet zu werden. Wenn schon scheinbar keines der Projekte Interesse hat und zeigt, dann will man wenigstens nicht andauernd daran erinnert werden.
Es in der Schule vorerst geheim zu halten war zudem eine gute Entscheidung. Ich weiß es noch wie heut’. Damals im Kunstunterricht. Stille. Dann dreht sich ein Schüler um und fragt: „Was machst du eigentlich eigentlich nach dem Abi?“ „Ich gehe für ein Jahr nach Tschechien.“ Das schlug ein wie eine Bombe. Die ganze Klasse drehte sich zu mir um und hatte unzählige Fragen. Der komplette, viermonatige Bewerbungsprozess fand nebenbei, aber verborgen für meine Mitschüler statt. Und ich sah, dass es gut war. Niemand konnte mir vorher von Tschechien abraten (was im Nachhinein genug Leute machten) oder mir ihre wenig hilfreichen “Erfahrungen“ mitteilen.
Menschen mögen verschieden sein. Gerade Anhängern des weiblichen Geschlechts, die ich hier kennengelernt habe, ist der Gedankenaustausch mit einer anderen Person überdurchschnittlich wichtig. Ihnen mag es helfen, sich vorher mit einer Freundin zu unterhalten. Mich hat es bisher nur aufgehalten und von Dingen abgehalten. Man sollte die Stimme der Vernunft nicht mundtot machen, sich jedoch auch nicht zu stark auf das Urteilsvermögen Anderer verlassen.
2. Erfahrungsberichte lesen
Das klingt nach Eigenwerbung, doch das soll es ganz und gar nicht sein. Im Gegenteil. Leuten, die Interesse an einem Freiwilligen Europäischen Jahr haben, sage ich absichtlich nicht, dass ich nebenbei an einem Journal über meinen Freiwilligendienst arbeite. Ich habe den Eindruck, dass es eher abschreckt, als für den EVS zu begeistern. Nein, in diesem Fall kann ich an die zahlreichen anderen Autoren verweisen, die ebenfalls über ihr Projekt schreiben. Diese Seite ist ideal, wenn man sich über Länder und Projekte informieren möchte. Ich habe mir damals unzählige Texte durchgelesen und es hat mir weitergeholfen, einen Eindruck vom jeweiligen Land zu bekommen. Man muss erwähnen, dass bestimmte Aspekte natürlich keine Erwähnung finden. Themen, die den höchstpersönlichen Lebensbereich tangieren, werden es nie in die Berichte schaffen.
Man hat als angehender Freiwilliger selbstverständlich viele Fragen, die nach Beantwortung schreien. Im Grunde geht es letzten Endes immer um einen selbst. Inwiefern man eine Erfüllung der eigenen Erwartungen erfährt, ob man zurechtkommt, was man lernt oder auch verlernt. Indem man die Erfahrungen Anderer erfährt, erspart man es sich, eventuell den gleichen Fehler zu begehen. Zudem ist in der Zeit vor dem Freiwilligendienst geprägt von Gefühlen wie Fernweh. Das Lesen hat in dieser Hinsicht eine Doppelrolle. Während es auf der einen Seite ein Multiplikator dieser Gefühle ist, ist es auf der anderen Seite der Ruhepol, der einem wieder zu verstehen gibt, wie das Leben fernab der Heimat eben tatsächlich ist.
3. Prioritäten festlegen
Sie sollten sich fragen, was Sie eigentlich möchten, vorhaben und bezwecken mit einem solchen Auslandsjahr. Die Gründe mögen so vielfältig sein wie die Menschen, die sie haben. Es können ehrliche oder vorgeschobene Gründe sein. Zwei Ebenen gibt es. Was man vorgibt, zu wollen und was man wirklich will. Anfangs hört man sie noch in den höchsten Tönen sprechen. Mittlerweile wich dieses Denken einem Pragmatismus. Selbstverwirklichung, da befinden wir uns schon in den Tiefen der Philosophie. Die Ambivalenz von Egoismus und Altruismus. Wichtig ist, sich ein Bewusstsein darüber zu verschaffen, warum und weshalb man einen Freiwilligendienst machen möchte. Das eine fragt nach dem Motiv, das andere nach dem Zweck. Muss denn alles einen Zweck haben? Abseits des Wunschdenkens leider schon. Ob es die zwei Wartesemester für das angestrebte Traumstudium sind, die akademische Pause nach bestandenem Universitätsabschluss oder auch die ungeplante Arbeitsunterbrechung nach einer Kündigung. Anfangs wird einem nicht sofort ersichtlich, welche wahren Gründe aus den nebulösen Aussagen der Mitfreiwilligen zu extrahieren sind. Sie glauben nicht, was für Menschen man alles kennenlernt. Auch für mich hat es einige Vorteile. Wollte ich doch vor dem Studium noch einmal durchatmen, Kraft tanken, Kraft aufbauen. Ein Jahr im Sinne des Sports, der so lange zu kurz kam. Die Entnahme aus den Mühlen der Gesellschaft, der Versuch des selbstverantwortlichen Lebens. Aber auch die Entfernung aus Deutschland, die Erfahrung des Erfahrens einer neuen Umgebung.
Und doch hätte es auch ganz anders kommen können. Ich war mir damals nicht bewusst, wie folgenreich die ein oder andere Entscheidung wirklich war. Prioritäten steuerten von Anfang an die Richtung an, in die es gehen sollte. Land oder Projekt? Was war mir wichtiger? Das Land war es. Im Plural. Die Länder. Infrage kamen Kandidaten aus Nordeuropa. Island, Norwegen, Finnland. Eine gute Infrastruktur könnte ich dort erwarten. Ich würde sprichwörtlich dort leben, wo andere Urlaub machen. Zwar zum großen Teil ältere Leute im Rahmen einer Kreuzfahrt, doch nicht zuletzt auch Abenteurer der jüngeren Generation. Als dann lange nichts kam, vergrößerte ich den Kreis auf benachbarte Länder. Wenn es mir in Finnland gefällt, warum dann nicht nach Estland gehen? So ging es weiter, Dänemark kam mit rein und auch ein Exot wie Russland, dann jedoch nicht mehr als nordeuropäisches, sondern ostasiatisches Ziel. Daraus wurde nichts. Tschechien war eine der letzten Optionen. Und doch bin ich zufrieden. Zugegeben, es gibt Länder, denen gegenüber ich eine deutlich ausgeprägtere Affinität aufweise, zudem es sich nicht gut macht, auf die Frage der Tschechen, warum man ausgerechnet deren Land gewählt hat, zu antworten, dass es der letzte Ausweg war, jedoch ist mein Projekt wie maßgeschneidert für mich und wiegt die angenommenen “Nachteile“ wieder auf.
Man sollte abwägen, ob man lieber im Traumland als Putzfrau oder im unbekannten Land in einer Traumposition arbeiten möchte. Überzeichnet natürlich, doch mit wahrem Kern. Es ist nicht verkehrt, eine Vorauswahl an Ländern zu treffen, doch am Ende sollte immer das Projekt zählen. Ansonsten würde man viele interessante Stellen kategorisch ausschließen. Ein Land, gegenüber dem man eine starke Animosität hat, sollte man selbstverständlich trotzdem nicht wählen, doch was man selbst als Deutscher über manche Länder weiß, ist teilweise erschreckend wenig. Tschechien ist Prag, Bier und billig, wenn man manche Leute nach ihren Assoziationen fragt. Auch von Russland wurde mir abgeraten. „Warum kein vernünftiges Land?“, hieß es. Viele Freiwillige zieht es nach Großbritannien, Frankreich oder Spanien. Da kennt man die Sprache, die Städte und Strände. Es verführt, sich Altbekanntem wieder zu widmen. Man kann es keinem verübeln, doch verpasst man so einiges. Wäre ich je in meinem Leben nach Tschechien gereist? Wohl kaum. Darum würde ich jedem Bewerber raten, am besten erst gar nicht darauf zu achten, wo die Projekte stattfinden. Ich kann schon mal Entwarnung geben: Nordkorea ist kein Partnerland.
4. Adressen notieren
Sobald man ansprechende Projekte gefunden hat, sollte man nicht zögern und sich zumindest die Kontaktdaten der Organisation aufschreiben. Nichts ist zeitraubender als die Datenbank der EU stundenlang zu durchforsten auf der Suche nach einem bestimmten Projekt, das sich gut angehört hat. Am besten macht man sich Notizen zu den Projekten, sodass man nachher noch aussortieren kann, sollten es je zu viele Projekte sein, wobei ich anmerken muss, dass es nie verkehrt ist, ein paar Projekte “zu viel“ zu haben.
5. Quantität vor Qualität
Raten Sie mal, bei wie vielen Projekten ich mich schlussendlich beworben habe. Fünf? Zehn? Zwanzig? Nicht weniger als 26 waren es. Es erscheint pervers und doch folgte diesen Bewerbungen nur in den seltensten Fällen eine vielversprechende Antwort. Manche Projekte gibt es gar nicht, manche haben den Platz schon besetzt, die meisten antworten gar nicht. Ein großer Fehler war damals, es vor allem auf die Qualität der Bewerbungen abzusehen. Auf Englisch bewirbt man sich in der Regel. Beinahe jedes Wort wurde überprüft. Dann, als ich mit meinem Latein am Ende war, wurden sie an meine Tante weitergereicht, die ein nochmals erheblich besseres Englisch spricht als ich. Da merkt man, wer sich mit Fernsehsendungen und wer mit Literatur fortgebildet hat.
Als die Bewerbungen dann in einem lupenrein perfekten Englisch vorhanden waren, wurden sie rausgeschickt. Nach Norden, Osten, Westen, Süden, in alle Himmelsrichtungen. Zumindest gegen Ende. Was war nicht alles mit dabei. Malta, Ungarn, Frankreich und viele andere “Notländer“. Erstaunlich ist, dass die allgemein als fortschrittlich geltenden Länder wie Island, Norwegen und Dänemark bei der Beantwortung der Bewerbungen deutlich unsauberer arbeiten als allgemein als unprofessionell abgestempelte Länder wie etwa solche in Osteuropa verhalten. Ich wartete Monate und nichts kam. Außer die nachfragende Verwandtschaft, das alte Leid. Als dann irgendwann im Hochsommer eine Nachricht aus Dänemark kam, dass sie mich leider nicht nehmen können, war ich natürlich untröstlich.
Nach 26 Bewerbungen wird sich doch einer erbarmen, oder? Einer war es in der Tat. Und auch nur einer: Tschechien. Ein Projekt, das ich erst über eine Rundmeldung für dringende Projekte bemerkte. Sport, Schule, Sportschule. Perfekt. Beworben mit – zugegeben – einer überhaupt nicht personalisierten Standardbewerbung, zudem aus Zeitgründen in meinem Abiturs- und nicht im fehlerfrei-eleganten George-Orwell-Englisch meiner Tante. Ist es nicht ein wenig zynisch, dass ausgerechnet eine solche Bewerbung eine Zusage bekommt. Zwar nicht direkt, aber doch absehbar. Spätestens, als ich beim Bewerbungsgespräch, von dem ich dachte, dass es nur eine Informationsveranstaltung sei, fragte, ob es die Möglichkeit gäbe, vor Ort Sport zu machen, war die Sache gegessen.
Verkomplizieren Sie die Dinge nicht! Bombardieren Sie Europa mit Bewerbungen. Wobei, dieses Wort hat in den letzten Jahren eine gewisse negative Konnotation auferlegt bekommen. Dann eben anders: Machen Sie sich in Europas Organisationen bekannt! Dabei stets mit dem Credo, den Fokus auf die reine Zahl der Bewerbungen zu legen. Ein Mindestanspruch an Qualität sollte gewahrt bleiben, aber bleiben Sie Realist.
6. Anforderungen deuten
Von den eigenen Vorstellungen wissen wir nun genug. Auch die Organisation hat selbstverständlich ein paar konkrete Anforderungen an den Bewerber. Aus den Projektbeschreibungen, die in der Datenbank zu finden sind, wird man meist nicht schlau. Opaker könnten diese nämlich kaum sein. Es liest sich wie ein Standardtext, der auch von jedem anderen Projekt verwendet werden könnte. Die obligatorischen Vokabeln hie und da: „Zusammenarbeit“, „international“, „Partizipation“, „Chance“, „Erfahrung“, „Menschenrechte“. Das klingt nach viel und ist doch meist nur Fassade für ein eigentlich ganz harmloses Projekt, in welchem man eben nicht in den heiligen Krieg gegen rechte-Menschen und für Menschen-rechte zieht, sondern morgens um sieben aufsteht und über die Tempora in der englischen Sprache referiert.
Man muss schon ganz genau hinschauen und beurteilen, was denn die Organisation von einem verlangen könnte, welche Kompetenzen gefordert sind. Hierbei kann es in alle möglichen Richtungen gehen. In meinem Fall war der Sport eben primär mit weiteren Elementen wie dem Sprachunterricht. Man muss sowohl was in den Beinen als auch im Kopf haben. Zum großen Teil haben die Projekte einen sozialen Bezug. Ab und zu trifft man Ausnahmen wie ein Mädchen, das in Frankreich in einer politisch tätigen Organisation ist oder ein Ungar, der nach seinem Geschichtsstudium nun in einem Museum als Freiwilliger arbeitet. Viele Projekte widmen sich dem sozialen Sektor und dort vor allem den Bereichen Jugendarbeit und Arbeit mit Behinderten. In diesen Feldern sind dann auch die entsprechenden Fähigkeiten gefragt. Dass man eben den Umgang mit diesen Leuten nicht scheut und eine gewisse Empathie empfinden kann. Jedoch muss auch angemerkt werden, dass die Organisationen keine fertig studierten, ausgebildeten Bewerber erwarten können. Deshalb sollte man auch hier einen guten Mittelweg finden. Man muss einschätzen, was die infrage kommende Organisation für Vorstellungen von einem künftigen Freiwilligen hat und ob man diese erfüllen kann. Meist sind diese Anforderungen gar nicht so schwer zu erfüllen. Man darf sich nicht hineinsteigern und sollte die eigenen Chancen realistisch kalkulieren. Ich habe im Gespräch mit Interessierten festgestellt, dass es eine tief sitzende Verunsicherung gibt. Nach Tschechien zu gehen ist mutig. Man ist Opfer und Täter zugleich – historisch zumindest, muss nun viele Jahrzehnte nach dem Geschehenen einen neuen Dialog suchen und sollte nie die Englischkenntnisse kleinreden.
7. Geduld, aber keine Naivität
Im besten Fall kommt etwas zurück. Ob es eine Zusage ist, hängt davon ab, ob die bilateralen Anforderungen deckungsgleich sind. Man selbst hat nicht unbedingt die Auswahl wie nach einem Informatikstudium, wo man von der Wirtschaft mit Kusshand genommen wird. Um sich ein möglichst großes Feld an Möglichkeiten zu schaffen, ist es auch nötig, inflationär Bewerbungen zu schreiben und an den Mann zu bringen, wobei die Mitarbeiter dort fast ausschließlich weiblich sind. Für mich war es damals in Ordnung, nur die eine Stelle zu haben. Ich musste sie nehmen, wollte aber auch und nun bin ich in einem Projekt, das passender kaum sein könnte. Ein Fatalist würde sich wohlfühlen. Man hat nur begrenzten Einfluss, doch das hält einen davon ab, das Gewöhnliche zu tun und öffnet einem Geheimtüren, die zuvor nur unverdächtige Bücherschränke waren.
Allerdings kam die Zusage erst risikoreich spät. Zwar kurz nach meiner Bewerbung, aber man muss bedenken, dass die Bäume schon wieder grünten, als die Zusage ins Haus flatterte. Die Bewerbungen für die “Wunschländer“ wurden bereits in der Vorweihnachtszeit verschickt. Es kam lange nichts, bevor ich mit den weiteren Bewerbungen begann. Ich war zuversichtlich, hatte den Glauben in die europäische Bürokratie noch nicht verloren. Was blieb mir anderes übrig? Geduld ist gut, zumal ich kein geduldiger Mensch bin, doch wenn sie dazu neigt, zur Naivität zu verkommen, sollte man die Reißleine ziehen. Naivität verbindet. Uns Jugendliche, treffen wir doch so zahlreiche Entscheidungen, die wir später bereuen, zwar mit dem Wissen darüber, jedoch der Hoffnung, dem Akt der Verdrängung, dass es schon irgendwie funktionieren würde. Ist jedoch bis zum Bewerbungsschluss noch keine Zusage in Sicht, wird die Luft langsam dünn. Man überlegt, hofft weiter auf eine Lösung, möchte die Konsequenzen nicht akzeptieren, ekelt sich vor der Alternative. Ausbildung, eher nicht, duales Studium? Zu spät. Studium? Ja, aber was? Irgendein Alibistudium raubt mir Zeit und anderen den Studienplatz.
Eine aussichtslose Situation? Man muss sich nur aufraffen, an den Schreibtisch setzen und nochmal von vorne beginnen. Dieses Mal nicht tiefenentspannt, sondern hastig, nervös, suchend nach einem Projekt. Wo auch immer. Der einst enge Kreis der Wunschländer wächst plötzlich exponentiell, bis er fast die ganze Erde umarmt. Martinique, eine französische Kolonie in der Karibik oder doch das unwirtliche Sibirien? In diesem Moment ist es egal und der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Falls sich aus den Wunschländern keiner mehr meldet, muss man jedoch auch dort hin. Solange man vernünftig bleibt und ein Land wählt, in dem man es auch ein Jahr lang aushält, ist die Sache jedoch ungefährlich. Nehmen wir doch wieder Tschechien als Beispiel. Es schien mir nie als besonders interessantes Land und ich wollte unbedingt die nordische Natur erleben. Nun bin ich im angeblich uninteressanten Land gelandet und bin erstaunt statt gelangweilt von unserem Nachbarn, über den wir tragischerweise so wenig wissen. Keiner würde ein solches Kleinod an Kultur gleich nebenan erwarten, zumal hier Deutschland nicht ohne Grund der Platzhirsch ist. In Tschechien ist alles im kleineren Maßstab vorhanden. Da ist es eben nicht das Schloss Neuschwanstein, das Horden an Touristen anzieht, sondern ein Schloss wie das in Náchod, wo Stadtfeste stattfinden und an dessen Existenz man sich einfach erfreut, statt sich etwas darauf einzubilden.
Wie unbedacht die Entscheidung damals war, kann ich nicht oft genug betonen. Dass es in meinem Fall die beste Entscheidung war, ist ironisch, denkt man zurück an die Stunden, die ich vor dem Rechner verbracht habe, tüftelnd an einer Bewerbung, die Anklang finden soll. Es ist kein Garant für Erfolg und auch keine Empfehlung, es so zu machen. Nur ein kleiner Hoffnungsschimmer für die, denen es gleich geht, für deren Interesse sich scheinbar keiner interessiert.
Eigentlich zeichnen sich solche Listen ja durch Kürze aus. Keine meiner Stärken, ich weiß. So wurde aus dem Ratgeber kurzerhand eine Mini-Menschheitsparabel. Es ist nun über ein Jahr vergangen, seitdem ich die erste Bewerbung geschrieben habe. Es ist viel passiert und doch steht die nächste Generation EVS, unsere Ablösung, schon in den Startlöchern. Damals ging es mir gleich wie es Ihnen jetzt gehen mag. Und obschon ich ja scheinbar altklug darüber spreche, wie es geht, so sind meine Erkenntnisse bisher auch nur kleine Schritte. Trotzdem hätte ich, als ich noch als Schüler in die Schule ging, gern über eine solche Übersicht verfügt. Nun stehe ich täglich als Lehrer, beziehungsweise Lehrerhilfskraft auf und kann es noch gar nicht glauben. Man gerät so schnell in diese unwirkliche Welt, dass man es gar nicht mitbekommt. Oft denke ich an die Zeit zurück, wenngleich gedanklich zitternd und mich selbst fragend, wie ich das damals gnadenlos durchstehen konnte. Gemeint sind die Monate, in denen unklar war, wohin es gehen würde. Nordeuropa verschwand zunehmend und neue Projekte erschienen, boten sich an, wurden glücklicherweise von mir kontaktiert und der Rest ist Geschichte. Die letzten Klassenarbeiten, die Abiturprüfungen, das waren nur noch Vorbereitungen auf das Nach-dem-Danach, denn das war vorerst der Europäische Freiwilligendienst in Tschechien. Es kam Schlag auf Schlag und man war nur noch ein Beobachter seiner selbst, sah sich von Seminar zu Seminar pendeln, in Vorfreude träumen, während man den letzten Tausender anhäuft und schließlich geht. Raus aus der Schule, aus dem Kinderzimmer, aus der Heimat hinein in eine völlig neue Welt. In die Heimat Anderer, in das Wohnzimmer einer seit langem anders genutzten Wohnung, in der nur noch die Kabel auf dem Boden von der Vergangenheit zeugen. Um dort aufzuwachen und zu wissen, dass es nun wieder in die Schule gehen würde. Man hat das Land, aber auch die Seiten gewechselt, ist nun unweigerlich in einer anderen Rolle, hat den Wandel nie bemerkt. Hat die Metamorphose nicht durchlaufen. Ist eine Raupe im Kostüm eines Schmetterlings.
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