Der linke Brexit
„Lexit“: Schon mal gehört? Ich auch nicht. Hier sind die Fakten über eine ganz andere Art, den Brexit zu denken.
Es schien kontraintuitiv: Ich habe mich in London mit einem Mitglied der „Socialist Worker Party“ unterhalten und war überrascht, dass er offen zugab, für den Brexit gestimmt zu haben. Da er nicht mit meinem Bild vom typischen Brexit-Befürworter zusammen passte, habe ich weiter nachgefragt. Wir kamen schnell in eine Diskussion und ich erfuhr, dass einige Personen, die im linken Spektrum auf der Insel aktiv sind, sich offen für einen Austritt aus der EU aussprechen. Im Juni 2016 gründete sich sogar eine Initiative von überwiegend Akademiker*innen namens „The Full Brexit“, die sich explizit für einen linken Brexit einsetzt. Wie kommt es dazu?
Schon vor dem Referendum gab es Artikel in der Zeitung der „Socialist Worker Party“, die Mitglieder davon überzeugen sollten, sich für einen linken Brexit einzusetzen. Aber was sind ihre Argumente für ein Verlassen der EU? Die Partei, die am linken Rand des linken Spektrums einzuordnen ist, spricht sich gegen die Sparmaßnahmen aus, die Ländern wie Griechenland, Italien und Irland von der Europäischen Union als Bedingung für finanzielle Hilfspakete auferlegt wurden.
Außerdem kämpft sie gegen die Abschottungspolitik der „Festung Europa“ - und sehen die EU in der Verantwortung. Die Tatsache, dass es bis heute kein Abkommen gibt, was Flüchtende automatisch auf die verschiedenen Mitgliedsländer der EU verteilt, wird von einem Teil des linken Flügels als Zeichen für das Versagen der EU gewertet. Die Partei ist der Meinung, dass weniger Migrant*innen aus Großbritannien deportiert würden, wenn die Wirtschaft unwiderruflich auf ihre Arbeit angewiesen wäre. Daher wäre ein eigenständiges Königreich ein sicherer Ort für Migrant*innen. Sie argumentieren weiter, dass Rechte zum Schutz von Arbeiter*innen nicht von der EU vorgeschrieben werden, sondern von Gewerkschaften auf der Straße erkämpft wurden und deswegen auch in einem eigenständigen Großbritannien weiter bestehen können.
Daher kommen sie zu dem Schluss, dass die EU überwiegend nicht die Interessen der Arbeiterklasse vertritt und ein Verbleib in der Union Komplizentum gleichkommt.
Diese Kritik ist nicht neu. Bereits in den 1990er-Jahren kam EU-Kritik vom linken Spektrum mit der Begründung, dass die EU in ihrer Grundstruktur kapitalistische Interessen vor denen der Arbeiterklasse favorisiert. Aber diese Kritik findet nun ein neues Outlet. Dazu kommt, dass in der EU der Meinung von z.B. „The Full Brexit“ nach immer mehr autoritäre und teilweise rechtsradikale Regierungen Einfluss nehmen, z.B. die Regierungen von Ungarn, Österreich oder Polen.
Außerdem wurde argumentiert, dass man den Brexit nicht einfach aufheben kann, da er demokratisch gewählt wurde. Hätte man sich gegen die Entscheidung des Volkes gewendet, hätten vor allem die Parteien im rechten Spektrum Munition gehabt, die Regierung als undemokratisch anzuklagen und der Spalt durch die Gesellschaft, der durch den Volksentscheid entstand, würde noch lange Zeit bestehen.
Ein weiteres Argument für einen linken Brexit ist, dass die Europäische Union durch Großbritanniens Wegbruch ein Warnsignal bekommen hat und in Zukunft weniger Hilfsmaßnahmen kürzen kann, ohne zu riskieren, dass andere Länder ebenfalls austreten.
Schließlich wird der Brexit von linken Kräften häufig als Rebellion des Volkes gegen das politische Etablissement gewertet. Sie begrüßen, dass politische Kräfte nun einen Anreiz haben, sich auch um die bisher von der EU-Politik vergessenen Bürger*innen zu bemühen, z.B. die Leute im industriellen Norden.
In diesem Licht ist der Brexit sogar eine Chance. Eine Chance, Dinge besser zu machen als früher und außerhalb der EU-Verordnungen neu zu denken. Aber wie sieht ein linker Brexit, ein sogenannter „Lexit“ überhaupt aus?
Die Initiative „The Full Brexit“ schlägt zum Beispiel vor, allen EU-Ausländer*innen die britische Staatsbürgerschaft zu verleihen und somit jedem zu ermöglichen, in Großbritannien zu arbeiten, der dies wünscht.
Die Partei „Socialist Worker Party“ fordert des Weiteren eine Reform der Landwirtschaft außerhalb der EU-Verordnungen, mit einem besonderen Augenmerk auf Nachhaltigkeit und Umweltfreundlichkeit. Sie werben außerdem für bessere Arbeitsrechte wie die Abschaffung aller Gewerkschaftsverbote und 10 Pfund Mindestlohn ohne Altersbeschränkung. Ein weiteres ihrer Anliegen ist ein starkes Gesundheitssystem ohne Privatisierung und ein Ausbau des sozialen Wohnen. Schließlich fordern sie ein neues Unabhängigkeitsreferendum für Schottland, damit die Bevölkerung eigenständig beschließen kann, ob sie weiterhin Teil der EU bleiben will oder nicht.
Die Idee ist grundlegend, dass mächtige linke Kräfte, wie zum Beispiel die Labour-Party, bei den Brexit-Verhandlungen kräftig mitmischen. Viele pro-Brexit Linke wünschen sich eine klare Liste an Forderungen an die Verhandler*innen, die im Sinne der arbeitenden Bevölkerung formuliert sind.
Ein großes Problem der Befürworter*innen dieser Position ist jedoch ihre geringe Anzahl an Mitstreiter*innen (wie sie selbst zugeben) und demzufolge fehlende Einflusskraft auf die Medien und die politische Debatte rund um den Brexit. Daher ist diese Position vielen außerhalb von Großbritannien unbekannt und rechtsradikale Kräfte dominieren die pro-Brexit Debatte. Es wird dadurch schwer, weiterhin für ein Verlassen der Europäischen Union zu argumentieren, ohne rechten Kräften damit zu stärken.
Wie man sieht, sind die Gründe, die britische Bürger dazu gebracht haben, für den Brexit zu stimmen und ihn innerhalb der dreieinhalb Jahre Verhandlungen weiter zu unterstützen, überraschend vielfältig. Es bleibt abzuwarten, ob all diese verschiedenen Interessengruppen in den kommenden Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU zu Wort kommen.
Quellen:
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1103607.neuer-anlauf-lexit-linke-fuer-den-brexit.html https://socialistworker.co.uk/art/43868/The+Brexit+that+we+want https://socialistworker.co.uk/art/44859/A+year+after+the+Leave+vote+fight+for+a+socialist%2C+anti+racist+Brexit
https://socialistworker.co.uk/art/42232/Fight%20to%20exit%20left%20after%20vote%20on%20EU%20is%20called
https://socialistworker.org/2016/06/20/why-socialists-should-support-a-british-exit
https://taz.de/Rechte-Brexit-und-die-Antifa/!5574245/
alle aufgerufen am 1.2.2020