Der lange Weg nach Hause
Es war ein sonniger Sonntagmorgen, der Tag nach Weihnachten, welches ich im Kreise einer sehr herzlichen französischen Familie verbracht hatte...
Es war ein sonniger Sonntagmorgen, der Tag nach Weihnachten, welches ich im Kreise einer sehr herzlichen französischen Familie verbracht hatte. Mit der Fahrkarte in meiner Tasche, einem großen Rucksack auf einer Seite und meinem Arbeitsleiter Bernd, der einen Kasten Bier trug, den ich für meine moldawischen Freunde gekauft hatte auf der anderen Seite, verließ ich die WG. Wir erreichten erfolgreich den ZOB in Westberlin, fanden meinen Bus, auf dem mit großen Buchstaben „Eurolines/Moldova“ geschrieben stand und begannen mit der Verladung meines Gepäcks.
Mein Rucksack verschwand im Gepäckabteil, aber den Kasten Bier, so wies mich einer der Busfahrer im Kasernenhofton an, sollte ich in die Toilette im Innern des Busses stellen. Ich sagte „Okay“ und bat Bernd, mir zu helfen. Bernds erste Reaktion war: „Waaas?“ und ich antwortete: „Der Busfahrer sagte, dass im Gepäckabteil kein Platz mehr ist und ich deshalb mein Bier in die Toilette stellen soll.“ „Ist das ein moldawischer Witz oder so? Bier in die Toilette stellen…“ wunderte sich Bernd. „Nein, das ist die moldawische Realität“, sagte ich.
Später beluden andere Passagiere meinen Bierkasten mit einem Kinderwagen und ein paar Koffern. Ich begleitete Bernd zu seinem Auto, bedankte mich und beruhigte ihn, weil er – ein echter Deutscher, für den Bier und sein Auto Heiligtümer sind – nicht verstehen konnte, wie man Bier in der Toilette transportieren kann. Meine Erklärung war zwar für mich, aber nicht für Bernd, sehr klar: in moldawischen Bussen dient die Toilette nicht dem Komfort der Passagiere, sondern als zusätzlicher Stauraum. Erstens gibt es dann keine Probleme mit der Reinigung und zweitens können die Fahrer mehr Gepäck verladen und so mehr Geld verdienen. Moldawischer Pragmatismus.
Wenn man die moldawische Pünktlichkeit kennt – bei Hochzeitsfeiern beispielsweise werden alle Gäste für 20 Uhr eingeladen und der letzte Gast erscheint gegen Mitternacht – verließen wir erstaunlich pünktlich, mit nur drei Minuten Verspätung, den Zentralen Busbahnhof. Vor der Einreise nach Polen machten wir eine Pause, damit die Leute auf die Toilette gehen konnten. Ich stand vor unserem Bus und genoss die Natur, als ich plötzlich bemerkte, dass unser Bus anstelle eines Nummernschildes nur eine leere Fläche hatte. Dann sah ich, dass an der Innenseite der Frontscheibe mit Klebeband ein Blatt Papier angebracht war, auf dem mit blauem Edding die Autonummer geschrieben stand. Ich fragte den Fahrer, was passiert war, und er antwortete, dass jemand die Nummernschilder geklaut hatte, als der Bus auf dem ZOB stand. Versuch’ mal, ohne gültige Beschilderung vier Staatsgrenzen zu passieren – wir haben es getan!
Nachts durchquerten wir Polen und bei der Passkontrolle fragte ein Passagier den Beamten, ob es irgendwo eine Toilette gäbe, schließlich sei es ein ziemlich langer Weg: fast 34 Stunden. Der Kontrolleur war überrascht, solch eine Frage zu hören und riet ihm, doch die Bustoilette zu benutzen. In diesem Augenblick wurde ich wegen meines Biers ebendort unruhig und die Fahrer auch; aus demselben Grund. Sie könnten nämlich für die Beschneidung der Fahrgastrechte bestraft werden.
Und hier wurde ich Ohrenzeuge des nächsten Dialogs:
Erster Fahrer zum zweiten: „ Mischa, was sagen wir ihm?“
Mischa, nervös, zu den Fahrgästen und auf Russisch: „Liebe Kameraden, setzen Sie sich bitte und warten Sie ein bisschen.“
Mischa zum ersten Fahrer: „Sag’ ihm, dass wegen der niedrigen Temperaturen das Wasser auf der Toilette eingefroren ist und darum zur Zeit nicht benutzt werden kann.“
Die Fahrer hatten Glück. Der polnische Beamte war mit der Ausweiskontrolle beschäftigt, der „arme“ Fahrgast hatte keine andere Möglichkeit als auszuharren und ich entspannte.
In den ukrainischen Karpaten verweigerte unser Neoplan-Bus dann seinen Dienst. Er blieb mitten am Rand eines Feldes nahe einem Dorf stehen. Irgendwas am Motor war kaputt gegangen und das Benzin lief auf die Straße. Wir warteten zwei Stunden, während die Fahrer versuchten, den Schaden zu beheben, aber umsonst. Eine schöne Bergkette ringsum, draußen (und auch im Bus) hatten wir minus drei Grad und dazu das ununterbrochene Geschrei unseres jüngsten vier Monate alten Mitreisenden…
Die Fahrer riefen schließlich ölverschmiert irgendwo an und organisierten einen anderen Bus, der nur halb so groß wie der Neoplan war. Dieser „neue“ Bus zählte bereits acht Passagiere. Drei von ihnen fuhren nach Chisinau, um dort frisch gefällte Tannenbäume zu verkaufen. Alle Gepäckabteile waren mit Weihnachtsbäumen vollgestopft, sogar der Mittelgang war mit ihnen ausgekleidet. Wir nahmen die Hälfte unseres Gepäcks (so würde wenigstens die Hälfte zu Hause ankommen!), packten es auf die Tannen und fluteten mit unseren schon sehr müden Leibern den kleinen Dorfbus. Wir fühlten uns wie Heringe in der Fischbüchse.
Die kleinlichste und gröbste Kontrolle widerfuhr uns an der moldawischen Grenze. Die Kontrolleurin musste im Dunkeln von einem Platz zum anderen klettern, um die Ausweise einsammeln und jedes Gesicht mit dem Passbild vergleichen zu können. Menschliche Körper, Tannenbäume, verschiedene Taschen und Koffer und anstatt einer Heizung zur Erwärmung einen amerikanischen Achtzigerjahresoftporno auf dem Bordfernseher. Natürlich Gepäckkontrolle und schließlich eine zweistündige Kontrolle der Weihnachtsbaumhändler.
Nach zwei Stunden erhielten die Grenzbeamten von den Besitzern der Tannenbäume einen unbekannten Geldbetrag sowie drei Tannenbäume als Geschenk. An das, was dann passierte, erinnere ich mich nicht mehr so genau, weil ich sehr müde war. Noch sechs Stunden bis Chisinau und zusammen mit zwei Männern musste ich die Gepäckstütze bilden. Nach drei Stunden kauften die Jungs neben mir in einem Nonstop-Geschäft moldawischen Hardcore-Schnaps, und die wackersten Passagiere waren, als wir drei Stunden später in Chisinau ankamen, volltrunken und glücklich.
Wie aus dem Nichts tauchte im Bus plötzlich auch etwas zu essen auf, zwei Plastikbecher wurden organisiert und statt „Zum Wohl!“ rief man „Prosit Neujahr!“ Der Schnee auf der anderen Seite meines Fensters war märchenhaft. Ich wusste weder, in welchem Land ich war, welche Richtung der Bus nahm, noch wie lange wir noch zu fahren hatten. Alles war verschwommen: Länder, Grenzen, Menschen – alles versank im Geruch des Alkohols und der Weihnachtsbäume.
Als wir schließlich mit achtstündiger Verspätung morgens um drei in Chisinau eintrafen, erwachten alle zum Leben. Die glücklichen und betrunken Jungs boten jedem Mitreisenden unter dem Motto „Das Neue Jahr steht vor der Tür“ eine kleine Tanne mitzunehmen an, allerdings ohne deren Besitzer gefragt zu haben, aber in diesem Moment war das egal. Eigentlich war alles egal, außer einer Sache: Wir waren endlich zu Hause