Den Kopf in Gehrichtung wenden
zwischen Trauer und Freude suche ich den nächsten Zebrastreifen
„Bald werde ich gehen“, geht mir schon seit Wochen durch den Kopf. Wie schafft man es all die Dinge, die sich innerhalb eines Jahres angesammelt haben, in einen einzigen Koffer zu quetschen? Wie schafft man es, aus all den Erfahrungen ein Fazit zu ziehen? Wie schafft man es, sich von seinen Lieblingsorten zu verabschieden? Wie schaffe ich es, trotz Abschiedstrauer mit Vorfreude nach vorne zu schauen?
Meine letzten Wochen in China kann ich als gefühlsintensiv beschreiben. Abschiede sind schwer. Das Hin und Her zwischen Trauer und Freude ist anstrengend. Ich erinnere mich noch wie ich letztes Jahr tausende „erste Male“ hatte. Das erste Mal ein Verkaufsgespräch auf Chinesisch führen. Das erste Mal am Hun-Fluss spazieren gehen. Das erste Mal von Fremden nach meiner Herkunft gefragt zu werden. Nun, 10 Monate später, denke ich an letzte Male. Das letzte Mal durch meinen Lieblingspark schlendern. Das letzte Mal in meinem Lieblingscafe sitzen. Das letzte Mal den besten Burger der Stadt genießen. Und die vielen letzten Male, die ich einen Bekannten oder Freund treffe. All die schweren Abschiede.
Gleichzeitig blicke ich mit Vorfreude an die ersten Begegnungen in Deutschland, an das erste Familiengrillen, den ersten Spaziergang am Rhein, den Anblick des Doms, den ersten Besuch beim Bäcker. Dabei weiß ich, dass meine Anfangszeit zurück in Deutschland auch gefühlsintensiv wird. Zwischen all den Verabredungen mit Freunden und Familie werden sich Arzttermine, Wohnungsbesichtigung, Uni-Vorbereitung und die nächste Urlaubsplanung einfinden. Meine Pläne warten auf mich und darauf, endlich in Angriff genommen zu werden. Ich will die nächsten Punkte von meinen To-Do-Listen streichen können.
Wenn ich nun doch – an der Kreuzung zwischen Abschiedstrauer und Wiedersehensfreude – auf die Straße blicke, die hinter mir liegt. Was sehe ich? Die Bürgersteige sind voll mit Menschen. Fremde, die gemeinsam tanzen, auf der Straße essen, oder Fotoshootings abhalten. Bekannte, die mir lächelnd zuwinken und ihre Sprachkenntnisse herauskramen, um sich meinem Chinesisch/Englisch/Deutsch anzupassen. Hier und dort sehe ich einige meiner Freunde. Ihre Hilfsbereitschaft, Gastfreundschaft und Lebensfreude eint sie. Einige der Deutschlernenden laufen umher, mit deutscher Literatur unterm Arm und deutscher Musik in den Ohren. Manche summen leise „Atemlos“. Neben den Passanten fahren einige Autos. Das laute Hupen nehme ich kaum wahr. Die Taxifahrer blicken durch ihre Fenster. Ihr Blick fällt auf mich und bleibt für eine Sekunde hängen. Am Ende der Straße sehe ich einen Parkeingang. Im Hintergrund ballt sich ein großer Hügel auf. Hinter dem grünen Dickicht liegt das Meer. Das weiß ich.
Nun stehe ich hier, an dieser Kreuzung. Der Blick über meine Schulter lässt mich lächeln. Was hatte ich nicht für großartige Begegnungen!
Ich wende meinen Blick ab, drehe meinen Kopf in Gehrichtung. Vor mir türmt sich ein Haufen an Arbeit. Meine Familie, meine Freunde stehen auf der anderen Straßenseite. Sie sind in ihre Alltagsgespräche vertieft. Den ein oder anderen werde ich wohl unterbrechen müssen. Während ich mich so umschaue, fällt mir auf, dass die Luft klarer wird. Das Klima ändert sich, die Luft ist sauber. Die letzten Schritte liegen noch vor mir. In wenigen Tagen werde ich die Kreuzung überqueren. Wo finde ich den nächsten Zebrastreifen?
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