Das noch nicht gelüftete Geheimnis der Unterschicht von Dalarö
Von Menschen in der 839 und der Frage, wo sie wohl wohnen
Dalarö ist ein kleines Städtchen am Wasser, 40 Kilometer südöstlich von Stockholm mit hübschen Prinzessinnenhäusern aus bunt angemaltem Holz und einem kleinen Hafen mit einem Kiosk, in dem es neben DVDs und Brötchen auch Angelhaken und Motoröl gibt. Am felsigen Ufer thronen stolz protzige Häuser, die allen Besuchern zeigen, was man sich mit viel Geld alles leisten kann. Von der Kiespromenade am Wasser führen steile Treppen nach oben, wo noch größere Häuser dem Wohlstand dieses Landes ein Denkmal verpassen. Die Treppen werden im Winter nicht gestreut. Wer hier wohnt, der braucht keine Sozialhilfe, nur festes Schuhwerk. Könnte man meinen.
Dalarö ist die letzte Station der Buslinie 839. Gestern begegnete ich auf dieser Linie wieder Laathi, der immer in der letzten Reihe sitzt. Meist hat er graue Jogginghosen und schwarze, ausgelatschte Turnschuhe an. Laathi ist ursprünglich aus Finnland und wenn er betrunken ist, singt er finnische Lieder. Ich glaube, er ist zwischen 50 und 60 Jahre alt. Seine Haare sind grau, seine Falten sind tief und der Oberlippenbart ist ganz gelb von den vielen Zigaretten, die er an der Bushaltestelle bestimmt immer raucht. Manchmal ist er auch ganz still. Heute sang er wieder.
Als ich in Schweden angekommen bin, fuhr auch regelmäßig der Zigeuner mit dieser Linie nach Dalarö. Er ist ein Mann mit osteuropäischem Aussehen und er behauptete von sich selbst, ein Zigeuner zu sein, der sechs Sprachen beherrscht. Seine Haare kämmt er stets nach hinten und deswegen machte er auf mich immer den Eindruck, als würde er seinem Spiegelbild erzählen, er sei ein großer Gigolo. Der Zigeuner setzte sich meist neben irgendwelchen Mädels, die gerade erst erwachsen geworden sind und laberte sie voll. Und wird von ihnen konsequent ignoriert.
In seinem Blick wohnte der Ausdruck eines steten Suchens nach jenen Möglichkeiten, die ihm einen Vorteil verschaffen könnten. So ein Ausdruck, der allen warnt, sich vor ihm in Acht zu nehmen. Ich wette, der Ring an seinem Finger ist gar nicht seiner.
Einmal hat er mich gefragt, wo ich herkomme und als ich sagte, aus Deutschland, da hat er versucht mir zu erklären, dass er auch deutsch könne und ich hab ihm geantwortet, dass er auf seine fünfzehn Wörter deutsch stolz sein kann, aber dass das nicht ausreiche, um zu behaupten, deutsch zu können. Der Zigeuner ist so ein Mensch, der schon zu lange irgend etwas sein möchte und nun glaubt, dass er es tatsächlich ist.
Seit einiger Zeit tauchte er nicht mehr in der Linie 839 auf und ich hab mich schon gefragt, was aus ihm geworden ist. Irgendwann sah ich ihn am Stockholmer Hauptbahnhof die Situation verkaufen. Situation, so heißt die Stockholmer Obdachlosenzeitung.
Und in der Linie 839 fährt auch manchmal eine alte Frau mit Rollator und ungekonnt orange gefärbten Haar. Manchmal hat sie zwei unterschiedliche Schuhe an und wenn sie gut drauf ist, singt sie mit Laathi zusammen laut im Bus, obwohl sie kein finnisch kann.
Fremden Männern erzählt sie immer von ihrer unglücklichen Hochzeit und ihrer ekelhaften Ehe und ihrem armen Leben und dass ihr Sohn in Südamerika wohnt. Irgendwann hat Laathi sie angeschnauzt, so solle doch endlich mal die Klappe halten. Seitdem redet sie nicht mehr mit ihm, seine Lieder grölt sie aber immer noch.
Und da gibt es noch mehr solcher Gestalten, die an der Bushaltestelle in Haninge, einem tristen Vorort Stockholms, ihr Bier trinken, was in Schweden ein absolutes No-Go ist und so aussehen, als hätten sie keinen Job. Und alle fahren sie abends mit der 839 nach Dalarö.
Ich wohne 15 Kilometer vor Dalarö. Zwischen meinem Zuhause und der Endstation gibt es sonst nur Wald und Felder. Der Bus hält zwar ein paar Mal an, aber nur an einer Kreuzung ohne Straßenlaternen und sonst nur in der Fußnähe von Yachthäfen.
Und jedes Mal, als ich nach Dalarö fuhr, weil es da ein ganz tolles, kleines Restaurant gibt, dass nicht teuer ist und ich mit Freunden manchmal dort essen war und dort auch gute Musik im Radio läuft, jedes Mal also, als ich nach Dalarö fuhr, um einfach spazieren zu gehen, weil trotz oder wegen der schicken, im Sonnenlicht so friedlich daliegenden, teuren Häuser die Gegend sehr schön anzusehen ist, dachte ich an die Unterschichtenpassagiere der Linie 839 und fragte mich, wo um Himmels Willen diese Leute in diesem Städtchen bloß wohnen. Das ist so, als würde ein Vorstandsvorsitzender einer dicken Bank in einem Armenhaus zuhause sein – nur umgekehrt.
Irgendwo gibt es dort einen Ort, der sich den Besuchern nicht erschließen möchte, eine Stelle, wo die wohnen, die kurz vorm Vergessen werden sind, die untere Randgruppe der Gesellschaft. Vielleicht irre ich mich auch und sie wohnen den ganzen Tag in der Linie 839 und fahren einfach bloß hin und her und hin und her.