Départment 93 - Leben im Banlieue
Ich lebe in einem Banlieue. Aber was ist das überhaupt? Ist es einfach nur ein Begriff für die verarmten Vororte einer Großstadt in Frankreich mit überaus großen Migrationsanteil und sozialen Problemen oder hat es doch mehr zu bieten?
Große Kreuzung unter der Autobahnbrücke in Bondy: Migranten laufen zwischen den hupenden Autos umher, haben Schilder in der Hand, klopfen an den Autoscheiben und betteln. Doch der Mann im neuen Audi, der lässig mit Sonnenbrille und einer Zigarette im Mund telefoniert, winkt ab. Ein ganz alltägliches Bild im "neuf-trois" (Umgangsprache für 93), dem Departement 93 Seine-Saint-Denis, welches für soziale Probleme bekannt ist.
Ich lebe in einem Banlieue. Aber was ist das überhaupt? Ist es einfach nur ein Begriff für die verarmten Vororte einer Großstadt in Frankreich mit überaus großen Migrationsanteil und sozialen Problemen oder hat es doch mehr zu bieten?
Notstand in den Banlieues
Die in Frankreich als "Banlieues" bekannten Vororte entstanden, als massive Wohnungsnot nach dem zweiten Weltkrieg zum Bau neuer Hochhaussiedlungen (Grands Ensembles bzw. cités) in der Nähe der Industriestandorte führte. Die moderne Architektur der Großwohnsiedlungen sollte ursprünglich Symbol des wirtschaftlichen Aufschwungs und eines neuen Lebensstils sein, jedoch verlor sie schnell an Attraktivität. Bauliche Missstände, sowie infrastrukturelle Mängel infolge einer strikten Trennung von Wohnen und Arbeiten wurden schnell sichtbar. Wer es sich leisten konnte, zog in die Einfamilienhausgebiete im suburbanen Raum oder in die Innenstadt.
Größtenteils bezogen Einwanderer insbesondere aus den ehemaligen französischen Kolonien in Nord- und Subsahara-Afrika (Algerien, Marokko, Tunesien, Kamerun, etc.) die leer stehenden Wohnungen. In den 1970er Jahren führten die Ölkrise und Desindustrialisierung zu hoher Arbeitslosigkeit unter den Vorstadtbewohnern, weshalb sich die Banlieues rasch zu einem Auffangbecken für die sogenannte Problembevölkerung entwickelten. Seit den 1980er-Jahren ist es in den cités wiederholt zu (Jugend-)Unruhen gekommen, die im Oktober und November 2005 einen Höhepunkt erreichten. Diese Unruhen waren bzw. sind eine Folge sozialräumlicher Ausgrenzung, infrastruktureller Mängel und politischer Vernachlässigung. Spätestens seit den Terroranschlägen in Paris 2015, als Islamisten, die in den Pariser Banlieues aufwuchsen, im Namen ihres Glaubens mordeten, ist auch Religion zu einem der Hauptkonflikte geworden.
Die Konzentration sozioökonomischer und städtebaulicher Probleme bleibt trotz massiver staatlicher Maßnahmen charakteristisch für die Situation der Banlieues. Laut einem Bericht der Nationalen Beobachtungsstelle kritischer Stadtteile (Rapport ONZUS 2011) war die Arbeitslosenquote in den von der Politik als Problemgebiete ausgewiesenen Vierteln (Zones urbaines sensibles - ZUS) im Jahr 2010 mit 20,9 Prozent doppelt so hoch wie im nationalen Durchschnitt. Die durchschnittliche Jugendarbeitslosenquote lag im selben Jahr bei 41,7 Prozent (23,2 Prozent im nationalen Durchschnitt). Ein Drittel der Bevölkerung lebte 2009 unter der Armutsgrenze und auch das Bildungsniveau liegt deutlich unter dem nationalen Level. 53 Prozent der beschäftigten Jugendlichen besaßen im Jahr 2010 nur den niedrigsten Schulabschluss. Diese Statistiken zeigen auf, welche Aufgaben vor allem Arbeits- und Bildungsmarkt in Frankreich zu bewältigen haben.
Den Staat als Feind
Durch die vorhandenen sozioökonomischen Probleme leiden die Banlieues auch unter einer gezielten Stigmatisierung als "Problemviertel", "Ghetto" oder "sozialer Brennpunkt". Diese Stigmatisierung führt dazu, dass die räumliche Konzentration sozialer Probleme selbst zur Ursache für Ausgrenzung und Benachteiligung geworden ist. Die Bewohner der Banlieues bekommen deshalb Probleme, da sie auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Wohnungssuche außerhalb dieser Viertel diskriminiert werden. Solche Diskriminierungen betreffen insbesondere die Migranten, welche mehr als 50% der Vorstadtbewohner stellen. Die Banlieues sind somit ein Sinnbild für die gescheiterte Integration Frankreichs geworden. Das Integrationsversprechen Frankreichs besteht jedoch darin, die Gleichheit aller französischen Bürger im Staatsbürgerschaftsrecht und den staatlichen Institutionen zu garantieren – unabhängig von sozialen, religiösen, ethnischen oder territorialen Unterschieden. Angesichts der Diskriminierungen, Stigmatisierung und sozialräumlichen Ausgrenzung in den Banlieues kann der Staat dieses Versprechen aber nicht einlösen. Das führt zu Frustration und Aggression bei vielen Einwohnern, da eine Diskrepanz zwischen den versprochenen Werten und der täglich erlebten Ausgrenzung herrscht. Dies erklärt auch, warum sich die Gewalt der Jugendlichen bei den Ausschreitungen insbesondere gegen staatliche Institutionen wie Schule oder Polizei richtet. In der Öffentlichkeit wird dann die Krise der Vorstädte oft auf die ethnische Herkunft oder Religiosität der Bewohner und damit verbundene Problemlagen zurückgeführt, so dass die Gesellschaft immer mehr enteint. Konsequenz dieser Stigmatisierungen sind wiederum weitere Diskriminierungen, Rassismus, aber auch das Erstarken islamischer Subkulturen. Die radikalen Islamisten sehen in den frustrierten und hoffnungslosen Jugendlichen neue Anhänger für ihre Sekten, welche alle den Staat als Feind ansehen. Genau so war es bei den Terroranschlägen von Charlie Hebdo und Bataclan, als sich junge erwachsene Vorstadtbewohner dem IS anschlossen.
Hoffnung und Vorbilder
Doch natürlich sieht es nicht überall in den Banlieues so aus wie beschrieben. In den Vorstädten leben auch viele Familien der Mittel-und Oberschicht, welche sich ein Haus mit Garten gekauft haben, um den Trubel von Paris zu entkommen. Außerdem steigen die Mietpreise in Paris immer weiter ins Unermessliche, wodurch viele Menschen gezwungen sind, sich am Rande von Paris niederzulassen. Dadurch wirken die Banlieues teilweise sogar sehr vornehm mit den vielen Einfamilienhaussiedlungen und typisch französisch mit bunt blühenden Pflanzen und Blumen. Daran merkt man wie schnellebig und kontrastreich das Leben in Paris und den Vorstädten ist. Das Zusammenleben der vielen verschiedenen Kulturen in den Banlieues eröffnet zudem eine Vielfalt an kulinarischen Spezialitäten: auf den regelmäßigen Märkten findet man zum Beispiel marrokanisches Fladenbrot, portugiesische Gewürze oder tunesische Fleischbällchen "Kefta".
Auch ein Blick in die Schulklassen ist interessant. Zwar gibt es auch hier viele Probleme, jedoch ist ein gemeinsames Lernen mit Schülern, welche alle verschiedene Wurzeln haben, sicherlich nicht die schlechteste Möglichkeit, schon im Kindesalter viel über die Welt zu lernen. Viele Jugendliche sind ehrgeizig, glauben an sich und ihre Ziele. Ein Vorbild zu haben, welches einen vorantreibt, ist in den Banlieues ganz normal. Im "neuf-trois" tragen viel Jungs das Trikot vom Fußballstar Kylian Mbappé. Frankreichs Fußball-Wunderkind bringt Hoffnung und Stolz in seinen Heimatort, die Pariser Vorstadt Bondy. Der heute 19 Jahre alte Mbappé mit kamerunischen und algerischen Wurzeln spielte einst in einem Fußballverein in Bondy, bevor er entdeckt wurde und seine Profi-Karriere ihren Lauf nahm. Er gilt bei seinen Anhängern als extrem bodenständig und reif für sein Alter, da er der Stadt finanziell half, als er einen neuen Fußballplatz für die Kinder und Jugendlichen erbauen ließ. Außerdem spendete der jetzige Weltmeister seine ganze Prämie an Organisationen, die kranken und behinderten Kindern kostenlosen Sportunterricht organisieren. Im "neuf-troi" ist er deshalb in aller Munde und besucht regelmäßig seinen alten Club. Ob es die Musik, der Sport oder ein anderes Hobby oder Interessensfeld ist, wofür sich die Jugendliche in den Banlieues engagieren und einsetzen, solange sie an ihr Ziel glauben, scheint alles möglich.
Quellen:
WDR Doku: Von Charlie Hebdo bis Bataclan - Frankreichs verlorene Jugend
https://www.stern.de/fotografie/d%C3%A9partement-93--das-leben-in-den-betonbauten-vor-paris-7071770.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Banlieue
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