„Curious“ – Eine Reise ins vertraute Unbekannte
Christiane Gronenberg, 18, Preisträgerin
Ort: An einer Nervengabelung im hinteren Bereich meines Zwischenhirns Zeit: August des Jahres 2004, abends
Hektisch eilt ein gutes Dutzend Angstkobolde an Confidence und seinen Freunden Herrn Immerdoch und Fräulein Lust vorüber. „Was hat die denn getreten?“ „Confi, hast Du's etwa noch nicht mitbekommen?“, erwidert Fräulein Lust mit dem für sie typischen Belehrungs-Tonfall, „Es ist eine akute Gefühlsverwirrung eingetreten. Vor etwa zwei Stunden.“ „Es handelt sich um Entscheidungsfindung.“ ergänzt Herr Immerdoch. „Na das ist ja nix Neues ...“ Confidence zuckt die Schultern. „Ist aber wohl ein bisschen wichtiger dieses Mal. Es geht um den Sommerurlaub.“ Confidence schreckt auf. „Oha. Ich verstehe... Wie ist denn so der Stand der Dinge momentan? Du weißt doch immer sofort Bescheid Immerdoch.“ „Na ja, also ...“ „Los, rück schon raus!“ „Nun ... na, du hast sie ja eben mit eigenen Augen gesehen, die Angstkobolde. Und dort vorne versammeln sich gerade ein paar von diesen Anhängern der ‚Lieber-Nicht-Bewegung’. In der vereinen sich neuerdings sogar die Radikalen.“ „So Typen wie Prejudice und die alte Schabracke Mona Misstrauen, du weißt schon ...“ Fräulein Lust verzieht das Gesicht in der Erinnerung an die letzte, unangenehme Begegnung mit den erwähnten Personen. Confidence winkt ab. Selbstsicher schaut er sich im Gewusel der Leute um, bis er sich schließlich grinsend wieder seinen Freunden zuwendet. „Keine Panik Ihr beiden. So viele sind das nun auch wieder nicht da vorne. Und spätestens wenn Hope und Risk auftauchen, wird's sich zu unseren Gunsten wenden. Die beiden haben auch gerade Nachwuchs bekommen.“ „Wie heißt der Spross denn?“ „Curious.“
Vorsichtig lasse ich den hölzernen Deckel sinken und die Seiten des Instruments hallen ein wenig nach. Ich bücke mich und schiebe den Hocker zurecht. „Geht's denn noch auf große Reise?“ höre ich die vibrierende Stimme meiner Klavierlehrerin neben mir. In kurzen Zügen erzähle ich ihr von der überraschenden Gelegenheit, doch noch ins Baltikum fahren zu können. Sie klappt entschlossen den dicken Terminkalender zu. „Na, dann nimm mal auf jeden Fall Kaffee und einen guten Weinbrand für deine Gastfamilie mit. Die sind da doch alle so schrecklich arm.“
Der Weg von der Dusche durch den Flur in unser Zimmer reicht völlig aus, um meine Füße neu einzudrecken. Klar, denke ich, die Zimmertür schließend, das hat nichts mit den litauischen Verhältnissen zu tun. Dieser Dreck liegt auch auf deutschem Fußboden. Aber ein bisschen anders ist es schon, gib es zu. Ich schaue mich um. Und muss mir Recht geben. Schmale, brüchige Betten. Schwärzlicher PVC – er war wohl mal rotblau kariert. Unter den blätternden Blumen- und Mustertapeten der bröckelnde Putz. Ja und? Ich mag all das. Ja, verdammt, ich genieße es geradezu. Diese „anderen Verhältnisse“ lassen mich doch das Gefühl von „Ausland“, „Reisen“ und „Neu erleben“ erst richtig spüren. Das ist es doch, weswegen ich so oft es geht meinen Rucksack packe und erneut meinen Heimatort verlasse. Ich fahre schließlich nicht weg, um woanders das Gleiche wie Zuhause zu erleben. Ich will doch das Andersartige! Ich will doch ... – Ist ja schon gut. Message angekommen. Und trotzdem: Eigentlich kann ich mir sogar vorstellen, für eine wirklich lange Zeit in einer Umgebung wie dieser zu leben. „Ja“, lacht es in mir, „glaub' ich dir sofort. Momentan schon, als junger Mensch, wenn du hier nur deine Bude hast und draußen die Freunde auf dich warten. Sicher, dass du hier auch deine Kinder groß ziehen wolltest?“
Am Nachmittag treffen die meisten von uns sich in einer orientalischen Bar. Der Anlass ist das Basketballspiel Litauen - Puerto Rico. Es läuft schon, als Ieva und ich ankommen. Der Fernseher ist leider so klein, dass ich es zu anstrengend finde, zuzuschauen. Eigentlich möchte ich auch gar nicht. Es ist so wunderbar – unsere lachende, in verschiedenen Sprachen brabbelnde Gruppe aus freudigen, jungen Menschen. Auf dem Tisch stehen eine Wasserpfeife und die üblichen Getränke: das lokale Bier („Svyturys“), Cola und Cocktails. Ich genieße es, die anderen wieder zu sehen und zu hören, was sie den Tag über unternommen haben. Mir dabei bildlich vorzustellen, wie Stefan – kulturell hoch interessiert – mit weit aufgerissenen Augen durch die Altstadt läuft und zu allem Fragen stellt, die wohl nicht mal ein ausgebildeter Fremdenführer beantworten könnte. Und die hinterher hechelnde Agna erst recht nicht. Nun, die meisten waren allerdings shoppen. Natürlich gewinnt Litauen. Dass ich mich darüber freue, liegt an der ansteckenden Siegeslaune unserer Litauer. Auch Ieva ist plötzlich total aus dem Häuschen und auf dem Heimweg hopst sie zufrieden neben mir her. Sie bemerkt meine Verwunderung über ihre Begeisterung für dieses Sportereignis. Dann erzählt meine litauische Freundin von der letzten Basketball-Weltmeisterschaft, als die litauische Mannschaft ganz unverhofft in das Finale kam. Zusammen mit den USA. Ich beginne, Ieva zu verstehen und schmunzle. „Stell sie dir nur vor, die Amerikaner“, jauchzt sie, „Wie sie Chips essend, völlig baff vor ihrem Fernseher da drüben in Ohio oder Alabama sitzen, den Atlas raussuchen und rufen „Where the fuck is Lithuania?“
Wohlig erschöpft strecke ich meine Glieder von mir und lasse meinen Kopf entspannt in das weiche Kissen fallen. Es vermischen sich der Geruch der Bettwäsche und meiner geseiften und gewaschenen Haut; ich genieße das Ungewohnte und leicht Fremde darin. Es lässt mich in diese neue Wohnung erst richtig einziehen, in die schützende Atmosphäre eintauchen. Ein Knacken der Holztreppe verrät mir, dass Ieva zurückkommt. Sie erscheint mit einem Tablett, von dem sie Teller herunternimmt und neben unser Bett auf den Parkettboden stellt. Sie quartiert sich im Schneidersitz neben mich und reicht mir eine Tasse dampfenden, grünen Tee. Zufrieden mampfen wir unser Nachtmahl: Sahnetörtchen und Weintrauben. Ieva fragt, wie mir der Abend gefallen hat. Nickend erwidere ich: “Pretty good.“ Da brauche ich nicht lange zu überlegen. Nur vorher runterschlucken. Die Bilder der letzten Stunden rauschen in meinem Kopf, und mit einem Mal wird mir bewusst, dass auch die Musik des Abends immer noch in mir spielt. Musik, wie sie auch in Deutschland gerade „in“ ist. Die Getränke waren auch die üblichen. Dazu tanzende, junge Leute. Glückliche Gesichter. Also eigentlich genauso wie bei uns zu Hause. Na ja, und irgendwie überhaupt nicht.
Robert und Jollita kommen auf mich zu, ich habe hinter der Kasse auf sie gewartet. „Das ist so verdammt billig hier.“ kommentiert Robert seinen Einkauf. Jollita lacht:„ Ha! Warte nur! Wenn wir auch Euro haben, alles wird genauso teuer wie in Deutschland!“ „Ja, die Preiserhöhung ist ein echter Nachteil für euch beim EU-Beitritt.“ „Nicht so gut, stimmt schon.“ Leicht zuckt sie die Schultern und lacht weiter.
Verloren stehe ich in den Türrahmen gelehnt und schaue links und rechts in den langen Flur hinein. Hin und wieder läuft irgendwer aus einem Zimmer in ein anderes. Was machen die bloß den ganzen Nachmittag über, frage ich mich. Mir ist zumindest schrecklich langweilig, stelle ich fest. Im gleichen Moment geht schräg gegenüber eine Tür auf und Inga erscheint. Mein Gesichtsausdruck ist wohl so alarmierend, dass man mich gar nicht ignorieren kann und Inga kommt sofort zu mir herüber. Ihr liebes, fragendes Lächeln beantworte ich recht knapp mit der präzisen Stellungnahme: “I'm just bored.“ „Oooooh!“ entgegnet sie mit weit geöffneten, entsetzt blickenden Augen. Mütterlich legt sie mir eine Hand auf den Unterarm und schiebt mich in mein Zimmer. Na, sagt sie, das sei ja wohl kein Problem, da könnte man Abhilfe leisten und ein bisschen quatschen. Wir lassen uns auf die Betten fallen und sofort beginnt Inga einen Smalltalk. In der nächsten Viertelstunde entwickelt sich ein recht typisches Gespräch über Schule, Studium und Zukunftspläne. Nicht nur das Thema ist typisch. Auch das, was Inga mir dazu über sich selbst erzählt. Denn sie plant, wie fast alle anderen Litauer unserer Gruppe auch, nach den zwölf Jahren Schulzeit auf jeden Fall an eine Uni zu gehen. Vielleicht sogar nach Deutschland. Schließlich hat Litauen selber auch gar nicht so viele Universitätsstädte zur Auswahl. Das Plaudern mit Inga ist wirklich unterhaltsamer als meine vorigen zwei Stunden. Aber jetzt spüre ich eine Unruhe zwischen uns; eigentlich möchte Inga wohl lieber wieder zurück zu ihren Freundinnen und ich hätte nun Lust, mal bei den Jungs vorbeischauen. Als Inga von jemandem gerufen wird, springt sie sofort auf und sagt:“ I'm back in a minute.“ Natürlich wissen wir beide, dass unser Gespräch nun beendet ist. Auch ich stehe auf und nehme den Zimmerschlüssel vom Nachttisch. Zögere einen Moment. Da ist etwas in mir. Ich spüre es. Ach so – Zufriedenheit.
Auf der Rückfahrt sitzen Ieva und ich nebeneinander, beide in den Sitz versunken, die Knie an die Vorderreihe gelehnt. Meine Augen bleiben an dem Schild „Vorsicht beim Aussteigen“ hängen und ich bedeute Ieva mit einer Kopfbewegung und einem erstaunten Blick meine Verwunderung über die Erkenntnis, in einem deutschen Bus zu sitzen. Sie nickt nur. Ihr Gesichtsausdruck ist einer von denen, die ich noch häufiger sehen werde. Ein leichtes, bemühtes und irgendwie etwas trauriges Lächeln, das sagt: „ Ja klar, so ist das hier nun einmal.“ Ja, so ist es tatsächlich. Litauen hat keine eigene Automobilindustrie und die ausgemusterten deutschen Wagen landen im Baltikum. Ich blicke aus dem Fenster. Mein Gefühlszustand torkelt irgendwo zwischen Stolz, Betroffenheit und Scham. Darunter ein Gedanke, eine Stimme, die murmelnd fragt, warum ich mich plötzlich so unwohl fühle. Ja, genau. Warum eigentlich? Fühle ich mich etwa deutsch? Seit wann identifiziere ich mich mit Mercedes Benz und VW? Etwas später auf derselben Fahrt erzählt mir Ieva freudig, dass Eltern in Litauen seit kurzem „Geld für jedes Kind“ bekommen. 50 Litas, das sind knappe 20 Euro. Für Ieva bedeutet dieser Beschluss der Regierung einen wichtigen und symbolischen Schritt hin zu einem gerechten Sozialstaat. Sie ist stolz darauf. Ihre Hände und der Stimmfall verraten es mir. Dennoch entscheide ich mich dazu, ihr nicht die Tatsache zu verheimlichen, dass deutsche Eltern wesentlich mehr Geld vom Staat für ihre Sprösslinge erhalten. Wie erwartet, verschwindet der Glanz aus ihren Augen. Ich versuche, mir ihren Gesichtsaudruck vorzustellen, wenn ich jetzt noch von „Zahnersatzzahlungen“ oder „Wegkostenpauschale“ erzählte.
Hinten im offenen Fenster sitzt Tadas und raucht. Dieses Bild von ihm – halb in der Nacht, halb im Zimmer auf unserer Party, mit einer Zigarette in der Hand und dem breiten Grinsen sobald sich unsere Blicke treffen – ich habe es tief in mir gespeichert in dem Moment, als ich den schmalen Raum betrat. Und obwohl alle anderen anwesenden Personen geringere Distanzen voneinander trennen als uns beide, habe ich das Gefühl, wir sprächen dennoch die klarste und offenste Sprache in dieser einen Sekunde Augenkontakt. Auf einem der vier kleinen Holzbetten erdrängle ich ein bisschen Sitzplatz und lehne mich an die Wand. Kurze Zeit später taucht wie erwartet Tadas auf und quetscht sich irgendwie neben mich. Gemeinsam beobachten wir schweigend das laute, bewegte Geschehen vor uns. Eine wohlige Freude breitet sich in mir aus, als ich gewahr werde, dass unsere Gruppe trotz der ungünstigen Voraussetzungen eine wirklich nette Zimmerparty zustande bekommen hat. In der Mitte drängeln sich ein paar Tanzbegeisterte und bewegen sich zu der Musik, die aus der provisorisch aus Discman und Computerboxen gebauten Musikanlage ertönt. Mitgebrachte CDs gibt's jede Menge. Trotzdem werden wie jeden Abend nur eine litauische Popband und ein bisschen Salsa gespielt. Die Deckenbeleuchtung ist schrecklich hell. Und ausgerechnet dieses Zimmer ist das einzige auf dem gesamten Flur ohne abblätternde Tapete; stattdessen grelle, weißgetünchte Wände, die das Licht noch weiter reflektieren. Das neu beginnende Lied ist der Lieblingssong der Litauer. Wieder diese besagte Popband. Die Litauerinnen springen alle auf und motivieren die deutschen Jungs zum Mittanzen. Ihre Begeisterung ist tatsächlich unheimlich ansteckend, das bemerke ich jeden Abend wieder. Ich freue mich für die Jungs, sie genießen es bestimmt, von den Mädchen auf die „Tanzfläche“ gezogen zu werden – wie oft passiert ihnen das wohl in den deutschen Diskos? Tadas und ich schweigen weiterhin. Tanzen wollen wir nicht. Das Beobachten dieser glücklichen Menschen vergnügt uns. Dann beugt er sich zu mir herüber und hebt die Hand an den Mund um gegen die Musik ansprechen zu können. „You understand what they are singing?“ „No, really no idea.“ muss ich ihn enttäuschen. Tadas muss schon grinsen, bevor er es zu Ende gesagt hat: „It's snowing, it's snowing.“ Wir lachen. Und irgendwie kann ich gar nicht mehr aufhören. Der Refrain, zu dem unsere Freunde da gerade wie die Besessenen abtanzen, ist also nicht nur musikalisch gesehen, sondern auch noch vom Text her alles andere als geistreich. Egal. Doch der wahre Witz dieser Situation wird mir erst auf der Rückfahrt nach Deutschland bewusst, als ich mich im Reisebus sitzend an den Abend dieser Party erinnere. Da entwickelte sich doch tatsächlich eben dieser eine Song mit dem Titel „Es schneit“ zum Camphit schlechthin – Wir haben drei Wochen strahlenden Sonnenschein gehabt.
Ort: Irgendwo weiter hinten in meinem Zwischenhirn Zeit: Vier Wochen später
„Haha!“ schallt eine triumphierende Stimme durch die Weiten der Gehirnwindungen. „Ich hab's doch gewusst! Haha!“ Die meisten Leute bleiben erschrocken stehen und schauen sich suchend nach dem Ursprung des lauten Gelächters um. Ein paar erkennen die Stimme von Confidence.
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