Couchsurfen in Paris
Auf der letzten Station meiner Sommerreise lernte ich Mathilde kennen.
Paris war nun schon die letzte Station meiner Interrailreise. Hinter mir lagen bereits sechs bereiste Länder, in denen ich Freunde besucht, couchgesurft und das Leben genossen hatte. Nichts würde da noch mithalten können. Dachte ich. Bei der letzten Zugfahrt malte ich mir die kommenden zwei Tage aus. Ich würde wieder auf einer fremden Couch übernachten, die einer Gastgeberin gehörte, von der ich fast nur den Namen kannte. Mathilde.
Bald darauf drückte ich das Klingelschild eines typischen pariser Wohnhauses im zwölften Arrondissement. Begrüßt wurde ich von einer zierlichen Französin. Ich sei herzlich willkommen und solle mich wie Zuhause fühlen in ihrer kleinen Dachgeschosswohnung. Nach kurzer Verschnaufpause machten wir uns auf den Weg zur Metro. Wir fuhren ein paar Stationen, liefen ein paar Straßen entlang und erreichten den Canal Saint-Martin. Hunderte Menschen treffen sich jede Woche hier, um zu picknicken und auf das Wochenende anzustoßen. So auch Mathilde und ihre Freunde. Man erzählte, lachte und trank. Im Anschluss gingen wir ins „Point-Emphere“, wo ausgelassen zu merkwürdiger Musik getanzt wurde.
Mich beeindruckte Mathildes typische pariser Art. Sie wirkte trotz ihrer zerbrechlichen Statur so stolz und unabhängig. Offensichtlich legte sie Wert auf ihr Äußeres, jedoch zeichnete sich dies nicht durch ein aufwendiges Styling und ein starkes Markenbewusstsein aus. Sie trug chicke Sommerkleider aus kleinen Boutiquen und hatte einen natürlichen Stil. Auch ihre Lebenseinstellung inspirierte mich. Als Studentin in einer Hauptstadt lebte sie bewusst und alles andere als luxuriös, legte dafür aber großen Wert auf die Qualität des Essens, ihrer Kleidung und der Zeit, die sie mit Anderen verbrachte.
Mathildes Leidenschaft: klassische Literatur und zeitgenössische Kunst. So kam es, dass wir am nächsten Tag „Contemporary Art“ Ausstellungen besichtigten bis uns die Füße schmerzten. Mir wurden Künstler vorgestellt, die mir bis dahin unbekannt gewesen waren, wir dokumentierten Streetart und aßen die besten Falafel Paris’. Mit Blick auf den glitzernden Eiffelturm ließen wir den Tag ausklingen.
Am Folgetag überreichte Mathilde mir am Busbahnhof eine Schachtel Macarons aus ihrer Lieblingspatisserie und verabschiedete sich mit den Worten: “Dies ist mein kleines Abschiedsgeschenk für dich. Ich hoffe dir hat die Zeit hier gefallen.” Im Bus ließ ich die Stationen meiner Reise Revue passieren. Ich durfte mich glücklich schätzen, von so lieben Menschen wie Mathilde aufgenommen worden zu sein. Alle hatten mich für ein paar Tage an ihrem Leben teilhaben lassen und dazu beigetragen, dass ich nun so glücklich und dankbar auf die vergangenen drei Wochen zurückblicken konnte. Würde ich die gerade erst kennengelernten Freunde irgendwann wiedersehen? Ich hoffte es sehr!
Drei Monate später: der 13. November 2015. Terroristen richteten in Paris ein Blutbad an. Sie zielen auf den Alltag unserer offenen Gesellschaft. Innerhalb weniger Stunden wird unschuldigen Menschen das Leben genommen, verlieren Angehörige ihre Liebsten und ist die Stadt nicht mehr dieselbe. Was geschieht scheint mir unbegreiflich. Steht doch gerade die Metropole Paris für den Genuss des Lebens in vollen Zügen. Sofort muss ich an Mathilde und ihre Freunde denken. Waren auch sie an diesem Freitagabend ausgegangen? Es wäre gut möglich, dass sie sich zu der Zeit der Anschläge an einem der Tatorte befanden. Ich schreibe Mathilde, dass sie sich doch bitte melden solle und spreche ihr mein Beileid aus. In den Tagen darauf erhalte ich keine Antwort.
Dann, am Dienstag endlich eine Sms: Mathilde habe das Wochenende im Norden Frankreichs verbracht. Hart sei es gewesen, in ihren Stadtteil zurückzukehren. Aber ihren Freunden ginge es gut. „We will continue to drink, love and enjoy life…!!! Bisous de Paris.“