Cobh - Eine Reise in die Vergangenheit
Cobh oder Cove oder Queenstown ist ein geschichtsträchtiger Ort. Viele Menschen, die aus Irland ausgewandert sind, haben in Cobh zum letzten Mal irischen Boden unter den Füßen gehabt, bevor sie an Bord eines der Auswandererschiffe gestiegen sind.
Cobh. Hafen. 11. April 1912.
Menschenmassen strömen zum Kai. Dicht gedrängt sind sie alle da: Frauen in aufwendigen Kleidern, behandschuhten Händen und bemerkenswerten Hüten. Männer in feinen Anzügen, Zigarren rauchend stehen sie in der aufgeregten Menge, elegante dunkle Hüte in den Händen haltend. Sie haben gerade erst das noble Hotel am Marktplatz verlassen, um das Spektakel mitzuverfolgen. Mittendrin in den Massen sind einfache Arbeiter in bester Sonntagskleidung oder staubiger Arbeitskluft und dreckige, barfüßige, Fangen spielende Kinder, deren Lachen glockenhell durch die Straßen schallt. Alle sind versammelt für das große Ereignis. Die Stimmung ist ausgelassen, erwartungsfroh. Selbst der Nieselregen kann die unbändige Euphorie nicht dämpfen. Der salzige Geruch des Meeres liegt in der Luft, ein leichter Wind trägt das Stimmengewirr der wartenden Menge hinaus auf den Atlantik.
Sieh nur, ein kleiner Junge in abgenutzten Hosen drängelt sich mit seinen spitzen Ellenbogen nach vorn zur Kaimauer, ungeachtet der Flüche, die er dafür erntet. Nun steht er in der ersten Reihe, schaut erwartungsvoll und sehnsüchtig über das blaue Wasser die Ferne. Ein anderes Kind zupft quengelig am Rockzipfel der Mutter, weil es nichts sehen kann und nicht versteht, warum die Mutter so traurig ist und herzzerreißend weint. Der Vater redet mit brüchiger Stimme von Abschied, baldigem Wiedersehen in einem anderem Land, einem besseren Leben und Liebe. Er drückt dem Jungen noch schnell ein Geldstück als Erinnerung in die Hand. Dann geht er schweren Herzens davon. Dort drüben steht eine Gruppe junger Männer, die in letzter Minute noch lautstark um die heiß begehrten Tickets feilschen. Da, der Bursche mit der schrägen braunen Kappe auf dem wilden braunen Lockenkopf hat eines ergattert. Er springt vor Freude mit einem aus tiefstem Herzen kommendem Jubelschrei hoch in die Luft, drängelt sich rücksichtslos durch die wartende Menge zu seinen Freuden und seiner Familie durch. Eine letzte Umarmung, ein letztes Versprechen, Briefe zu schreiben. Die Mutter versucht schluchzend vergeblich, die Tränen zu unterdrücken, die ihr wie Wasserfälle in die Augen schießen. Dann ist auch er weg, der braune Lockenkopf. Verschwunden im flachen Gebäude der White Star Line, zusammen mit 122 anderen Passagieren. Bereit in Cobh, die Zubringerboote zu besteigen, bereit für das größte Abenteuer seines Lebens. 79 von den vermeintlich glücklichen Passagieren werden nie wieder Festland unter den Füßen spüren, nie wieder die salzige Luft eines Hafens einatmen, nie wieder freudestrahlende Feste mit Familien und Freunden feiern können. Vier Tage später werden sie erfroren oder ertrunken sein und mit unzähligen anderen ihr letztes stilles Grab auf dem tiefen Meeresboden finden. Doch das ahnt in diesem Augenblick niemand. Alle sind beschäftigt. Die letzten Vorbereitungen laufen auf Hochtouren. Am Hafen werden von emsigen Helfern noch die tausende von Briefen, die wichtige Nachrichten, kleine Geschenke oder Geburtstagsglückwünsche enthalten, auf die Zubringerboote geladen. Sie werden ihre Empfänger nie erreichen ...
Endlich! Ein lautes Dröhnen ertönt und majestätisch eskortiert von zwei kleinen Booten erreicht die legendäre RMS Titanic die kleine Stadt Cobh im Süden Irlands. Ihr Anblick ist atemberaubend. Vier Schornsteine schmücken das stolze Schiff und versprechen eine schnelle Fahrt. Die Titanic – das sicherste Schiff der Welt, nahezu unsinkbar. Ausgerüstet mit Schwimmbecken, Fitnessraum und dem Besten, was die Zeit zu bieten hat. An Bord Festgesellschaften in erwartungsvoller Stimmung, im Luxus schwelgende Mitglieder der höchsten Gesellschaftskreise, Schriftsteller, deren neusten Werke für immer in den Fluten verloren sein werden, einfache Menschen, die jahrelang für einen Heimurlaub in Irland gespart haben und nun wieder zurück nach Amerika reisen, Auswanderer, die auf ein besseres Leben hoffen, Abenteurer und blinde Passagiere, deren Namen nie erfasst wurden, in keinen Listen auftauchen und deren Schicksal ungeklärt bleiben wird sowie unzählige Arbeiter, die in den entscheidenden Stunden heldenhaft ihr Leben opfern und bis zur letzten Minute unter dramatischen Umständen schuften werden, um Elektrizität und überlebenswichtiges wegweisendes Licht in den letzten Stunden zu ermöglichen, um Menschen zu retten – bis zwei Minuten vor dem endgültigen Untergang.
Doch das ist die Zukunft. Heute, an diesem 11. April, herrscht Feierlaune und Abschiedsstimmung vor. Da, der unscheinbare Mann dort drüben, Frank Browne, macht noch schnell ein paar Fotos, bevor das eindrucksvolle Schiff den Hafen majestätisch wieder verlässt. Es sollen die letzten Bilder sein, die die Titanic zeigen. Die letzten Bilder, die diese Momente festhalten.
Ja, so könnte es gewesen sein, damals 1912. Ich stehe am Hafen in Cobh, versuche das ganze Geschehen vor mir zu sehen. Wie groß mag sie wohl gewesen sein, die Titanic? Welch großer Kontrast war ihre imposante Erscheinung zu den kleinen Häusern dieses beschaulichen Örtchens hier? Was mögen die Menschen gedacht und gefühlt haben? Waren sie traurig? Erwartungsvoll? Aufgeregt? Nur wenige Tage später waren über 1500 der ca. 3327 Menschen an Bord tot. Atem, für immer erloschen, Träume für immer zerstört. Da steht es noch, das Gebäude, wo die letzten Passagiere zugestiegen sind. Dort drüben ist das Hotel, wo die feinen Gäste übernachtet haben, dort oben auf dem Hügel ist die wundervolle Kathedrale. Sie grüßt schon von Weitem. Dort wurden 1912 Gedächtnisgottesdienste für die Opfer abgehalten.
Ich bin hier umgeben von Geschichte. Die Straßen sind ruhig, kaum jemand ist unterwegs. Es regnet. Das ist also Cobh oder Cove oder Queenstown. Drei Namen für ein und dieselbe Stadt. Von hier aus verließen zwischen 1848 und 1950 über 2,5 Millionen Immigranten ihre Heimat. Hier standen sie, haben zum letzten Mal mit ihren Füßen Heimatboden berührt.
Angefangen hat alles mit Gefangenen, die unter widrigsten Bedingungen nach Australien verschifft wurden. Nicht viele von ihnen überlebten die dramatischen Überfahrten mit den gefährlichen Stürmen. Dann kam die Hungersnot. Nicht ein Jahr, nicht zwei Jahre, nein drei Jahre hintereinander, von 1846 bis 1848, konnten fast gar keine Kartoffeln geerntet werden. Das war eine unvorstellbare Katastrophe, waren Kartoffeln doch ein Hauptnahrungsmittel und nun verfaulten sie in der Erde. Für viele verzweifelte Menschen bestand der einzige Ausweg in der Auswanderung.
Symbolisch für all die Immigranten steht es dort drüben am Hafen, das Denkmal der Annie Moore. Mit gerade einmal 17 Jahren reiste sie mit ihren beiden Brüdern 1891 als erste Irin von Cobh zu der zentralen Einwanderersammelstelle auf den Ellie Islands in die USA. Wenn man das bedenkt, scheint es in der heutigen technologisierten Gesellschaft mit den vielen schnellen Kommunikationsmöglichkeiten geradezu lächerlich zu sein, ein im Ausland gelebtes Jahr als mutig zu bezeichnen. Was müssen die Menschen damals gefühlt haben, wenn sie wussten, dass sie vermutlich nie wieder kommen würden und ganz allein, teilweise fast noch im Kindesalter, so eine große Reise zu unternehmen? Welche Gedanken gingen ihnen durch den Kopf als sie zu Fuß, vielleicht in der Kutsche, später mit Eisenbahnen nach Cobh fuhren, um das wartende Schiff zu besteigen? Was erzählte man den Kindern? Dass es eine Urlaubsreise ist? Dass sie Oma und Opa nie wieder sehen würden?
Es ist still in Cobh. Ein kleines Schiff legt ab. Dunkler Rauch durchzieht den Himmel. Das Wasser ist ruhig. Irgendwo da draußen standen sie, die großen Auswandererschiffe, die Titanic und all die anderen. Und irgendwo da draußen, nicht weit von Cobh entfernt war es, als am 7. Mai 1915 eine neue Hiobsbotschaft die Welt erschütterte. Ein U-Boot des Deutschen Reiches hat die MS Lusitana angegriffen. Das Schiff sinkt in weniger als 20 Minuten. 1198 Menschen, die wenige Tage zuvor in Amerika noch fröhlich in Kameras gewunken haben und scherzend an Bord gingen, starben. Nur 761 konnten durch Fischerboote dramatisch gerettet und im Hotel in Cobh vorläufig untergebracht werden. (Quelle: http://www.deutsche-schutzgebiete.de/lusitania.htm; 1.12.2013.) Es ist ein ganz anderes Gefühl, im Geschichtsunterricht nur die Fakten zu lernen, dass dieser Angriff der Grund für den Kriegseintritt der USA war, als hier zu stehen und zu wissen: Da draußen war es. Da ist es geschehen. Dort ist so viel Leid passiert. Und wenn dann in einer kleinen Videosequenz noch Bilder der Menschen gezeigt werden, erscheint alles so realistisch. Zahlen bekommen Gesichter, Fakten ein persönliches Schicksal.
Es wird Abend. Dunkelheit legt sich über Cobh. Dort hinten sind die Lichter eines Schiffes. Die Luft ist frisch. Ich stehe am Bahnhof, warte auf den Zug, den Zug zurück nach Cork, den Zug zurück in die Gegenwart.