Britischer Wahlkampf mit der Liberal Youth
Young Liberals campaigning against Brexit.
Heute ist es soweit, die Briten strömen ins Wahllokal und machen ihr Kreuz oder eben auch nicht. Seit Monaten versuchen die zwei Seiten im EU-Referendum Wähler von sich und ihrer Meinung zu überzeugen. Der Wahlkampf ist bunt und reicht von TV-Debatten und medialer Berichterstattung zu stimmungsvollen Reden und gezieltem Anwerben von Wählergruppen. Genau von letzterem will ich berichten.
Die liberalen Jugendorganisationen Europas gemeinsam im Wahlkampf
Als Mitglied der Jungen Liberalen (JuLis) hatte ich letztes Wochenende die Möglichkeit gemeinsam mit weiteren JuLis, den britischen Liberal Youth (LY) und der schwedischen Liberala ungdomsförbundet (LUF) den Wahlkampf hautnah mit zu erleben. Die LY hatte die beiden Schwesterparteien nach London eingeladen, um gerade in der letzten Woche mit Verstärkung Vollgas zu geben.
Nach unserer Ankunft donnerstagabends mussten wir von dem schrecklichen Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox erfahren. Nachdem die 41-jährige Mutter zweier Kinder eine Wahlkampfveranstaltung am Nachmittag verlassen hatte, wurde auf sie geschossen und eingestochen. Sie erlag ihren Verletzungen nach wenigen Stunden im Krankenhaus. Aus Trauer und Respekt für sie setzten sowohl Brexit-Befürworter als auch -Ablehner den Wahlkampf auf unbestimmte Zeit aus, was ich persönlich für die richtige Entscheidung halte. Die Stimmung war trübe und gedämpft, alle waren sehr erschüttert. Der politische Mord war der absolute Tiefpunkt im Wahlkampf, die Stimmung zuvor war unverhältnismäßig aufgeheizt und emotional. Jo Cox war eine starke Stimme in der „Remain“-Kampagne und setze sich außerordentlich für syrische Flüchtlinge, vor allem die Kinder, ein. Unter ihren Kollegen war sie sehr geschätzt und geachtet, sie bedauern den Tod ihrer Hoffnungsträgerin.
Der Wahlkampf
Freitags ging es um den Hintergrund und die angewandte Strategie im EU-Wahlkampf und generell um den britischen Style des Wahlkampfes.
Das letzte Referendum Großbritanniens liegt nicht lange zurück. Erst vor zwei Jahren entschieden die Schotten über ihren Verbleib im Vereinigten Königreich. Im Gegensatz zu diesem Referendum müssen die „Remainer“ vor allem gegen teils irrationale Ängste und Sorgen der Menschen argumentieren, welche „Leave“ noch schürt. Erschwerend kommt hinzu, dass die Meinungen über die EU nicht nur einen Riss durch das Land ziehen, sondern auch durch die Parteien. David Camerons Tories stehen zur Hälfte im anderen Lager, was seine Popularität und Glaubwürdigkeit mindestens angekratzt hat. Auch die Medien setzten mehrheitlich auf „Leave“, einige Titelseiten habe ich beigefügt. Zudem haben die „Leave“-Wahlkämpfer zwanzig Jahre einen Vorsprung darin, gegen die EU zu hetzen. Das „Common Market Referendum“ 1975 brachte die Diskussionen um die EU nämlich nicht zum verstummen. Alles in allem, eine schwierige Ausgangslage für die „Remain“-Seite.
In Deutschland haben die Parteien keinen Zugang zum Wählerverzeichnis, in Großbritannien ist das anders. Der Wahlkampf basiert auf den Daten der registrierten Wähler, zu denen ständig Details hinzugefügt werden. Die Liberal Democrats erreichen ihre Wähler über Flyer, Post, eMails, Anrufe und Hausbesuche. Vor allem die letzteren beiden sind für meine deutschen Ohren etwas sehr Ungewohntes. Da die Parteien aber genau wissen, wo genau die Wähler wohnen und über Jahre hinweg versuchen Profile jedes Einzelnen erstellen, können sie sehr spezifisch agieren.
Die Idee der Hausbesuche („canvassing“, von-Haus-zu-Haus-gehen) hat mich anfangs stark irritiert. Ich möchte nicht, dass bei mir jemand unerwartet an der Tür klopft und mich entweder für eine Sekte anwerben oder mir seine politische Meinung nahe bringen will. Wir Deutschen haben diese Einstellung, dass das unser Haus ein „safe place“ ist, an dem solche Werbeaktionen zu unterlassen sind. Hier allerdings wird das „canvassing“ von den Wählern geschätzt und durchaus erwartet. Das britische Wahlsystem, das keine Listenplätze kennt, macht es für die Kandidaten auch viel wichtiger direkt mit ihren Wählern in Kontakt zu treten. Zu Hause werde ich wohl lange warten bis ein Prof. Dr. Matthias Zimmer (Frankfurts Direktabgeordneter, CDU) an meine Tür klopft.
Die Liberal Democrats konzentrieren sich auf die pro-europäisch und tendenziell pro-europäisch eingestellten Wähler. Wenn die Wahlkämpfer während der Hausbesuche oder durch anderen Kontakt solche Neigungen (es gibt eine riesige Bandbreite von pro-europäischen Kategorien zu anti und kein Interesse) feststellen können, werden sie fest gehalten und mit weiteren Daten (Was haben sie bei der letzten Wahl gewählt? Wie stehen sie zu X und Y?) in die Profile ergänzt. Diese Wähler und auch die Parteimitglieder werden durchschnittlich sechsmal über einen der genannten Wege erreicht und erhalten je nach Einschätzung verschiedene Briefe und Werbematerialien. Selbst Schilder für den Vorgarten werden verschickt.
Wenn die Parteien auf Daten basiertem Wahlkampf machen, nennen sie das „hard campaigning“ und umgekehrt heißt es „soft campaigning“. Dieses „soft campaigning“ haben wir in Form von Flyer verteilen am Samstag gemacht und ich habe das Gefühl, dass wir fast jeden Haushalt auf der Isle of Dogs in London mit Flyern versorgt haben. Während des Flyerns dachte ich mir nach jeder Hochhausstufe und bei jedem Gang zum nächsten Türschlitz: „Hoffentlich wird das die entscheidende Stimme sein“.