Brauchen wir ein neues '68? Der Konservatismus unserer Eltern
50 Jahre nachdem junge Menschen auf der ganzen Welt anfingen, gegen ihre Eltern zu rebellieren und sich zu antizipieren, scheint nun eine solche soziale Revolution wieder nötig - Angesichts von Neo-Konservatismus, kapitalistischen Weltmärkten und einer wiedererstarkenden Rechten
Während des Rumscrollens in meiner Facebook-App trifft es mich wie ein Schlag: Meine Mutter, die sonst nur Tiervideos auf Facebook teilt, postet öffentlich Videos von Alice Weidel und anderen AfD-Politiker*innen, ebenso wie rassistische und fremdenfeindliche Bilder. Auf Verständnis stoße ich mit meiner Kritik allerdings nicht, ihre Antworten klingen wie aus einer bestimmten Zeitung. An dieser Stelle wird mir schmerzhaft bewusst, dass zwischen meiner Mutter und mir Lebenswelten liegen: Nach meinem Umzug in die Stadt und dem Studium gehöre ich nun zu der urbanen Bildungselite Deutschlands, zu den Leuten mit Perspektive, die regelmäßig reisen und sich politisch engagieren. Meine Mutter hingegen, arbeitslos, alternd und auf einem kleinen Dorf lebend, sieht Deutschland ganz anders.
1968 gab es einen ganz ähnlichen Generationenkonflikt in Deutschland, nur waren natürlich die Verhältnisse damals viel extremer: Es herrschte ein konservatives Klima, in dem unverheiratete Paare nicht zusammenwohnen durften, der Vater in der Regel das Studium oder die Ausbildung bestimmte und die Polizei Demonstrationen einfach niederknüppeln konnte. Diese Kinder forderten dann von ihren Eltern Rechenschaft über die Nazi-Diktatur, setzten sich für neue Freiheiten und Demokratie ein. Und das war ein harter Kampf! Unsere Generation hingegen zeichnet sich eher durch materielle Sicherheiten, durch den leichtsinnigen Umgang mit Medien und der völligen Freiheit aus – aber haben wir uns zu lange auf diesem Komfort ausgeruht?
In ganz Europa breiten sich rechte Kräfte und neo-konservative Parteien aus, ökologisch steht es um den Planeten so schlecht wie noch nie. Eigentlich sollen wir uns als nächste Generation für Europa einsetzen, unsere Rechte einfordern und für die Umwelt engagieren, aber das tut nur eine kleine Minderheit. Und jetzt posten unsere Eltern Videos von der AfD. Haben wir nicht genug getan?
Dies ist allerdings nicht nur ein Phänomen in Deutschland – In Frankreich, in dem der Front National mit Marine Le Pen beinahe die letzte Präsidentschaftswahl gewonnen hätte, ist der Generationen-, aber auch der Stadt/Land-Konflikt und die Spannungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Milieus deutlich zu spüren. Bei meiner Recherche stoße ich auf einen Artikel des deutsch-französischen Autors Fabian Federl, der sich mit der Thematik in seiner eigenen Familie auseinandersetzt: Gerade das ländliche Frankreich schaut auf die deutsche Flüchtlingspolitik mit großer Skepsis, warum sollte ein Land freiwillig so viele Flüchtlinge aufnehmen?
Frankreich hat seine eigene, lange Kolonialgeschichte. Migration gibt es daher schon lange, trotzdem wird in Frankreich eine ganz andere Integration gelebt als in Deutschland. Gerade das macht das Land so anfällig für Radikalisierungen, für Terrorismus und für Rechtsextremismus – die Mitte bröselt. Und die vernachlässigten Regionen, gerade die, in denen früher Kohle oder Stahl abgebaut wurde, fühlen sich existenziell bedroht. Das erinnert mich sehr an meine Heimat: Stillgelegte Minen, leere Fabrikhallen und geschlossene Schwimmbäder erinnern hier noch an bessere Zeiten.
"Die Eigenschaft, Franzose zu sein, wurde zum zentralen Element der einfachen Leute und löste als solches das Arbeitersein oder das Linkssein ab." Beschreibt der Soziologe Didier Eribon. Ein inhaltsloser Nationalismus ist sehr gefährlich, weil er sich tendenziell gegen das Andere richtet und das dann nur, weil sie aus einem anderem Land kommen.
Die Entwicklungen, die zu unserem heutigen Frankreich und Deutschland geführt haben, können nicht mehr rückgängig gemacht werden. Der Post-Kolonialismus, Globalisierung und Digitalisierung sind Erscheinungen der Moderne, mit denen wir lernen müssen umzugehen. Das Zurückfallen in Konservatismus, Nationalismus und Abschottungspolitik hat keine Zukunft – diese müssen wir schon selber gestalten
Literatur-Empfehlung
Die Rückkehr nach Reims (https://de.wikipedia.org/wiki/Rückkehr_nach_Reims)
Gesellschaft als Urteil ( https://www.suhrkamp.de/buecher/gesellschaft_als_urteil-didier_eribon_7330.html)
https://www.fluter.de/wenn-die-familie-rechts-waehlt