Bienvenue en France
"Als ich eines Morgens nach vier Wochen aufwache, bin ich stolz: mein erster Traum, bewusst in Französisch geträumt." Eva_os Vorfreude auf die Zeit ihres Freiwilligendienstes wird mehr als bestätigt.
Und endlich ist es so weit: der lang ersehnte Tag steht vor der Tür… Das riesige Bündel steht bereits gepackt im von nun an für längere Zeit unbewohnten Zimmer. Hab ich auch alles eingepackt? Kann doch nicht sein, dass tatsächlich alles in einem Koffer Platz hat. Doch momentan sind meine Gedanken voll und ganz in Frankreich. Die Vorfreude ist riesengroß und ich möchte nur noch in den Zug sitzen und losdüsen!
Wenige Minuten später befinde ich mich auch genau dort und winke meinen Liebsten nach.
Am Morgen meines großen Tages stehe ich dann am Zugfenster und blicke gespannt in die Landschaft und die Zukunft, die mich hier erwartet. Pas mal! Von da an geht alles ganz schnell, nette Begrüßung von meinem neuen Chef und schon geht’s ab zu meinem künftigen Zuhause. Gespannt erkundige ich mein neues Gemach. Zum ersten Mal macht sich ein mulmiges Gefühl in meinem Magen bemerkbar. Hier werde ich jetzt also ein halbes Jahr verbringen… Ich blicke auf die Pyrenäen, die sich vor mir im südlichen Wetter gewaltig erstrecken. Mir wird bewusst, wie weit ich nun von meiner Familie und meinen Freunden entfernt bin. Doch mir bleibt kaum Zeit für Melancholie, denn sofort geht die erste Sightseeing- und Begrüßungstour los. Mehr braucht es gar nicht, um meinen Enthusiasmus erneut zu wecken.
Tarbes, das süße Städtchen der Haut-Pyrenäen, zeigt sich mit Palmen und schönen Monumenten von seiner charmanten Seite. Auch das alte Gebäude meines baldigen Büros weiß mich sogleich zu verzaubern.
Abends komme ich völlig erschöpft von vielen Infos wieder in das "Foyer des Jeunes Travailleurs" alias neues Reich Evas. Doch der Tag soll noch lange nicht zu Ende sein. Erste Kontakte werden geknüpft, bevor ich mich todmüde in mein leider hartes Bett fallen lasse.
Nach einer Menge theoretischem Blabla in Französisch, fängt dann auch sogleich die Arbeit im Freizeitzentrum an. Während den Ferien werden hier Kinder verschiedener Altersgruppen betreut. Die kleinen drei- bis sechsjährigen sind einfach nur hinreissend. Ihnen scheint auch mein sonderbarer, komischer Weise oft als englisch identifizierter Akzent nicht aufzufallen. Und da sie sowieso irgend welches seltsames Zeug zusammenlabern, das auch die anderen Animateure nicht zu übersetzen wissen, sind sie mir von Anfang an sympathisch und in mein Herz geschlossen… Aber auch mit den sieben bis zwölfjährigen freunde ich mich sofort an. Keine Frage: mit Kindern Kontakt zu knüpfen, ist überall leicht!
Umso interessanter ist es, die adulten Franzosen zu beobachten. Als erstes stechen mir ihre Bisous in die Augen bzw. in die Backen. Vor jedem Treffen müssen fünf Minuten zur persönlichen Begrüßung mit jeweiligen zwei Küsschen und Nachfrage des aktuellen Befindens eingeplant werden. Dies natürlich den zehn Minuten südländischer Verspätung hinzu zu rechnen. Das macht mir jedoch dieses Volk sofort sympathisch.
Die gewonnenen Punkte gehen aber schon bei der ersten Raucherpause wieder drauf. Schockiert stelle ich fest, beinahe die einzige Nichtraucherin zu sein. Aber ob Fumeuse ou pas, überall werde ich freundlich, hilfsbereit, sowie neugierig empfangen. Überraschenderweise bin ich als Schweizerin ein relativ unbekanntes Objekt und somit tausenden von Fragen ausgesetzt. Allerdings merke ich schnell, dass die Blondinen hier stark mit ihrem Image zu kämpfen haben. Beinahe an jeder Ecke ist ein Witz über die mit wenig Gehirnmasse Ausgestatteten zu hören. Nichts desto trotz verstehe ich mich blendend mit den Franzosen.
Den folgenden Monat arbeite ich mit den Kindern der verschiedenen Altersgruppen. Besonders profitieren kann ich von den tollen Aktivitäten der preadoleszenten Nervensägen. Mit ihnen geht’s ab zum Kayak oder zum Bowling. Keine Frage, dass da in so machen Mitanimateuren die Eifersucht zu keimen anfängt. Aber nicht nur das, sondern auch den zweieinhalb Stunden entfernten Atlantik bekomme ich zu sehen.
Neben den Kleinen, die ich rasch zum Knuddeln gern bekommen habe, ist das Treffen der Jugendlichen ein spannendes Erlebnis. Ihre Unternehmungsfreude hält sich in Grenzen, wenn überhaupt davon die Rede sein kann. Ich werde von oben bis unten abgecheckt, doch zunächst wird noch Sicherheitsabstand gehalten.
Meine Mitarbeiter erzählen mir von den Schwierigkeiten, die die Jungs des Banlieus bereiten. Erst als ich den "Verrückten", wie sie von den Erziehern liebevoll genannt werden, den Rücken zu kehre, rücken die ersten Parolen auf Deutsch heraus. Da bleibt nur noch zu sagen: „Bon courage…!“
Aber nach der Arbeit das Vergnügen… Dies bekomme ich gnadenlos zu spüren. Kaum Zeit zum Antworten meiner E-Mails oder zum Telefonieren bleibt mir. Es scheint, als wäre hier keiner von Festen abzuhalten. Von Apéros, abendlichem Flanieren von Bar zu Bar bis zu meiner ersten Teilnahme an einer typischen Hochzeit der Region. Als Liebhaber der Musik werde ich sogleich dem Direktor der Musikschule vorgestellt, der mich prompt einlädt mit seiner Bandas, was sich als Guggenmusik beschreiben lässt, an einer Hochzeit mitzuspielen. Und was tut man doch nicht alles um neue Kontakte zu knüpfen…!
Ich bin fasziniert, von der Ausdauer, die die Gäste hier beim Feiern auf offenem Feld an den Tag legen. Von Groß und Klein werde ich herzlich empfangen und in Musik, Gesang und Konversation einbezogen. Musik verbindet…
Während ich in den ersten Wochen meine Freunde und Familie immer wieder vermisst habe, habe ich mich bald schon voll und ganz eingelebt und fühle mich pudelwohl. Mein eigenes Reich ist tatsächlich zu einem Teil von mir und meinem Chaos geworden, und mein Lachen ist auch schon bald überall unwiderruflich bekannt. Nach dem ersten, noch etwas spontan gestaltetem Monat, verabschiedet sich bereits zum ersten Mal die Hälfte meiner Mitarbeiter, und mit ihnen auch mein bisheriger Alltag.
Mit dem Rentrée der Kinder in die Schulen, beginnt mein neuer Arbeitsplan. Anfangs noch krampfhaft gegen den Wortschwall französischer Erklärungen fechtend, begreife ich schnell, worum es geht. Mittags die Mäuler schreiender Kinder zu stopfen und nachher die Energiebündel zu beschäftigen und von ihren geradezu fantasievollen Bêtisses abzuhalten…
Anstrengende zwei Stunden, geprägt durch Stress und Freude, die einem geradezu die Kraft aus dem Körper saugen. Der Rest eines solchen Tages wird geprägt durch Planung von Projekten mit den Jugendlichen oder auch einfach nur durch simples, aber nerviges Kopieren… Da kommt einem jede Kaffeepause recht, obwohl man die braune, wässrige Brühe kaum Kaffee nennen kann… Erstaunlicherweise wird hier aber kein Café au lait getrunken, sondern schwarz mit einer Menge Zucker.
Als ich eines Morgens nach vier Wochen aufwache, bin ich stolz: mein erster Traum, bewusst in Französisch geträumt. Naja, vielleicht sollte ich hier noch hinzufügen, dass es sich um einen Cauchemar handelt… Aber ich bin wirklich erstaunt, wie schnell sich mein blondes Gehirn umgewöhnt hat. Mit meinem finnischen Mitbewohner Englisch zu sprechen, bereitet mir Mühe, obwohl mir diese Sprache sonst immer gut lag. Als ich aber sogar in einem Gespräch mit einem deutschen Touristen französische Wortfetzen wieder finde bin ich tatsächlich baff. Bienvenue en France… Nichts desto trotz ist das kontinuierliche Hochleistung meiner grauen Zellen sehr anstrengend.