Belgien, die Nordsee und das Müllproblem
Was hat eine Dose Jupiler mit meinem Wocheneinkauf, einem Strandspaziergang und Belgien zu tun?
Was hat eine Dose Jupiler mit meinem Wocheneinkauf, einem Strandspaziergang und Belgien zu tun?
Neulich samstags beschloss ich mal wieder, einen Strandspaziergang zu unternehmen. Ein richtiger Strandspaziergang braucht natürlich gutes Wetter und den richtigen Strand, also nahm ich die Tram ein bisschen weiter stadteinwärts, wo der Strand gepflegt und regelmäßig aufgeschüttet wird. Nun ist die belgische Nordseeküste ja nicht unbedingt der romantischste Ort, wenn man von ein paar versteckten, unbebauten Flecken einmal absieht – aber wenn man nur aufs Meer hinausschaut und die Hochhäuserfront hinter sich ignoriert, geht es schon.
Die meisten Leute, die ich kennen, finden die belgische Nordseeküste hässlich. Auf den rund 72 Kilometern die die Belgier ihr eigen nennen können, ist so ziemlich alles bebaut was man bebauen kann, und zudem kann die Nordsee nicht wie das Mittelmeer durch wild anmutende Felsformationen oder versteckte Strände in Buchten bestechen. Der Strand ist eine ziemlich klare Sache: Häuserfront, Boulevard, Sand, Meer. Zudem wirkt die Nordsee selbst durch das stürmische Wetter permanent dreckig (was sie auch in gewissem Maße ist...). Für mich allerdings hat die Nordsee ihren eigenen Charme – das wechselhafte Wetter, die im Winter oft fast menschenleeren Strände, selbst die Nähe der Häuser. Wer unberührte Natur sucht, sollte dafür halt nicht an die belgische Nordseeküste fahren.
Vor einigen Wochen – am 20. März 2016 – war wieder einmal Eneco Clean Beach Cup. Ursprünglich begonnen als eine Initiative von Surfern, die es leid waren, im Müll zu versinken, entwickelte es sich schnell zu einer größeren Aktion, an dieses Jahr 2235 Leute teilgenommen haben. Das Ziel ist es, die ganze Küste an einem Tag von dem Müll zu reinigen, den Leute dort weggeworfen haben oder der aus der Nordsee angespült wurde. Dieses Jahr wurden über sieben Tonnen Müll zusammengetragen – eine Zahl, die so groß ist, dass es mir selbst an Maßstäben fehlt, mit denen ich sie vergleichen könnte. Auch in Deutschland gibt es immer wieder solche Aktionen, und die Zahlen sind ähnlich erschreckend.
Das größte Problem – Plastik – kommt immer mal wieder als Thema in der Presse auf. Erst vor kurzem, mit der Anti-Plastiktüten-Richtlinie der EU, rückte Plastik im Meer wieder für kurze Zeit in den Fokus der Öffentlichkeit. Bilder von Meeresschildkröten, die in Plastiktüten verstrickt sind oder deren Panzer um Flaschenringe herumgewachsen sind, Kadaver von Albatrosküken mit Flaschendeckeln, Zahnbürsten, Wattestäbchen und Flip-Flop-Resten in ihren Mägen, Möwen in Fischernetze verstrickt, werden dann als Schockbilder angeführt, um der Öffentlichkeit die Problematik bewusst zu machen. Auch Mikroplastik ist ein Thema, das immer wieder für einen Artikel gut ist, weil es eben wieder direkt auf uns Menschen zurückfällt – über die Nahrungskette in den Fisch hinein, der schlussendlich auf unserem Teller landet (vorausgesetzt man isst Fisch).
Die Problematik ist bekannt, aber irgendwie bewegt sich doch nur wenig, weil es eben ein Thema ist, bei dem man so leicht auf andere weisen kann – warum soll ich als Verbraucher meinen Plastikkonsum reduzieren, wenn andere es doch nicht tun, welchen Einfluss kann meine Entscheidung schon haben? Und woher soll ich wissen, dass das wirklich meine Plastiktüte war, die diese Meeresschildkröte mit einer Qualle verwechselt hat?
Die Tüte gehört nicht mir, und damit gehört sie jedem und keinem von uns. Und die Zahlen sind so groß, dass das bisschen Müll des einzelnen Verbrauchers lächerlich dagegen wirkt (was auch daran liegt, das wir uns selten bewusst machen, wie viel Müll wir tatsächlich pro Jahr produzieren... das sind 481 Kilo pro Jahr für den gemittelten Europäer oder die gemittelte Europäerin).
Aber zurück zu meinem Spaziergang.
Die Strandreinigung lag erst einige Tage zurück zu dieser Zeit. Ich hätte also einen sauberen Strand erwarten können, tat es aber nicht wirklich. So konnten zumindest keine Hoffnungen enttäuscht werden.
Wenn man direkt an der Wasserkante entlangschlendert, findet man so einiges Interessantes, dass das Meer mit der Ebbe ausspuckt. Ich fand eine schöne Muschel, klein, in einem sanften Rosa, die ich einsteckte, um sie zuhause auf mein Fensterbrett zu legen. Außerdem fand ich jede Menge Plastik: Schokoriegel-Verpackungen, Plastiktüten, Teile von Fischernetzen, einen Verkehrskegel, nicht mehr zu identifizierende Stücke, die vielleicht ursprünglich von Zahnbürsten oder Spielzeug stammen, immer noch in grellen Farben, die ursprüngliche Form geschliffen vom Meer und Sand. Jedes Mal wieder nehme ich mir vor, eine Mülltüte mitzubringen, um all den Müll einsammeln zu können, den ich doch immer wieder finde, und vergesse es doch jedes Mal wieder. Das Paradox davon ist mir auch klar – ich stecke den Plastikabfall in eine Plastiktüte, schmeiße die Plastiktüte in den Restabfall, und am Ende landet ein Teil davon doch wieder im Meer. Schätzungen zufolge kippen wir als Spezies jedes Jahr zehn Millionen Tonnen Müll ins Meer. Ein Teufelskreis aus Plastik und Ressourcenvernichtung.
Etwa in der Mitte meines Spaziergangs fand ich die Plastikverpackung einer Palette Dosen Jupiler, wohl das gängigste unter den belgischen Bieren.
Bei meinem Wocheneinkauf den Tag davor hatte ich kurz in der Bierabteilung des Supermarktes gestoppt. Belgische Biere sind eins meiner guilty pleasures, und in Deutschland ja leider nicht so leicht zu kriegen. Wenn immer ich in Belgien bin, lege ich mir einen kleinen Vorrat an, der dann mit nach Hause kommt, aber das meiste trinke ich doch bereits in Belgien. An diesem Abend war ein Teil von mir schwach, und wollte nur schnell ein Sixpack Dosen greifen und mit nach Hause nehmen, für den nächsten Filmabend oder falls überraschend Gäste vorbeikommen sollten. Aber Dosen sind ja auch so eine Umweltsünde, und zudem in Plastik eingepackt? Ich nahm schweren Herzens Abschied von meinem Sixpack Dosen. Das nächste Mal würde ich eine größere Tasche für die Flaschen mitbringen, versprach ich mir.
Da stand ich also, einen Tag später, am Strand von Mariakerke, und starrte auf die Plastikverpackung der Dosen. Das hätte mein Plastikmüll sein können – vielleicht war es mein Plastikmüll, von einem Mal, wo ich mir dachte, dass es so schlimm wohl doch nicht sein könnte, und dass einmal ja eigentlich keinmal ist. Ich war plötzlich sehr froh, die Dosen nicht gekauft zu haben, denn das ließ meinen Ärger wenigstens nicht ganz so scheinheilig wirken: Dieser Strand war gerade erst aufgeräumt worden, und schon war wieder Müll angeschwemmt?
Ich nahm an diesem Tag keinen Müll mit vom Strand. Was mich ein wenig tröstete, war die Tatsache, dass es sich immerhin nur um Strandgut handelte, und nichts davon von Touristen stammte, die ihren Müll nicht weggeräumt hatten. Trotzdem wirkte meine Begegnung mit dem Müll noch nach – wieder einmal war mir jede Plastikverpackung in meiner Wohnung suspekt, weil ich mich fragen musste, wo diese schlussendlich einmal landen würde. Meistens hält mein Vorsatz, weniger Plastik zu kaufen, für einige Wochen an, bevor ich wieder anfange mir einzureden, dass es so schlimm ja doch nicht sein kann. Dann sind die Gummibärchen in ihrer Tüte wieder stärker als mein Umweltbewusstsein, und wieder greift die Tatsache, dass ich in den wenigsten Fällen direkt mit den Folgen meines Handelns konfrontiert werde.
Die Folgen von Plastik im Meer sind verschiedenartig, und beeinflussen das Ökosystem auf eine Weise, die wir vermutlich noch nicht einmal ganz abschätzen können. Von Mikroplastik in unserem Essen zu toten Albatrosküken, die von ihren Eltern fälschlicherweise mit Flaschendeckeln gefüttert werden oder Eissturmvögeln, die mit Plastik im Magen an unserer Küste verenden. Und Plastik ist nur eine von vielen Arten, auf die Menschen in das delikate Ökosystem Meer eingreifen.
Zurück zur belgischen Nordseeküste: Für mich sind nicht die Hochhäuser das größte Vergehen an der Umwelt. Es ist die Art und Weise, wie achtlos wir mit dem umgehen, was diese Hochhäuser überblicken und was die Mietpreise für ein Apartment in einem dieser Häuser in die Höhe treibt – das Meer, und der Ausblick auf die Nordsee. Das ist eine Verschmutzung, die auf den ersten Blick nicht so leicht erkennbar ist, und die dennoch verheerende Folgen hat.
Was kann eine Lösung sein? Die komplette Verweigerung als Konsument, das Umsteigen auf rein plastikfreie Alternativen? Utopisch. Plastik steckt in so ziemlich allem, was wir täglich gebrauchen. Ich könnte diesen Text am Computer nicht ohne Plastik tippen, meine Zahnpasta nicht ohne Plastik kaufen, keine Brille tragen. Plastikfasern sind in meiner Kleidung, die über die Waschmaschine in den Wasserkreislauf gelangen, Plastik ist an meinem Fahrrad verarbeitet, meinem Fahrradhelm, als Verpackung meiner Kosmetikprodukte und meines Essens. Einiges davon kann man reduzieren, vieles nicht. Was bleibt, ist die Hoffnung auf die internationale Politik – auf europäische Gesetzgebung wie das Verbot von Plastiktüten. Was bleibt, ist die Hoffnung auf die Wissenschaft – die Entwicklung von Plastikalternativen, oder das Vorantreiben von Projekten, die sich damit befassen, das bereits vorhandene Plastik wieder aus dem Meer zu holen.
Belgien und die Küste waren immer schon eins für mich. In Deutschland wohne ich recht weit weg vom Meer, aber hier bin ich immer nur einen Steinwurf entfernt vom Strand, und das hat mich sensibilisiert für diese Thematik, die sich allzu leicht vergessen lässt. Die Nordsee, wenn auch nicht so sexy wie das Mittelmeer oder die Karibik, ist dennoch schützenswert, und ein sensibles Ökosystem, das von unserem Umweltbewusstsein abhängig ist.
(Zwei interessante Projekte, die sich mit Müll im Meer befassen, sind einmal die Ausstellung ‚Müll im Meer geht uns alle an’ des Project Blue Sea, und ein Filmprojekt von Künstler Chris Jordan, der sich mit Plastik auf Midway Island beschäftigt hat.)
Project Blue Sea: http://www.projectbluesea.de/muell-im-meer.html
Midway Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=oBfNyq44hWM