Bahnhof Europa - Auf der Suche nach europäischer Identität
Kristin Köhler, 21, Preisträgerin
Ein Dokumetarfilmprojekt von Julia Franke und Kristin Köhler
Bahnhöfe sind Häfen, ein Ort, der keine Stätte ist. Hier verweilen die Menschen nicht, hier treffen sie zusammen, um wieder auseinander zu gehen. Alles ist möglich, das Alte liegt hinter ihnen, das Neue ist unbestimmt. Kaum ein Genuss ist darum dem Aufenthalt auf Bahnhöfen vergleichbar. Inmitten der Wüste des Alltags sind sie die Oasen der Improvisation. Siegfried Karacauer 1930
Stockholm Hauptbahnhof, Sommer 2003 Wenn Menschen sich treffen, tauschen sie sich aus. Ein Bahnhof ist das Musterbeispiel für die Vielseitigkeit dieser Begegnungen, ihrer Ausdrucksarten. Lassen Sie uns improvisieren: Man nehme ein Stück Land, unterteile es in Nationen und nach einiger Zeit verwische man die Grenzen, die Konturen. Was passiert mit den Menschen darin? Sie treffen sich, tauschen sich aus und improvisieren. Ein Jahr später erwuchs aus dem Gedanken auf dem Bahnhof ein konkretes Projekt, dessen Kern die Suche nach jener gemeinschaftlichen europäischen Identität werden sollte. Zu zweit reisten wir mit der Kamera vier Wochen durch vier europäische Städte und interviewten Studenten, Professoren, Politiker, Arbeiter, Immigranten und Schüler, um ihre Vorstellungen von Europa zu dokumentieren. Wir verbanden die Frage nach der eigenen Identität mit der nach der nationalen und mit Visionen über die Europäische Identität. Das Endprodukt ist ein Dokumentarfilm geworden, der vier verschiedene Perspektiven auf das eine Europa zeigt, sowie die Schilderung einer Identität, die diese vier Perspektiven in sich vereint.
Wenn man etwas sucht, hat man für gewöhnlich eine sehr genaue Vorstellung von dem gesuchten Gegenstand. Handelt es sich daber allerdings um ein solch unfassbares, abstraktes Konstrukt, das kaum per Definition zu klären ist, so erschwert sich die Suche ungemein. „Was ist Europäische Identität eigentlich?“ oder „Existiert sie überhaupt?“ wurden so zu den Kernfragen unserer Reise. Sie begann im Februar 2004 und dauerte einen Monat.
Unsere erste Station war Warschau. Der allererste Eindruck verband die dumpfen Erinnerungen an die alten Sowjetzeiten mit einer hollywoodähnlichen Filmkulisse. Ein glatzköpfiger, in einen schwarzen Trenchcoat gehüllter Mann erwartete uns am Bahngleis. Unser Kontaktmann. Er begleitete uns in die Unterkunft und wir vereinbarten einen ersten Termin in der Universität. Im Gespräch mit den polnischen Studenten stellten sich zwei wesentliche Inhalte heraus. Es verbindet sie ein ehrenwerter Stolz mit ihrem Land und sie sind gewillt, dieses Land aufzubauen, gen Westen zu richten und ihm zu neuem Glanze zu verhelfen. Sie sind Mitteleuropäer, zuerst Polen, dann Europäer. Doch Polen regt sich, veranstaltet speziellen Schulunterricht zur Europapolitischen Bildung, feiert Europa in einer proeuropäischen Parade und klärt seine Bürger in zahlreichen Kampagnen auf. Das ist der erste Eindruck. Der zweite ist eher eine bedrückende Ahnung. Die Stadt samt ihrer Bewohner kennzeichnet ein herber Charme. Jener bemerkenswerte Ehrgeiz wird von einer sonderbaren Melancholie überschattet. Es ist kalt und nass und das Grau der Häuserfassaden verleiht der Skyline Warschaus Tristesse. Das Land befindet sich im Aufbruch, doch auf den Straßen ist nur der Umbruch zu erkennen. Im Stadtbild wechseln sich amerikanische und westeuropäische Mode mit Pelzmänteln ab, den Überbleibseln der satten Jahre. Hier und da ragen zwischen den Kaufhausgiganten verfallene Fabrikgebäude heraus, und immer wirbt eine riesige Papptafel, getragen von ausschließlich polnisch sprechenden Jugendlichen, für Sprachschulen. Das Alte ist so präsent wie das Neue, durchwirkt es und versucht mit aller Kraft, es zu durchbrechen. Am Ende unseres Warschauaufenthaltes macht uns im Zug ein nach Deutschland emigrierter Pole darauf aufmerksam, dass es nur die Hauptstadt sei, die wir gesehen hätten. All das, was außerhalb des Zuges zu sehen sei, die unendlich weiten Felder und die von der Zeit vergessenen Gehöfte, all das sei auch Polen, die restlichen 90 Prozent. Dort sei man nicht immer auf dem Laufenden, dort interessierten einzig die Ernten und die versprochenen Agrarsubventionen der EU, die, wie er ergänzte, auch schon wieder gekürzt worden seien.
Nach einem kurzen Zwischenstopp in Berlin und jenen so typischen Bahnhofsaufenthalten reisten wir nach Schweden, Göteborg. Sollte ich dieses Land mit einem Wort beschreiben, es wäre: bunt. Die Häuser sind rot, die Flagge ist blau-gelb und die Menschen, die die neuste H&M-Mode tragen, sind offensichtlich wohlhabend. Jedenfalls lassen ihr Auftreten und die Art, sich zu kleiden, auf ein konsumorientiertes und kaufkräftiges Volk deuten. Wieder fanden wir uns in einer Schule ein und interviewten diesmal Jugendliche zum Thema Identität. In diesem Alter sind die Eckpfeiler schwedischer Identität Natur, Kneipen und die selbstverständliche Möglichkeit, ins Ausland zu gehen und, was ebenso selbstverständlich zu sein schien, zurückzukehren. Der ‚Europäer’ bleibt ein zu abstrakter Begriff, um ihn ins Alltagsleben zu integrieren. Die Lehrer sagen hier ‚Du’ zueinander. Schweden ist liberal und unabhängig. So unabhängig, dass man bei Reisen außerhalb Skandinaviens von „ runter nach Europa“ spricht. So unabhängig, dass sich selbst uns die Frage stellt, warum sich ein Land einer Gemeinschaft unterordnen sollte, wenn es allein ebenso gut funktioniert. Und würde man eine solch naive Frage weiterverfolgen, so käme man zu der elementaren Frage nach der Rechtfertigung einer gemeinsamen Identität? Die Idee der Friedenssicherung ist zwar moralisch bemerkenswert, jedoch als Argument heutzutage nicht besonders wirkungsvoll. Anscheinend ist politischer, aber vor allem materieller Nutzen ein viel wesentlicher Ansporn, sich einer Gemeinschaft zugehörig zu fühlen und dafür auch ein gewisses Maß an Selbstbestimmungsrecht aufzugeben. Diese Überzeugung scheint allerdings – laut den Ergebnissen des letzten Referendums über den Beitritt zur Währungsunion – in Schweden nur unzureichend verbreitet zu sein.
Seitenwechsel: Great Britain, Liverpool, Kensington. Wenn sich Schweden mental von Europa distanziert, so tut dies Großbritannien geografisch seit jeher. Und nach einigen Tagen Aufenthalt lässt sich dann auch seine eigentliche Orientierung erkennen: Amerika. In hautenge Kleidung gezwängt schieben sich die Hüften dieser amerikanischen Briten penetrant vor unsere Kamera. Die Farbe der Briten ist Violett, jenes schrille, beißende, avantgardistische Violett. Es ist unvergleichlich, dunkler als auf der Milkaschokoladenverpackung und mit nichts kombinierbar. Die Mülltonnen sind violett, die Schokoladenverpackung und, wenn man Gefühle malen könnte, so wären sie in Großbritanien definitiv violett. Die alte Würde der englischen Imperialmacht strotzt in den Straßen Liverpools gepaart mit der monotonen und überall gleich zu findenden Großstadteinkaufslandschaft. Es nieselt. Manchmal durchstreift einer jener altehrwürdigen, schicken Oldimertaxies die Straßen und erinnert an the old british style. Europa ist hier weiter entfernt, als man vermuten würde. An einem Abend trafen wir uns in einem Volkshochschulsprachkurs mit Immigranten aus aller Welt und baten sie, uns mit zwei Worten zu beschreiben, was Ihnen zuerst zum Stichwort Europa einfiele: „Macht, wirtschaftliche Macht und Sicherheit, Frieden.“ Und so wurde uns bewusst, dass dies die Rechtfertigung einer europäischen Gemeinschaft war, wahrgenommen aus einer Perspektive, wie sie den Europäern selbst nur schwer zugänglich ist.
Klimawechsel: Sonne in Rom. Rom ist pulsierend, organisiert und kontrolliert. Es wimmelt überall von Touristen, von fremdländischen Souvenirverkäufern und Mopeds, die durch die Straßen düsen. Überall duftet es nach Pizza, Pasta und man isst Eis. Es ist geschäftig, aber nicht hektisch. Die Sonne wärmt einem das Gemüt, erhitzt es offensichtlich des Öfteren, und der Espresso erhält diesen Zustand, bis der Rotwein am Abend für die notwendige Erholung sorgt. In Italien hatten wir die Ehre, mit dem Direktor der Europäischen Kommission persönlich zu sprechen. Doch es ist ein Jammer mit den Politikern, sie erzählen viel mit großen Worten und kleinem Inhalt. Und so lag unser Italienschwerpunkt eher auf dem Gespräch mit einem Vertreter der Jungföderalisten. Diese sind eine Vereinigung, die in ganz Europa für eine europäische Gemeinschaft eintritt. Sie sind jung, innovativ und voller Tatendrang und sie legen den Grundstein für eine gemeinsame Zukunft. Es ist, als bündele sich all die Energie der südlichen Sonne in ihrem Bestreben, die Bürger Europas von der Relevanz ihres Vorhabens zu überzeugen. Ihr Vorhaben ist ein föderalistisches Europa, ihr Vorgehen die Vernetzung und ihr Antrieb produktiver südländischer Idealismus.
Nach einem Monat kehrten wir wieder zurück, verweilten auf Bahnhöfen und tauschten uns aus. Was bleibt, ist die Annäherung an jene so oft umschriebene europäische Identität und die Erkenntnis, dass sie neben der persönlichen und der nationalen Identität existiert. Vielleicht existiert sie zurzeit nur in den Köpfen Einzelner. Doch dies wird sich ändern, und es wird Zeit, sich von dem alten Gedanken zu trennen, Identität durch Landesgrenzen definieren zu wollen. Es bleibt jedoch auch die Erkenntnis, dass jene Annäherung immer nur eine Improvisation sein wird. Denn Identität ist die lebendige Reflektion der Vergangenheit im Anblick der Zukunft. Und so wandelt sie sich, wie sich der Mensch mit jeder Begegnung wandelt.
Kristin Köhler, Leipzig 27.09.04
P.S.: Der Film, auf dem dieser Text basiert, wird voraussichtlich im Frühjahr 2005 veröffentlicht.