Alltag? Wie bitte, was?
Von Alltagsrassismus, Geistern und erfolglosem Shopping. Und, warum es niemals langweilig wird.
Ich werde häufig gefragt: „Mona, wie sieht eigentlich dein Alltag aus?“ „Ich arbeite halbtags im Büro und habe halbtags Chinesisch-Unterricht. Nebenbei kümmere ich mich um die Wäsche, gehe Einkaufen und gucke abends oft Filme zum Entspannen“, lautet meist meine Antwort.
Aber ganz ehrlich – von Alltag würde ich da nicht sprechen. Es ergeben sich oft spontane Treffen, Einladungen und immer wieder neue Eindrücke. Letzte Woche Donnerstag wurde ich zum Beispiel zu einem Gesangswettbewerb eingeladen. Gemeinsam mit einer Kollegin und Freundin, die bei den Studenten sehr bekannt und beliebt ist, wurde ich in die zweite Reihe an VIP-Tische gebeten. Vor uns saß die Jury. Die nächsten folgenden 2 Stunden hörten wir beeindruckende, quietschende, nervöse und starke Stimmen, englische, französische und koreanische Lieder. Ich freute mich sehr über die Liederwahl, zum Beispiel „Listen“ (Beyonce), „I surrender“ (Celine Dion), „Stay“ (Rihanna), „Love the way you lie“ (Rihanna), „I will always love you“ (Whitney Houston). Das Gewinnerlied war „Crazy Kids“ (Ke$ha). Nicht mein Favorit, aber ich saß ja schließlich auch nicht in der ersten Reihe.
Zum Schluss wurden Jury und Teilnehmer für ein Gruppenfoto auf die Bühne gebeten. Da kam die Leiterin der Veranstaltung auf uns zu und bat uns, uns doch dazu zu stellen. Ich musste an einen Artikel über Rassismus denken, den ich vor Kurzem gelesen hatte. Darin berichtete eine Dunkelhäutige von der Bitte ihres Chefs bei einem Gruppenfoto dabei zu sein (, mit einer Gruppe, mit der sie noch nie gearbeitet hatte), um die Multinationalität und Toleranz des Unternehmens zu verdeutlichen...
Der Alltagsrassismus bringt mich wieder zurück zum eigentlich Thema dieses Blogeintrags: Alltag, bzw. Nicht-Alltag. Letzten Samstag raffte ich mich auf und nutzte die niedrigen Ticketpreise der U-Bahn aus. Ohne Ziel fuhr ich los und stieg zuerst am Nord-Bahnhof Shenyangs aus. Ich hatte gehofft in der Nähe ein paar urige Straßen zu entdecken, erblickte leider nur Unmengen an Hochhäusern. Also fuhr ich einige Stationen zurück und versuchte mein Glück an einer Station, der Name mit „Hua Yuan“ (Blumenpark) endete. Den Park fand ich nicht, dafür spazierte ich durch ein großes Kaufhaus. Zwei weitere Stationen entfernt erstreckte sich vor mir ein kleiner Park, mitten zwischen stark befahrenden Straßen, neben dem TV Tower der Stadt. Ich spazierte einmal um einen See herum, fotografierte ein paar sympathische Männer, die Drachen steigen ließen und wurde - wie sollte es anders sein – von ein paar Damen wieder mal um ein Foto gebeten. Es war einer dieser Tage, an denen ich selber kein Foto von mir hätte machen wollen. Trotzdem erklärte ich mich zu einer Umarmung und einem „Beweisfoto“ für die Bekannten bereit.
Am Abend fuhr ich gemeinsam mit einer Freundin in die Stadt. Es war der 11.11., Singles-Day und Shopping-Day. Die Straßen, Geschäfte und Bahnen waren also voll. Nach dem Durchlaufen der Sportmall (adidas, Puma, Nike etc.), suchten wir Handschuhe. Ich wollte wirklich nur einfache Fäustlinge, aber wir wurden nicht fündig. Da sich das Online-Bestellen so großer Beliebtheit erfreut, haben die Geschäfte ihr Angebot anscheinend reduziert. Wir kauften uns zum Trost noch ein paar Snacks auf einem Markt, Walnuss-Milch und einen grünen Tee. Mit Mühe schafften wir es ein Taxi zu finden, das uns zurück nach Hause brachte - an diesem Abend bezeichnete ich mein Zimmer in der Uni das erste Mal als „zu Hause“. Der Taxifahrer erzählte uns, dass er vor Kurzem Geister auf der Straße gesehen hätte und wir deshalb abends nicht mehr vor die Tür gehen sollten. Er würde außerdem keine Passanten mit Lederbekleidung mitnehmen, weil das Unglück bringe und böse Geister anziehe. Ich musste schmunzeln. Nach halber Strecke und bezahlten 80 Yuan (~10€) wurden wir in das Taxi eines Kollegen gesetzt. Später erfuhren wir, dass dieses Taxi in die entgegengesetzte Richtung fuhr, in die wir wollten. Der Taxifahrer hatte den Namen der Universität missverstanden. Nach 1,5 h, vielen Diskussionen, 50 Yuan Aufpreis und blanken Nerven und mit kalten Füßen kamen wir endlich an. Ich war unheimlich froh, als ich endlich in meinem warmen Bett lag.
Ihr erkennt nun vielleicht, wieso es für mich keinen wirklichen Alltag gibt. Selbst eine Taxifahrt kann zum Abenteuer werden und es ergeben sich immer wieder neue schöne und weniger schöne Erlebnisse. Langweilig wird es nicht, weil selbst das Spazieren in irgendwelchen Straßen dieser riesigen Stadt spannend bleibt. Ich entdecke immer wieder neue Gerüche, beeindruckend kleine und schmutzige Läden und interessante Restaurants. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich diese Faszination innerhalb der nächsten Monate noch einstellt.