After changes we are more or less the same
Eine Reflexion: Als wer startete ich im Januar 2016 meinen EVS? Als wer kam ich wieder zurück? Kam ich als jemand anderes zurück, oder hat sich gar nichts verändert? Eigentlich ändert schon jede kleine Entscheidung einen Menschen. EVS war eine der größten Entscheidungen in meinem Leben. Was hat sich also geändert? Was habe ich erlebt?
When I left my home and my family I was no more than a boy, in the quiet of the railway station running scared
So singen Simon&Garfunkel und Mumford and Sons in dem Lied „The Boxer“. Das war mein erstes Gefühl, als ich im Januar 2016 in Rotterdam aus dem Zug ausstieg.
Mit achtzehn Jahren ist man gerade aus der Schule, gerade so erwachsen – gesetzlich zumindest, ich habe mich längst nicht erwachsen gefühlt.
No more than a boy...
„Girl“ müsste es in meinem Fall heißen, dennoch prägen diese Worte meine Gedanken während meiner ersten Stunden in einer Stadt, die mehr als 230 mal so viele Einwohner hat, als mein Heimatdorf. Zum ersten Mal betrat ich niederländischen Boden und zum ersten Mal war ich ganz allein. Zwar war ich vorher schon ohne meine Familie unterwegs gewesen, aber dann immer mit der Schule, wo meine Freunde um mich herum waren und Lehrer, die aufpassten, dass alles nach Plan lief.
In the quiet of the railway station...
Der Bahnhof war kalt, anonym. Menschen eilten umher, hatten nicht, wie ich es von zuhause kannte eine Sekunde, um einem ins Gesicht zu sehen. Es war eine hektische Ruhe, niemand unterhielt sich, jeder hastete auf sein eigenes Ziel zu. Ein buntes Treiben hatte ich mir vorgestellt und bekam das Gegenteil. Ich muss ein verlorenes Bild abgegeben haben, wie ich in der Bahnhofshalle stand, den großen, schweren Koffer fest in der Hand, eine Geige auf dem Rücken und den Rucksack vorne aufgesetzt.
Ich hatte mich auf meine Abreise gefreut, aber je länger ich wartete, desto unruhiger wurde ich. In wenigen Stunden würde ich in einer Wohnung, von der ich keine Ahnung hatte wie sie aussah, schlafen, mit Menschen, die ich noch nie im Leben gesehen hatte und sie mich auch nicht. Und das alles in einem Stadtteil, der nicht gerade für seine Vorzeigbarkeit bekannt war. Unruhe beherrschte mich. Gerade mal ein Tag zuvor hatte ich die Adresse der Wohnung erhalten und einen Treffpunkt, an dem mein Chef mich abholen wollte.
Ich wusste zu wenig, um mich abgesichert zu fühlen: Es gab verschiedene Arbeitsstellen, die im Laufe der folgenden Wochen zugeteilt werden würden. Ich würde mit sechs anderen Freiwilligen zusammenwohnen. Der Rest waren alles Unbekannte.
Drei Tage später begann mein Arbeitsalltag und somit mein EVS-Leben in Rotterdam.
Zuerst kam die Zeit des Lernens und des Zurechtfindens.
Es war seltsam jeden Abend allein zu verbringen, selbst kochen zu müssen und außer der Arbeit keine Aufgaben zu haben.
Meinen Mitbewohnern ging es da anders, sie waren viel älter als ich, hatten schon alleine gelebt und wussten mit sich selbst zu leben.
Nicht nur mein Stadtteil bereitete mir ein mulmiges Gefühl, auch das Stadtzentrum. Ich war überwältigt davon in einer so großen Stadt für lange Zeit zu bleiben.
...running scared...
Meistens lief oder radelte ich zügig zu meinem Ziel, nicht nach rechts oder links schauend. Keinen Plan zu haben, war etwas, das bei mir nicht vorkam.
Als ich mich etwas eingewöhnt hatte, suchte ich mir ein Orchester, um eine Abwechslung zum Alltagstrott der Arbeit zu haben und mich besser in die Stadt zu integrieren. Wieder musste ich raus aus meiner Komfortzone, spät abends durch die fast leere, dunkle Stadt zum Bus laufen, wo jedes Geräusch mich ein wenig schneller laufen ließ.
Mit der Zeit lernte ich die Geräusche kennen. Die Tür einer Bar, ein Restaurant, in dem gerade aufgeräumt wurde, der Wind. Ich lief langsamer, erlaubte mir mich umzusehen.
Mit dem Frühling kam der Stimmungsumschwung. Die Sonne erhellte die grauen, trostlosen Gebäude und zeigte, dass das Gesamtbild zwar grau, deswegen jedoch noch lange nicht befremdlich und kalt sein musste.
Ich begann Ausflüge zu planen und unternahm sie mit meinen Mitbewohnern. Ich atmete ruhig, lief gemächlich, erlaubte der Stadt auf mich zu wirken. Die Befremdlichkeit verblasste und wich Vertrautheit.
So schaffte ich mir ein zweites Zuhause.
After changes we are more or less the same
Plötzlich war es August und Zeit abzureisen. Wo waren die Monate hinverflogen?
Ich kam zurück, erwachsener, entspannter. Nach wie vor liebe ich meine Pläne, Zeitabläufe, Kalenderdaten. Aber die Strukturen sind weicher.
Was ich in meinen acht Monaten EVS erlebt und gelernt habe, lässt sich nicht so einfach zusammenfassen. Immer gibt es da das Nonverbale und das Paraverbale, das sich, wie der Name schon sagt, einfach nicht mit Worten ausdrücken lässt.
EVS ist ein Gefühl, ein ganz besonderes Erlebnis, das sich durch seine Strukturiertheit und auch Ernsthaftigkeit von anderen Brückenjahr-Programmen unterscheidet. Vom ersten Tag an hat man Verantwortung für seine Aufgaben, muss Entscheidungen treffen. Man kann nicht einfach aufhören, weggehen, denn dies hat eine absolute Endgültigkeit. EVS heißt ganz oder gar nicht.
Das klingt jetzt strenger, als es sollte, denn gerade die Verpflichtung, die man eingeht, ist es, was mich wachsen ließ. Das lag natürlich nicht nur an mir, sondern auch an meiner Umgebung. Ich hatte fürsorgliche Mitbewohner, die sich um mich als „das Küken“ kümmerten. Ich hatte einen netten Chef, der sich immer um seine Freiwilligen kümmerte und uns nicht nur als Arbeitskräfte sah. Auch meine anderen Arbeitsprojekte waren fordernd jedoch auf positive Art. Dem allen voran steht meine Familie, die mich immer wieder in meiner Entscheidung bestärkte und jegliche Unterstützung aufbrachte, die ich mir nur wünschen konnte.
EVS lehrte mich mein Leben in Deutschland zu schätzen. Meine Mitbewohner aus Spanien und Katalonien durchliefen das Programm, um in den Niederlanden Fuß fassen zu können, denn selbst nach jahrelangem Studium und qualifizierten Abschlüssen, hielt Spanien keine Zukunftsaussichten für sie bereit.
Wer war ich und wer bin ich jetzt?
Ich bin immer noch ich. Die Zeit der Reflexion startete für mich erst einige Wochen nach meiner Heimkehr und manchmal glaube ich, ich werde sie nie ganz abgeschlossen haben.
Im Rahmen meines Studium besuche ich Vorlesungen über Interkulturelle Kommunikation. Theorien und Modelle werden vorgestellt, zum Verständnis von kulturellen Verschiedenheiten. Standards wie high uncertainty avoidance, universalism, low context communication culture spielen plötzlich eine Rolle. Die Herren Berry, Trompenaars und Hofstede erklären mir meine Erlebnisse auf wissenschaftlicher Ebene.
Ich habe mich verändert. Ich bin noch dieselbe.
Was mich ausmacht, was mir wichtig ist, blieb gleich, nur die Details haben sich verändert. Planung? Ja. Aber Planung mit Lücken. Es ist wichtig sich Unvorhergesehenes zu erlauben. Wer jede Sekunde plant wird durch die kleinsten Abweichungen aus der Bahn geworfen, wie ich erleben musste.
Ich schätze mein Leben, ich schätze, wer ich bin.
An dieser Stelle bleibt nur Danke zu sagen. Danke an meine Familie. Danke, Rotterdam, danke Jenny, Judit, Noelia, Emily, Paul, Pablo. Danke Niederlande, danke Europa, danke EU.
Danke EVS!