Abwehrende Architektur
Unbewusst und überraschend
Vor einer Woche habe ich Javi, der aus Berlin um mich zu besuchen kam, zur Bushaltestelle begleitet. Wir sind früher als erwartet angekommen (was ganz ungewöhnlich für uns beide ist) und haben uns auf eine Bank hingesetzt. Plötzlich haben wir komischerweise gemerkt, dass unsere Pos herunter rutschen. Javi sagte „siehst du – defensive Architektur!“. Ich dachte, es war ein Scherz und dass es einfach eine schlecht-angelegte Bank war. Ich habe nie über diese Art von Architektur gehört und könnte mir nicht vorstellen, dass es von jemandem mit spezifischen Absichten so erschaffen wurde.
Abwehrende Architektur stellt eine Form der Gestaltung öffentlicher Gebäude dar, bei der die Verhinderung einer bestimmten Nutzung beabsichtigt wird. Es ist hauptsächlich gegen Obdachlose, Skater, Drogensüchtige oder Tiere gezielt. Durch diese Art der Architektur werden die betroffenen Bevölkerungsgruppen verdrängt. Sie löst aber nicht das eigentliche Problem. Als ich begriffen habe, dass diese Bank kein Designfehler war, sondern absichtlich unbequem erschafft wurde, dachte ich an alle unbewussten Methoden, die von der Regierung benutzt werden, um verschiedene Ziele zu erreichen, ohne darüber zu reden. Hier sind ein paar, die vielleicht für einige genauso erleuchtend sein werden, wie sie für mich waren:
- Bänke mit unebenen Sitzflächen oder mit Bügeln, die das Liegen verhindern sollen;
- Klassische Musik in Bahnhöfe – schnell verschnitten, ohne Ende, ohne Pause;
- Sprinkler-Anlagen;
- das Einlassen von Steinen, Formelementen oder Bolzen in ansonsten ebene Flächen;
- Stacheln;
- Pflanznischen;
- Blaues Licht unter den Brücken – verhindert die Drogensüchtige ihre Venen zu finden.
Meine erste Reaktion warn Wut und Machtlosigkeit. Die Erkenntnis unterschwellig beaufsichtigt zu werden, ist kein tolles Gefühl, aber danach habe ich angefangen mich für das Thema zu interessieren und nachzulesen. Es stimmt, dass es unfair ist, dass es widerlich und kaltherzig wirkt, dass es dafür gemacht ist, um die einen zu entzücken und die anderen fernzuhalten, aber wollen wir nicht im Endeffekt das alle innerlich? Sind wir nicht alle von Müll, Uringeruch und Angriff angewidert?
Die Wahrheit ist, dass Defensive Architektur ein Phänomen der Großstadt ist. Menschen aus unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Milieus versammeln sich in der Stadt auf engstem Raum und leben zusammen. Damit es funktioniert, braucht man Regeln. Es gibt verbreitete Vorstellungen darüber, was Menschen benötigen, um sich wohl und sicher zu fühlen. Jeder Mensch braucht Verlässlichkeit und obwohl die Mehrheit sich einig ist, dass niemand ausgegrenzt gehört, fühlt sich diese Mehrheit trotzdem selbst in Gegenwart von Obdachlosen unwohl.
Das kontrollierende Potenzial von Architektur wurde eigentlich seit Jahrzehnten bekannt. Manche Thermalbäder sind so konzipiert, dass die Besucher im Wasser das Gefühl haben, dass sie beobachtet werden. Dadurch soll verhindert werden, dass sie miteinander schlafen. Architekten von Supermärkten maximieren den Verkauf von Produkten, indem sie die Kunden durch alle Gänge möglichst einmal führen.
Laut Kaufmann, Professor der Ethik, muss eine Gesellschaft für jedes ihrer Mitglieder sorgen. „Auch für die, die das schlechteste Los gezogen haben.“ Und bauliche Maßnahmen können ein sanfteres Mittel sein, als das Aussprechen von Platzverweisen, zum Beispiel. Wichtig ist, Alternativen zu schaffen. Die öffentliche Hand sollte nicht die einzige sein, die sich dabei beteiligt, sondern auch private Investoren sollten zumindest durch Spenden an Organisationen, die sich für Obdachlose einsetzen, zu einer für alle annehmbaren Lösung beitragen.
http://www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Politik/Deutschland-Welt/Defensive-Architektur-Warum-der-oeffentliche-Raum-ungemuetlich-wird
http://www.lvz.de/Nachrichten/Politik/Defensive-Architektur-Warum-der-oeffentliche-Raum-ungemuetlich-wird
https://www.morgenpost.de/vermischtes/article206976355/Diesen-Aufwand-betreiben-Staedte-um-Obdachlose-loszuwerden.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Defensive_Architektur