61º 47'
"Nein, Petrozavodsk, die Stadt, in der ich für sechs Monate lebe, befindet sich nicht in Sibirien." DraCKo ist in Russland angekommen und erlebt ein Land im und jenseits des Klischees.
61º47´ nördliche Breite. Nein, Petrozavodsk, die Stadt, in der ich für sechs Monate lebe, befindet sich nicht in Sibirien. Jene Stadt befindet sich auch nicht in der Tundra und es gibt hier auch keine Eisbären. Petrozavodsk, das ist Kareliens Hauptstadt, die sich 22 Kilometer am nordöstlichen Ufer des Onegasees erstreckt. Sie ist, neben Sankt Petersburg - Entfernung ca. 400 Kilometer -, das wissenschaftliche und kulturelle, Bildungs- und Wirtschaftszentrum im Nordwesten Russlands.
Sie tun es!
Passkontrollen an jeder Ecke; Mütterchen auf der Straße, die Piroggen verkaufen; Lebensmittelgeschäfte, die rund um die Uhr geöffnet haben; Warnungen vor Schlaglöchern in den Straßen, die in Deutschland gesperrt werden würden; überfüllte Busse, sodass man auch im Stehen schlafen kann; eine Fahrt im LADA; mit 20 Jahren verheiratet; ein Mann, der sich in einer Pfütze die Hände wäscht; drei Schlösser an der Wohnungstür; ein “Plumpsklo” wie aus guten alten Zeiten; Gas von Gasprom zum Kochen; Trinkwasser aus einer Quelle im städtischen Park, da aus den Leitungen nur rot schimmerndes Wasser fließt; zum Frühstück Wodka; Musik bei der Blutabnahme in einem russischen Krankenhaus - ja, all dies ist wahr. All dies ist wirklich erlebbar.
Doch wie kann man ein solch großes Land, in dem so viele Menschen leben, nur von jener klischeebehafteten Sichtweise betrachten?
Jede Medaille hat zwei Seiten, so auch die russische!
Auf dem St.Petersburger Flughafen angekommen, fuhr ich mit dem Bus und der Metro zum Ladoga Bahnhof. Glücklicherweise half mir eine Frau sich in dieser ungewohnten Welt, in der von allen Seiten die russische Sprache auf mich eindringt, zurechtzufinden. Sie war es auch, die mich darauf hinwies, dass ich meine Fahrkarte überprüfen lassen solle, da jene aus Deutschland stammt und somit nicht gültig sein könnte bzw. weil zumeist russische Schaffner kein deutsch sprechen, sie jene nicht anerkennen. Doch nach einer Stunde Warten wollte man selbst am internationalen Schalter mit mir nicht Englisch sprechen.
Andere Reisende fragten sogleich herum und von irgendwo her kam eine junge Frau, die Englisch sprach. Die Hilfsbereitschaft ist hier wirklich beeindruckend. Da jene jedoch schon bald wieder gehen musste um ihren Zug nicht zu verpassen, nutzten die russischen Bahner sogleich die Gelegenheit aus um einem offensichtlichen Touristen mehr Rubel abzunehmen als letztlich auf der Quittung steht. Hier gibt es eine Unterteilung in: Tourist ohne russische Sprachkenntnisse, Russisch mit Akzent und Russisch ohne Akzent. Somit heißt es: Russisch lernen, Russisch sprechen, Russisch verstehen und das möglichst schnell.
Auf der Reise im Nachtzug begleitete mich wiederum Glueck, da ich auf eine russische Familie traf, die in Deutschland lebt. So weckten mich die nächtlichen Stops des Zuges zwar immer wieder auf, doch beängstigten mich die vom am Abteil vorbeiziehenden Stimmen nicht.
Ты говоришь по-русский?
In Petrozavodsk angekommen, wurde ich herzlich in meine Organisation - “SPOK”- aufgenommen. (weiteres dazu im folgenden Artikel) Danach traf mich gleich der Schlag des Russischunterrichtes an der Universität. Übersetzt wird, wenn überhaupt, auf Englisch. Doch von Stunde zu Stunde kam mehr und mehr Russisch hinzu. Jetzt sprechen wir grundsätzlich Russisch und mit dem Wechsel meiner Lehrerin wurde auch der Sprachunterricht anspruchsvoller. Hausaufgaben wie in der Schule stehen jetzt auf dem Tagesplan, aber ich will endlich russisch sprechen können! In meiner Organisation, in der ich arbeite, sprechen wir auch Englisch, aber die Anteile haben sich schon sehr verändert. Schließlich übersetze ich jeden Tag Texte und nehme an Exkursionen oder an Diskussionen am Runden Tisch teil.
Feiern und verreisen - was ich sonst so mache!
Am ersten Wochenende im August und zugleich am ersten meines halbjährigen Aufenthaltes in Russland wurde ich zu einer Geburtstagsfeier eingeladen, auf der gleichzeitig ein Segelboot eingeweiht wurde, das sie in den letzten vier Jahren selbst bauten. Am nächsten Tag folgte die Jungfernfahrt auf dem Onegasee, der so groß ist, dass man nicht bis zum anderen Ufer blicken kann. Bis in die Nacht segelten wir, vorbei am Ufer der Stadt, um eine Insel, in den Weiten des Sees.
Die Fahrt zum zweitgrößten Flachwasserfall Europas - Kivatch -, erfolgte durch grüne Wälder mit karelischen Birken und Nadelbäumen, vorbei an malerischen Seen. Da am Ende der 30er Jahre dem einst so wilden Wasserfall, das Wasser durch ein Kraftwerk genommen wurde, hat er heute nicht mehr die Hälfte seiner ursprünglichen Kraft. Nicht nur um den Wasserfall zu besuchen, kommen Touristen aus ganz Russland in jenes Gebiet, sondern auch um das Heilwasser im nahen Sanatorium zu trinken. Der Tag klang mit einem gemütlichen Abend auf einer Datsche mit russischen Köstlichkeiten aus.
An einem weiteren Wochenende erlebte ich einen Ausflug zum Ruskeala Bergpark, in dem man Marmor ansehen und berühren kann, der früher für Bauwerke sowie die Verziehrung der Metro in St. Petersburg abgebaut wurde. Das Wasser in der Grube ist smaragdblau und glasklar, sodass man die vom finnisch-russischen Krieg zeugenden Überreste mit eigenen Augen sehen kann.
Eigentlich vergeht die Zeit wie im Flug. Am ersten September, dem „Tag des Wissens“, begann hier die Schule. Die Stadt füllte sich mit Kindern, die von ihren Eltern zur Schule begleitet wurden und Jugendlichen, die an der Universität studieren. An jenem Tag waren Mädchen mit weißen Schleifen im Haar und Jungen in Uniform nicht zu übersehen. Es ist durchaus interessant sich einfach mal irgendwo ein wenig Zeit zu nehmen und das Gewimmel der Menschen zu betrachten.
Пока!