6. Platz: Frederick erzählt.
Ankara, mit allen Sinnen erlebt, ist ein Traum auf den zweiten Blick. Während ihres Studiums in der Türkei erlebt Lydia die Stadt als bunt, aufgeschlossen und als Puls des Lebens abseits jeglicher Langeweile.
Ankara riecht nach...
... 4 Millionen Menschen, die mit Holz ihre Häuser heizen, gemischt mit dem Geruch von quietschenden Autoreifen und grauen Abgasen, dazu leichte, dünne Luft von 1000 Höhenmetern und manchmal riecht es nach Schnee, wenn ich morgens aus dem Haus gehe, obwohl noch keiner Gefallen ist. In der Luft ist der Geruch von frischem Simit und heißem Tee, wenn man durch die Straßen geht, nur nach frischem Gras und bunten Blumen riecht es nie. Aber nach knackigem Gemüse im saftigen Grün, nach prallem Obst im leuchtenden Rot und Gelb, ja, danach riecht es jeden Donnerstag auf dem Pazar.
Ankara hört sich an wie...
... das Meer, wenn man an der Hauptverkehrsstraße steht und die Augen zumacht. Das gleichmäßige Rauschen der Wellen wird leider allzu oft von durchdringenden Nebelhörnern unterbrochen. Ankara ist niemals leise, auch wenn du es gerne möchtest, nur dein mp3-Player kann helfen, dem Großstadt-Grundbeat zu entkommen. In Ankara hört man immer Trillerpfeifen, aus gelassen Polizistenmündern, den Verkehr regelnd, obwohl doch die feuerroten Ampeln das schon alleine könnten, wenn man sie nur lassen würde. „Benim adim ebruli, biraz gercek biraz rüya“, türkischer Pop, Halk Müzigi und harter Rock, abends wenn man durch Kizilay läuft.
Ankara sieht aus wie...
... an der falschen Stelle aus dem Boden gehauen, mit alten Häusern am Berg und sechziger Jahre Hochhäusern in der Ebene. Mit halbfertigen Bauten rechts und links, Gräben dazwischen, die zu Flüssen wurden, obwohl eigentlich eine U-Bahn dort fahren sollte. Ankara ist nun wieder in Seide gehüllt, in einen weißen Schleier, der erst wieder im Frühling verschwindet. Der Nebel ist beißend in den Augen, manchmal nimmt er dem Jogger im Park die Luft zum Atmen, denn der Schleier besteht aus Smog, zu hundert Prozent. Ankara sieht aus wie ein Stilbruch zwischen alt und modern, zwischen Dorf und Stadt, Weltstadt und Provinz. Ankara ist nicht international und doch weltbekannt und viel bereist. Das schönste Viertel in Ankara: Meine Wohnheimstraße, mit den alten Häusern, den spielenden Kindern und den kleinen Cafes. Den Moschen und dem kleinen Park. Den Atatürk Monumenten und der roten Fahne, erhabend über allem.
Ankara fühlt sich an wie...
... ein Haufen Asphalt auf Rasen, der lieber von Bäumen eingerahmt wäre. Ankara ist irgendwie eine andere Realität, ein bisschen weicher, nicht ganz so hart wie Deutschland. Ankara fühlt sich an wie zu Hause, wenn ich nach 10 Stunden Busfahrt erschöpft in die U-Bahn zur Kurtulus Station sitze. An Ankara denke ich, wenn ich nicht dort bin, weit weg, irgendwo in der Türkei und ich keine Lust mehr habe, unterwegs zu sein. Ja, dann denke ich an Ankara, mein Bett im Wohnheim, meine alltäglichen Wege durch Cebeci und Kizilay und Cankaya. Und dann freue ich mich, dass es ja bald zurück geht und ich fühle mich gut. Ja, Ankara fühlt sich gut an, richtig gut!
Ankara ist....
... weder in der dunklen Nacht noch am grauen Tage, auch nicht im viel zu heißen Sommer oder im eisigen Winter, vielleicht gerade so im Frühling für zwei Wochen, angenehm und aufregend. Aber was ist schon eine Stadt, doch nicht mehr als Straßen und Busse, Bahnen und Geschäfte, dazwischen ein Park und ein Fußballstadion, dahinter Häuser und Spielplätze und morgens Menschen, die sich zur Arbeit drängen. Was ist Ankara, wenn doch nicht mehr als eine aus Versehen aus einem Dorf gemachte Großstadt, ein historischer Ort, irgendwie, eine Verwaltungsstadt mit einem Charme, den man suchen muss unter einer grauen Oberfläche. Ankara ist gemütlich, für Ausländer und Inländer, weil man sich nicht auf die Füße tritt, nicht auffällt, wenn man nicht will, nicht alleine sein muss, aber kann, und es versteckte Cafés und Kneipen gibt, die das Leben angenehm machen.
Die Türkei ist...
...anders und deshalb mag ich sie. Einen anderen Grund konnte ich bisher nicht finden, aber ich suche auch nicht aktiv, sondern lebe hier, als ob es das normalste für mich wäre, genau hier zu leben und nicht woanders. Die Türkei ist eine moderne Republik, das konnte ich nach langem Gedanken hin und her Schieben anerkennen, weil Deutschland eben nicht mehr modern ist, sondern postmodern und deshalb auch anders sein muss. Wie wäre diese Welt, wenn alle blond und blauäugig wären, wenn in jedem Land die gleiche Sprache gesprochen und auf die gleiche Weise Geschirr gespült würde? Wenn es klar wäre, dass man sich zur Begrüßung rechts und links auf die Wange küsst und der Mann die Rechnung zahlt? Wenn es überall zum Frühstück Oliven gäbe und alle beim Tanzen mit den Fingern schnipsen und dabei mit den Schultern wackeln würden? Ja, es wäre langweilig, verlogen, eintönig und unmenschlich.
Die Türkei ist...
.... anders, und trotzdem komme ich mit dem festgeschnürten Regelkorsett klar, finde es interessant und höre mir an, wie Menschen eben auch nach anderen, uns nicht vertrauten Regeln, zusammen leben können. Die Türkei ist nicht perfekt, wer ist das schon, und die Europäerin in mir hat oft genug geschrieen und getobt. Aber, hey, ist läuft doch, irgendwie, meistens.
„Ich sammle Farben“, sagte Frederick, „denn das Leben ist grau“ – und die Türkei ist bunt, richtig bunt. Und damit werde ich meine Wand anstreichen in Deutschland, mit der großen Farbpalette, die die Türkei mir in die Hand gedrückt hat.
„Ich sammle Sonnenstrahlen für die kalten, dunklen Tage“ sagte Frederick – und diese Sonne hängt nicht nur am Himmel, sondern ist in den Gesichtern der Menschen, die ich hier treffen durfte. "Die Menschen, immer sind es die Menschen, du weißt es, ihr Herz ist ein kleiner Stern, der die Erde beleuchtet" (Rose Ausländer).
„Ich sammle Wörter. Es gibt viele lange Tage – und dann wissen wir nicht mehr, worüber wir sprechen sollen.“ – Ich liebe Wörter, seltsame, neue Wörter, deren Bedeutung eben manchmal doch nicht im Wörterbuch zu finden ist. Man muss sich erst auf die Suche begeben und zuhören, vielleicht es auch mal selber ausprobieren, sie zu benutzen. Wegen der Worte wollte ich herkommen und jetzt sitze ich hier, kenne so viele neue Wörter, es ist für mich so normal geworden, sie zu verwenden, wenn ich etwas ausdrücken will. Manchmal passt die Übersetzung auch gar nicht und ich bleibe beim Türkischen. Manchmal sind meine Ohren taub, ich verstehe kein Wort und dann zweifle ich an mir, glaube, dass ich diese Sprache nicht mal zu 5% durchschaut habe. Fragen über Fragen, über die Bedeutung von Wörtern, Gesten, Mimiken und Verhaltensweisen. Die ganzen Fragen, die ich gestellt habe und die mir gestellt wurden, trugen alle dazu bei, dass ich a) noch mehr Fragen stellen musste und b) ich mehr gelernt habe, als wenn ich tatsächlich eine Antwort gefunden hätte. Ja, Wörter bilden Realitäten und die türkischen Wörter haben ein Haus in Ankara um mich gebaut.
Ankara’yi, seni seviyorum. Merak etme, seni unutamam, ben dönecegim, sana söz veriyorum!
Die Zeit ist abgelaufen, und auch wenn ich erst überlegt habe, noch Mal einige Münzen in den Parkautomaten zu werfen, musste ich erschreckend die Parkuhr rufen hören: Du kannst es nicht festhalten, es ist wie es ist! Ich schaue auf den Kalender an meinem Schrank. Es sind noch vier Wochen, kann es gar nicht glauben!
Das letzte Mal vom sehirlerarasiterminali abfahren, einen Bus besteigen und an neue Orte fahren, das letzte Mal bei Gamze Piknik dieses fantastisch hausgemachte Essen verspeisen, das letzte Mal Spesial Bazlama im Kafe Arkadas, nur noch ein Mal tanzen im Nefes und dann mit dem Taxi eben die Straße runter am Kurtulus Parki vorbei zum Wohnheim. Das letzte Mal zu ASAM und in der Teepause ein paar Späßchen mit den Kollegen machen. Noch ein mal bei Cigdem Hoca im Unterricht sitzen und über die türkische Grammatik Neues erfahren. „Ben Erasmus ögrencisiyim. Subattan beri Ankara’dayim. Evet, Türkce en fazla burada ögrendim.” – noch ein letztes Mal möchte ich das sagen. Treffpunkt: Dost Kitabevi in Kizilay, OK? Noch ein Mal. Den langen Weg zum Beytepe-Kampus, um ein bisschen Bürokratie zu spielen. Das letzte Mal die Treppen zu Ayses Zimmer hochgehen, um den Tag zu bequatschen, über Männer zu fluchen, noch mal fragen, ob das in der Türkei echt so ist und was sie so denkt. Das letzte Mal durch das Drehkreuz im Wohnheim gehen, am liebsten rauchend und trinkend, mit zwei Männern im Arm...
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