211 Tage
In diesem Artikel verabschiede ich mich von Dir und meiner Zeit im Wohnstift.
„Wo sind die letzten Wochen und Monate nur geblieben?“, frage ich mich, als ich mich dem Kampf mit meinem voll gepackten Koffer stelle. Plötzlich klingelt es an der Türe – Frau L. steht mit lächelndem Gesicht und traurigen Augen vor mir, in ihrer Hand ein Anhänger, bedruckt mit Christophorus, dem Schutzpatron der Reisenden.
Wenig später lege ich mich auf den Boden und betrachte den Anhänger. Ja - mehr als je zuvor sehe ich mich nun als Reisende.
Ich schließe meine Augen und erinnere mich an den Beginn meiner Zeit im Wohnstift. Wie ich am ersten Abend plötzlich ganz alleine in meiner Wohnung saß und die Stille kaum zu ertragen war. Wie verloren ich mich in der ersten Zeit hier fühlte, wie einsam, wie verzweifelt. Ich erinnere mich an das Einführungstraining in Weimar, an all die wundervollen Menschen, die ich dort kennen lernen durfte, an die unvergesslichen Tage und Nächte, die wir miteinander verbrachten. Ich erinnere mich an die Zeit danach, die noch schwerer war als die Zeit zuvor.
Lächelnd denke ich daran zurück, wie es langsam bergauf ging. Natürlich habe ich viele liebe Menschen kennen gelernt, den Schritt hinaus aus meiner Dunkelheit konnte aber nur ich alleine gehen. Ich habe gelernt mit den Momenten des unausweichlichen Alleinseins umzugehen, habe in ihnen Freiheit, Selbstbestimmung und Wertschätzung gefunden. Natürlich fiel es mir noch immer nicht zu jeder Zeit leicht, natürlich habe ich mir oft sehr andere Freiwillige hier gewünscht, mit denen ich mich austauschen hätte können, aber ich habe die Situation endlich zu akzeptieren gelernt. Im Nachhinein bin ich wirklich glücklich darüber, dass es anfangs so schwierig war – ich habe so viel für mein weiteres Leben gelernt und kann nun zwischenmenschlichen Kontakten ohne Abhängigkeit und mit viel mehr Wertschätzung begegnen.
Ich nehme wahr wie das Herbstlaub raschelt. Auch arbeitstechnisch sah ich mich sehr auf mich alleine gestellt. Ich hatte wöchentlich nur sechs Fixstunden, der Rest der Zeit und sogar die Zeit wurden mir selbst überlassen. Wann ich für wie lange wo arbeite, war nahezu zur Gänze meine Entscheidung. Ich glaube damit hätten in unserer strukturierten Arbeitswelt, in der man stets klare Anweisungen bekommt und einen geregelten Tagesablauf hat, so einige ihre Probleme. So auch ich. Schlussendlich habe ich mich dafür entschieden neben Wandergruppe, Lauftraining, Vorlesekreis und meinem Projekt hauptsächlich auf der Pflegestation zu arbeiten, da ich spürte, dass meine Mithilfe dort am dringendsten gebraucht wird. Zunächst war es definitiv eine Herausforderung pflegebedürftige, demente und teilweise sogar sterbende Menschen in dem letzten Stadium ihres Lebens zu begleiten. Ich wuchs aber schnell in diese Aufgabe hinein und als Frau H. dann eines Morgens in meine Arme lief, war jegliche Scheue überwunden. Einige Augenblicke werde ich nie vergessen – zum Beispiel all die Ausflüge, die die Augen der Bewohner strahlen ließen, das Halmaspielen mit Frau S., bei dem es niemandem möglich ist sie zu besiegen, als Frau T. ganz friedlich mit ihrem Kuscheltier in ihren Armen entschlafen war, wie wir in der Singegruppe immerzu dieselben Lieder sangen und sie doch jedes Mal ein bisschen anders klangen, wie sich Frau T. über Zuneigung und Handmassagen freute – die Arbeit verlangte viel, gab aber noch so viel mehr zurück. Ich bin unglaublich dankbar und glücklich diese Erfahrung gemacht zu haben. Ich habe dabei viel über Krankheit und Tod, aber noch viel mehr über das Leben gelernt.
Der Abschied fällt mir nun sehr schwer. Dennoch bin ich mir gewiss, dass es Zeit für ihn ist, dass ich nun, wo es sich so bequem und vertraut anfühlt, zu neuen Ufern aufbrechen muss, um mich weiterentwickeln zu können – die Reise geht weiter. Ich fühle mich nun mehr als bereit dafür, da ich erkannt habe, wie viel Kraft und Mut in mir steckt. Für die Zeit im Wohnstift und all die lieben Menschen, die mich begleitet haben, werde ich ewig dankbar sein, mich immer mit strahlenden Augen an sie zurück erinnern. Ich packe den Christophorus in meinen Rucksack und schließe den letzten Reißverschluss.