2008-LT-10 EVS in Vilnius, Litauen (also quasi in Lettland und in der DDR)
Vilnius! Spalva kommt nach einer langen Flugreise in Litauens Hauptstadt an. Die Altstadt ist wunderschön und die neue Wohnung riesig. In diesem Sinne: Vielas Spaßas inas Litauenas!
Was für ein Tag. Jetzt ist er also (endlich?) gekommen.
Sitze am Flughafen in München. Angekommen mit meinem Papa, sehr ruhig, wie immer. 10 kg Übergepäck bezahlt und ca. 20 kg Handgepäck inklusive Glasscheibe reingeschmuggelt. Beim Baggage Check noch schnell zwei Ausländern geholfen, die weder Englisch sprachen noch die gefuchtelten Anweisungen des Flughafenpersonals zu verstehen schienen, dann noch das Geld vergessen, wieder zurück, Geld geholt und jetzt sitz' ich hier am Gate.
Müde bin ich, doch sonst geht es mir gut, erstaunlich gut. Die letzten Tage und Wochen waren ereignisreich und schön. Alle scheinen so viel trauriger über meinem Abschied zu sein als ich. Soll das so sein?
Liebe Megi.
Nur bei der Sophi tat's mir richtig Leid, mein kleines Kindchen. Fühle mich ihr gegenüber ein bisschen verpflichtet; jetzt lass ich sie einfach mit Mama und Papa allein.
Noch immer sitze ich am Gate und warte. Was mich erwarten wird? Fremdes und Fremde. Und ich kann es kaum erwarten. Will Vilnius sehen, will Tako, Nuard, Mariela, Lina, Gonçalo und Steffi treffen. Will Eglė und Inga kennenlernen, Litauisch hören, Litas benutzen, in meinem Wohnheim die Studenten und auf den Straßen die Bewohner der Hauptstadt beobachten.
Es wird gut werden.
Ich bin mir nicht sicher, ob in dieser euphorischen Rede nicht auch ein gewissen Anteil an Selbstbeschwichtigung enthalten ist, doch selbst wenn.
Endlich ist die Sonne vollständig aufgegangen. Als ich mich vor drei Stunden aus dem Bett quälte, war noch alles dunkel. Vor Sonnenaufgang aufstehen – das musste ich schon lange nicht mehr. Doch jetzt stechen einzelne Sonnenstrahlen durch die dicken, trübblauen Regenwolken, die sich am ganzen Himmel aufgebauscht haben. "Sogar der Himmel weint", hat meine Mutter gesagt, als ich mich von ihr verabschiedet habe.
Die Start- und Landebahnen, die Flugzeuge aus Südafrika, Irland und Singapore, die vielen Türme – alles geflutet. Und dazwischen, wie Haifischflossen, die aus dem Wasser herausragen, sehe ich die oberen Enden von Flugzeugen, verdeckt durch Gebäude, hin- und hergleiten.
Das alles sehe ich durch die riesigen Glasfronten neben mir, durch die Licht auf mich und meine Mitreisenden fällt. Der spanische Norweger, der dänische Geschäftsmann aus einer einflussreichen Familie, die dänische Familie mit den zwei jugendlichen Töchtern, die über drei Sitze ausgestreckt versuchen zu schlafen, ein vielleicht 20-jähriges Pärchen, das ebenso wie die beiden Töchter genauso aussieht, wie ich mir Klischee-Dänen vorstelle, und zwei gut gebaute Gothic-Mädchen, in enge Kleider eingeschnürt, von denen sich eine gerade noch ein Bier geholt hat. Noch ein blonder Klischee-Däne, ca. 18. Jahre, mit Freundin, helles Haar von einer Kappe bedeckt, Riesenrucksack.
Wie wohl Klischee-Litauer aussehen?
Los geht’s nach Kopenhagen/Vilnius im Haifischbauch.
Laba Diena. Lietuva. Not yet.
Jetzt bin ich gerade erst in Kopenhagen und hab schon drei nette Leute getroffen. Jehe. Das fängst ja gut an. Ein blonder, fast-Klischee-Däne, der gerade drei Monate als Freiwilliger in verschiedenen südafrikanischen Ländern gearbeitet hat und ein Kiwi-Bonecarving um den Hals trägt, das er von seinem Bruder bekommen hat, begleitet mich ungefragt bis zu meinem Gate, obwohl er eigentlich zum Ausgang muss.
I like.
Neben mir auf den Sitzen am Gate zwei süße Kinder, die sich sehr langsam auf Litauisch unterhalten. Außer "Gerai, gerai!" ("Gut, gut!") und "draugė" ("Freundin") verstehe ich nichts. Doch dann: "That's what Daddy would say." und "It's your own fault!"
Nach kurzer Zeit kommt die offensichtlich litauische Mutter, der englischsprachige Vater ist nicht zu sehen. Die Kinder sprechen weiterhin Litauisch mit der Mutter, doch gelegentlich auch Englisch miteinander. Wenn alle Litauer so langsam reden würden wie dieses fünfjährige Mädchen, dann könnte ich mir direkt vorstellen, eines Tages einmal etwas zu verstehen.
Jetzt geht's los zum Flieger. HipHipHurra.
Winzig kleine SAS Maschine, mit 2x2 Personen pro Reihe, bei 24 Reihen. Mein als Handgepäck leicht überdimensionierter Rucksack wird mir abgenommen ("How did you manage to get that backpack up here?") - das heißt, ich stelle ihn auf einen Wagen vor dem Flugzeug, er wird wohl im Haifischbauch verstaut.
Ich gehe die kleine Treppe hoch, die vor dem Flugzeug steht, und bin in jener Maschine, die mich nach Vilnius bringen wird. Huijiujiu, kaum ein Jahr nachdem ich mich für die ersten EVS Projekte beworben habe, bin ich soweit. Me loves YOUTH IN ACTION.
"We will be arriving in Vilnius in approximately 11 minutes." Wir durchbrechen die Wolkendecke und zum ersten Mal erblicke ich das Land, in dem ich die nächsten 12 Monate verbringen werde. Grün, viel Grün, Wiesen und Felder, mit Höfen und kleinen Flüssen, die sich durch die Landschaft schlängeln.
Und dann – Vilnius! Vereinzelte Hochhäuser, viele Bäume, Parkanlagen, der Fluss Neris, die roten Dächer der Altstadt und unzählige Kirchen. Wir überfliegen das ganze Stadtgebiet und als wir schon fast beim Flughafen und so weit unten sind, dass man einzelne Häuser gut erkennen kann, entdecke ich am Rande der Stadt, eingebettet in sanfte Hügel und grüne Wiesen sowohl modernste Architektur als auch alte Bauernhöfe, die nach Vergangenheit und Tradition aussehen.
Ein bisschen nervös bin ich schon, als ich voll bepackt in die Empfangshalle trete, schließlich werde ich jetzt Eglė von meiner Koordinationsorganisation treffen, die mich abholen sollte. Sollte.
Kurze Unruhe – was soll das?
Doch ich warte kaum 10 Minuten, bis sie durch die Tür stürzt. Dank Facebookas – dazu gleich mehr – erkenne ich sie sofort. Sie ist nett, sympathisch und spricht sehr gut sowohl Englisch als auch Deutsch (nach EVS in Salzburg und Erasmus in Heidelberg).
Wir laufen von der Bushaltestelle aus die Čiurlinio Straße, die nach Litauens berühmtestem Maler und Komponisten benannt ist und in der ich auch wohne, hinunter, die gesäumt ist von Bäumen, schönen, alten Gebäuden (ich wage noch nicht eine architektonische Stilrichtung anzugeben), und gelegentlichen Geschäften (darunter ein Secondhandladen, der HUMANA heißt!), bis wir zu einer medizinischen Fakultät der Universität von Vilnius (glaube ich) kommen, neben der sich ein abgeschlossenes Gebäude befindet, auf dem umgeben von Grünflächen, mehrere Wohnheime untergebracht sind.
Ich wohne im ersten, im Erdgeschoss. Das Zimmer, in dem ich wohne ist riesig - und leer.
Normalerweise teilen sich drei Studenten ein solches Zimmer. Jetzt befindet sich darin nur EIN Bett, EIN Schreibtisch, aber wenigstens der Schrank für drei Personen.
Außerdem treffe ich Tako (Aus Tiflis, Georgien), die einen überdrehten Eindruck macht, Nuard (aus Armenien), mit der ich nicht lange rede, die aber – vll nur neben Tako – eher ruhig wirkt, Lina (ebenfalls aus Yereva, Armenien), die mir sehr sympathisch ist, und Gonçalo aus Lissabon.
Mit ihm und Eglė gehe ich, nachdem ich kurz ausgepackt und mein Zimmer "lenanizied" habe (ein paar Bänder und Ketten hängen bereits an den Schranktüren, ein paar Fotos an den Wänden und ein Frida Kahlo Plakat an der Tür – da es ein Abzug von "Die zerbrochene Säule" ist, trägt es allerdings nicht zu einer besonders heiteren Stimmung im Zimmer bei) in die Altstadt.
Downtown Vilnius ist wunderschön: unzählige Alleen, alte Gebäude, die Kathedrale auf einem riesigen, leeren Platz ,auf dem Jugendliche skaten, die Altstadt mit Kopfsteinpflaster, ein kleiner Fluss, unzählige Parks, bei 26 Grad flanieren junge und alte Menschen auf den Straßen - und das alles ca. 25 Gehminuten von meiner Haustür, ca. sieben Minuten mit dem Trolleybus.
Eglė und Gonçalo unterhalten mich gut. Gonçalo stellt alles in Frage, das Eglė sagt und erzählt in einem Fort Schlechtes über sie und Litauen, wie dass in Litauen nichts los ist, dass es hier nur Wälder und Bauernhöfe gibt (was Eglė einräumt) und dass Eglė Kameras in unsere Zimmer eingebaut hat, um uns zu überwachen. Eglė spielt bei allen Witzen mit und scheint sich zu amüsieren, genau wie ich.
Gonçalo bringt mir Litauisch bei: Man hängt an jedes beliebige Wort die Endung -AS an: von Bankas, Baras, Restoranas, Tualetas, Dušas, über Eglas, Gonçalas, Magdalenas, Youtubas, Facebookas, bis zu Let´s go-as!
Das Leben ist schön.
Der Heimweg führt uns zu einem Supermarkt (es gibt hier REAL BREAD!!!) bevor Gonçalo und ich (in Eglės Abwesenheit verhält er sich normal, kann Fragen beantworten, und nicht alles ist "šudas") mit einem Trolleybus nach Hause fahren.
Dort heißt es auf Steffi aus Schweinfurt warten, die letzte Freiwillige unserer SALTES Truppe, die um 10 ankommen wird, bevor es morgen zur Bank und übermorgen in die Arbeit geht.
Jetzt regnet es, nach einem heißen, schwülen Tag.
Das Leben ist schön.
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