10. Platz: “Für solche Momente liebe ich das Leben”
Einen Einblick in ihr Jahr in Irland gibt die 22-jährige Juliettte. Sie fängt die Impressionen eines Tages in Galway wunderbar atmosphärisch ein und kreiert damit ganz besonders eines: Fernweh.
Die Sonne ist da. Sie scheint ganz warm und hell auf mich und kitzelt meine Haut. Die Luft riecht frisch – nach Meer und nach dem Regen, der sonst in diesem Land immerzu leise nieselt. Das Gras hinter mir ist trocken, die Luft ist windig und kühl aber warm genug, dass ich nur in meinem grauen Kapuzenpulli mit den lila Enten drauf hier sitzen kann. Der leichte Wind streicht mir durch die Haare.
So schön.
Neben mir sitzt meine Mitbewohnerin, wir warten darauf, dass unsere Fotos entwickelt werden und wir sie in einer Stunde abholen können. Von Kerzen und Spektren und Wunderkerzen, die wir gestern abend in meinem Zimmer an hatten, und die, zu unserem Vergnügen, prompt den Feueralarm ausgelöst hatten. Wir hatten einen wunderbaren Abend zu dritt, lagen auf meinem Bett, meiner Hängematte, Decken und Kissen auf meinem Boden unter dem Sternenhimmel, den ich vor Monaten auf meine Decke gezaubert hatte, und haben uns Gedichte vorgelesen, Märchen, Kurzgeschichten und Lieder, die uns berühren. Vielleicht kitschig, vielleicht besonders mädchenhaft, aber ich fand den Abend zauberhaft. So nah, so zärtlich, so offen. Ich liebe solche Abende. Ich liebe diese Zeit, diese Ruhe. Lange Abende mit Tim Burton Filmen und alten Klassikern in denen die Leute noch singen und steppen. Mich stundenlang seitenlangen Kinderbüchern widmen zu können, die mich verzaubern und verschlingen, lange Spaziergänge durch Galways kleine Gassen mit ihren Pflastersteinen und bunten Fassaden, die sich auf dem verregneten nassen Boden brechen und widerspiegeln, wenn man sie fotografiert.
Die Fotos wollen wir jetzt in ein Album kleben, neben den Gedichten und Geschichten, die wir vorgelesen haben, damit wir diesen Abend nie vergessen.
Ich liebe es vorgelesen zu kriegen, habe es schon immer geliebt. Das gibt mir immer ein Gefühl von absoluter Geborgenheit. Ein Mensch nimmt sich die Zeit etwas für dich zu tun, das so absolut vergänglich ist, das du im nächsten Moment wahrscheinlich wieder vergisst, das du doch eigentlich selber tun könntest. Ich liebe es.
Meine Mitbewohnerin hat ihren Skizzenblock auf dem Schoß und zeichnet. Sie will Kunst studieren. Ich liebe ihre Bilder. Ich klaue ihren Fotoapparat aus ihrer bunten Patchworktasche und mache Fotos von ihren Füßen auf der Mauer vor dem River Corrib, auf der wir sitzen. Das Wasser fließt schnell und laut rauschend Richtung Meer, nur ein paar Meter von uns entfernt.
Da war ich vor ein paar Tagen auch, als meine große Schwester mich in meiner neuen Wahlheimat besucht hat. Wir sind stundenlang die Promenade runter geschlendert, haben uns auf die großen Felsen gesetzt und ich habe Fotos von ihr auf den großen grauen Steinen gemacht, gegen die Sonne, so dass sie nur ein schwarzer Schatten vor dem weiten, weiten Horizont ist. Natürlich vermisse ich sie, und alle anderen „zu Hause“. Besonders meine kleine Schwester. Die ist so beschäftigt mit ihrem Musikstudium, und ihrer Arbeit, dass sie keine Zeit hat sich bei mir zu melden. Aber das ist gut so, sie lebt ihr eigenes Leben. Ich mache mir schon lange keine Sorgen mehr um sie. Das wird alles schon.
Ich genieße es so sehr, hier zu sein.
In diesem Land, in diesem großen zu kleinem, chaotischem Haus mit all diesen liebenswerten Leuten. Irgendwer hat unserem Haus mal den Namen „The Vortex“ gegeben. Der Wirbel. Oder schwarzes Loch. Das prangt nun in großen Lettern auf einem Holzbrett vor unserem Schuppen, für alle Welt zu sehen.
Ich finde die Bezeichnung perfekt. Ich bin hier irgendwo zwischen der Zeit, in einem wundervollen nichts. Eine Zeit, so völlig ausgeklammert von meinem normalen Leben, und doch so ein wichtiger Teil davon. Wenn ich zurückkehre werde ich da weiter machen, wo ich vor nun fast einem halben Jahr aufgehört habe. Ich habe eine Pause, ein Abenteuer. Ruhe, Zeit, Frieden.
Ich ziehe meine Schuhe aus und lasse meine Füße über die Mauer baumeln. Wir essen Milchschokolade aus dem Fair Trade Laden um die Ecke, und überall um uns herum sind Menschen, sitzend, liegend, fotografierend, schlafend, lachend, genießend. Wenn die Sonne hier raus kommt lockt sie alle aus ihren Löchern und auf die kleine Wiese direkt vorm Fluss am Spanish Arch. Es ist ein tolles Gefühl zu wissen, dass für jeden Menschen um dich herum dieser Augenblick genauso besonders ist wie für dich. Jeder ist zur Sonne gekehrt, jeder lächelt und genießt diesen zauberschönen Moment.
//Dass das Köstliche, Entzückend, Holde ohne Dauer sei Wolke, Blume, Seifenblase Feuerwerk und Kinderlachen, Frauenblick im Spiegelglase Und viel andre wunderbare Sachen, Dass sie, kaum entdeckt, vergehen, Nur von Augenblickes Dauer. //
Da hat Hesse recht. Die schönsten Momente sind diese, die nur im Moment geschehen. Die während sie geschehen schon fast wieder vorbei sind, deshalb so kostbar, deshalb so wunderschön. Ich kann mich nicht daran erinnern, schon einmal so viele Menschen auf einem Fleck gesehen zu haben, die scheinbar so ohne Konditionen denselben Moment genießen. Vielleicht weil’s hier sonst so viel Regnet, vielleicht ist die Sonne gerade deshalb gerade so viel Wert, so liebenswert.
Das ist etwas, was mir hier sowieso so sehr bewusst wird. Dieses Glück, das wir haben, auf dieser Welt sein zu dürfen, unser Leben so führen zu können, wie wir es tun. Dass ich in diesem Land sein darf, in diesem Moment auf den kühlen Steinen liegen zu können, meine Füße runter zum Fluß baumeln zu können mit seinen weißen, stolzen Schwänen, und rauf zu dem tiefblauen Himmel zu gucken zu können, wo fluffige, weiße Möwen über meinem Kopf fliegen und ich versuche, sie mit der fremden Kamera auf kleine digitale Pixel zu verewigen. Vielleicht liegt das auch an der Arbeit, an den ganzen Schicksalen, die ich sehe, die mir so Leid tun, die mir zeigen, wie viel Glück ich doch gehabt habe. Ich wurde bedingungslos geliebt, und das ist plötzlich so viel mehr Wert, als es jemals war.
Ich fange eine der Möwen auf dem Foto ein und bin zufrieden mit mir und der geliehenen Kamera. Meine eigene vergesse ich ständig zu Hause. Überhaupt, ich schleppe schon lange nicht mehr die dicke Tasche mit mir herum, in der alles ist, was ich jemals brauchen könnte. Nur noch meinen Schlüssel in der Hosentasche, mein Portemonnaie in der Arschtasche meiner ausgebeulten alten Jeans (meine Lieblingsjeans) und ein winziges Täschchen, wo gerade so die Postkarten reinpassen, die ich kaufe und die Fotos, die wir abholen werden. Ich scheine wohl schon lange nicht mehr das Gefühl gehabt zu haben, auf jede Möglichkeit gefasst sein zu müssen.
Auf den Straßen meines lieben Galway hinter mir steht ein Mann mit seiner Leinwand und malt das tausendste Galway Bay Panorama, das ich ihn Tag für Tag malen sehe. Ein Kerl in einem penetrant pinken Kleid und blonder Perücke steht vor Anthony Ryan’s und singt schrill irgendeine improvisierte Oper-Parodie, während er sich an einem lasziven Blick über die Schulter übt, der mich unendlich amüsiert. Ein kleiner Pups in dicker, schneeweißer Wollmütze und Jäckchen, seine Mutter wenige Schritte entfernt, steht verzaubert ganz allein direkt vor einem Gitarrenspieler, der warme, weiche, spanische Flamenco Töne in die Welt entlässt und scheint da niemals weg zu wollen.
Die Möwen über mir schreien laut zu dem Rauschen des Corribs und ich lege mich zurück aufs Gras.
Ein Mädchen in dunkelrotem Samtblazer mit feuerrotem Hennahaar und langem bunten Rock sitzt ein paar Meter von uns entfernt am Ufer. Sie hält eine große Kamera in der Hand, mit dickem Objektiv und schießt ein Foto von meiner Mitbewohnerin, wie sie da sitzt und gedankenversunken zeichnet. Ich grinse sie an, sie grinst zurück und macht noch mehr Fotos. Ich liebe die Iren. So freundlich, so fröhlich.
Meine Mitbewohnerin legt den Block beiseite und legt sich neben mich.
Für mich gibt es kaum ein beruhigenderes Gefühl als neben einem Menschen liegen zu können und zu schweigen. Einfach nur einen Moment teilen, ohne Ansprüche, ohne Erwartungen, einfach sein. Zusammen. Wir liegen eine Weile so in der Sonne, die Schokolade neben uns, die Stimmung unbeschreiblich schön um uns herum.
„Für solche Momente liebe ich das Leben“, grinst sie und ich muss lächeln, vor mir der blaue, blaue Himmel mit den fluffigen weißen Vögeln und die Meeresluft in meiner Nase, dem grünen Gras unter meinem Entenpulli. „Solange mir keine Möwe auf den Kopf scheißt.“ fügt sie hinzu und ich muss laut lachen.
Wir liegen noch ein bisschen so da, sie fängt wieder an zu zeichnen. Ein paar Minuten später gibt sie mir ein Blatt Papier. „Für dich“. Eine Skizze von einem umschlungenen Paar am anderen Ufer auf den kühlen Steinen, die Möwen drum herum, der Corrib vor ihnen, die kleinen Häuschen gegen die Sonne dahinter. Ich liebe es.
Wir machen uns langsam auf, ich ziehe meine Schuhe wieder an und mache noch schnell ein Foto von einem Mädchen und ihrem Vater, die auf der Wiese das jonglieren üben, gegen die Sonne, ihnen macht es nichts aus und sie scheint ein wenig stolz. Ich liebe die Iren. So freundlich, so fröhlich.
Wir machen uns auf den Weg zurück in die kopfsteingepflasterte Hauptstraße mit ihren bunten Fassaden und Gitarrenspielern, Malern und Drag Queens an den Seiten und ich seufze fröhlich und hüpfe ein wenig. Meine Mitbewohnerin lacht und sagt. „Ja, das Leben kann schon schön sein.“
//Eines Wolkenspieles Sterben, Schneegeflimmer, Regenbogen, Falter, schon hinweg geflogen, Denen eines Lachens Läuten, Das uns im Vorübergehen, Kaum gestreift, ein Fest bedeuten//
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