Zwischen den Fronten: Die Flüchtlinge von Betlehem und das "Right of Return"
UN-Resolution 193, das Rückkehrer-Recht, besagt, dass die Flüchtlinge zu ihren Häusern zurückkehren dürfen, wenn sie zustimmen, mit ihren Nachbarn in Frieden zu leben. Laut Mohammed würden das viele von ihnen gerne tun. Aber die israelische Regierung verweigert den Palästinenser_innen dieses Recht. Denn die Umsetzung würde nicht nur die "nationale Sicherheit" gefährden. Sondern auch den Judenstaat als solchen.
Ein weiteres Mal machten wir und auf, mit dem Bus von Jerusalem ins besetzte Gebiet zu fahren, nach Betlehem. Wir wollten im Gästehaus des Dheisheh-Flüchtlingslagers übernachten. Wir kauften uns in der Stadt noch Abendessen, dann nahmen wir ein Taxi zum IBDAA-Lager (http://www.dheisheh-ibdaa.net/).
Das Lager sah ganz anders aus, als wir es uns vorgestellt hatten. Das Zimmer sah aus wie in jeder Jugendherberge in Deutschland, im Dachgeschoss gab es ein Restaurant und statt in Zelten lebten die Bewohner in normalen Häusern, wenngleich dicht an dicht. Es sah aus wie ein normales Dorf. Es gab Läden und ein Krankenhaus, ein Frauenzentrum und ein paar Jungs spielten auf der Straße Fußball. Von Restaurantmanager Mohammed wurde uns erklärt, wie das kam: Die meisten Flüchtlinge kamen 1948 hierher, als sie während des Unabhängigkeitskrieges (Hebräisch) bzw. Al-Naqba (Arabisch= die Katastrophe) fliehen mussten. Die zweite Welle kam während des 6-Tage-Krieges 1967, fast alle Bewohner_innen kommen aus Dörfern rund um Jerusalem. Am Anfang waren es Zelte, am Ende Häuser, es handelt sich um ein UN-Flüchtlingscamp, eines von so vielen im Westjordanland. Die Leute, so sagt Mohammed, glauben und hoffen noch immer, dass sie eines Tages in ihre Heimat zurückkehren können, zu ihren alten Häusern. Viele haben noch immer die Schlüssel. Mohammed will keinen Krieg, er sagt, die zweite Intifada (Arabisch = Abschütteln) sei ein Fehler gewesen, eine dritte wolle er unbedingt vermeiden. Er sagt zu den Jungs im Lager: Hört auf, Steine zu werfen. Sie werden euch einsperren, vielleicht werdet ihr erschossen. Wenn ihr tot seid, könnt ihr niemandem mehr helfen.
Die Lage im Camp ist schlecht. Arbeitslosigkeit, Strom- und Wasserknappheit. Vor allem an einem mangelt es: Platz! Mohammed sagt: Wir sind stolz darauf, viele Kinder zu haben. Außerdem sind uns unsere Wurzeln wichtiger als alles andere. Unsere Herkunft ist unsere Identität. Meine Familie wohnt in einem Haus mit 4 Stockwerken (die Häuser werden alle vertikal gebaut, rechts und links ist kein Platz, stehen andere Häuser). Die Familie hat aber 7 Kinder, 3 von ihnen sind verheiratet. Wo sollen sie wohnen?
UN-Resolution 193, das Rückkehrer-Recht, besagt, dass die Flüchtlinge zu ihren Häusern zurückkehren dürfen, wenn sie zustimmen, mit ihren Nachbarn in Frieden zu leben. Laut Mohammed würden das viele von ihnen gerne tun. Aber die israelische Regierung verweigert den Palästinenser_innen dieses Recht. Das Argument ist nicht von der Hand zu weisen, allerdings hat sich meine Meinung dazu in letzter Zeit geändert, durch Ereignisse, die ich später beschreibe.
Israel wurde als jüdischer Staat gegründet, ein Staat, der allen Juden der Welt ein Zuhause bieten soll, wenn sie ihn ihrem Geburtsland nicht mehr sicher sind. Das finde ich richtig, unterstützenswert. Die Notwendigkeit ist aus meiner Sicht nicht von der Hand zu weisen.
Das Problem ist, dass wenn all die Palästinenser_innen zurückkehren und sie ihre Familien mitbringen, ihre Nachkommen seit 1948, und sie alle israelische Staatsbürger_innen werden, ist die jüdische Mehrheit auf der Kippe. Arabische Familien haben im Durchschnitt mehr Kinder als jüdische, abgesehen von den Ultraorthodoxen. Eine nicht-jüdische Mehrheit würde aber dem Konzept des Landes zuwider laufen.
Das ist aus meiner Sicht das wichtigste Argument dagegen, wenn die Regierung auch eher auf Sicherheit pocht.
Wir gingen früh schlafen, aßen unsere Gemüse-Schawarmas, unterhielten uns über die Lage der Palästinenser_innen und über Geschlechtergleichheit. Am nächsten Morgen nach einem veganen Frühstück trafen wir im Restaurant den Fremdenführer Hamza, einen witzigen, aber leicht melancholischen 24-jährigen, der viel älter wirkte. Er erzählte uns auch von seiner Familie, vom Leben im Lager und führte uns herum. Das Lager ist schön gemacht, viele Wandbilder, im IBDAA Zentrum kann man Fotos sehen und palästinensische Güter. Witzigerweise war gerade der Präsident von Sri Lanka zu Gast im Lager und wir schlossen uns der Gruppe an. Die Soldaten (Palästinenser) kannten Hamza und ließen uns passieren, wir standen tatsächlich neben dem Staatsoberhaupt und hörten der Führung zu. Hamza ließ uns sehr nachdenklich zurück, auch wenn die Führung selbst witzig war und wir uns mit sympathischen Leuten unterhielten.
Per Kleinbus fuhren wir nach Hebron, meine Lieblingsstadt im Westjordanland (also der arabische Teil). Ich habe bereits erwähnt, dass die Stadt zweigeteilt ist, es gibt die "normale" palästinensische Stadt und eine jüdische Siedlung mitten im alten Stadtzentrum. Die frühere Hauptverkehrsstraße ist seit 1994 für Palästinenser_innen gesperrt, seit der jüdische Siedler Baruch Goldstein in einem Massaker 29 Menschen beim Gebet in der Moschee erschoss, und dazu etwa 125 verletzte. Hebron ist eine der heiligsten Städte der Juden, da sich dort das Grab von Abraham befinden soll (bewiesen ist es nicht, nicht einmal seine Existenz). Abraham war aber auch ein wichtiger Prophet für Muslime.
Mittlerweile liegt das Grab auf der jüdischen Seite und ist Palästinenser_innen nicht zugänglich - sie können die Moschee nutzen (nach sorgfältiger Kontrolle) und von dort durch ein Gitterfenster auf das Grab sehen.
Seit der Schließung der Straße (man muss sich vor Augen halten - die Straße wurde für Palästinenser_innen geschlossen, um deren Sicherheit zu garantieren - die jüdischen Siedler dürfen sie jedoch passieren) gibt es in jedem Jahr zum Jahrestag des Massakers große Proteste mit der Forderung, die Shushada Street wieder zu öffnen. Das sind natürlich nicht die einzigen Proteste, aber da der Jahrestag am Freitag gewesen ist, bekamen wir am Samstag noch die Überreste zu spüren.
Als wir den Markt Richtung Altstadt überquerten, empfing uns ein widerlicher Gestank nach Abwässern oder verdorbenem Fleisch, es war schwer zu sagen. Wir wussten nicht, woher es kam, wurden aber später von einigen Aktivist_innen aufgeklärt, die wir in der Altstadt trafen. Sie arbeiteten für ISM, die populärste Widerstandsgruppe, die ihren traurigen Ruhm durch die Tatsache erhielt, dass die Aktivistin Rachel Corrie bei einer Protestaktion gegen den Abriss eines "illegalen" arabischen Hauses versehentlich von einem israelischen Bulldozer überrollt wurde. Sie setzten sich für die Rechte der Palästinenser_innen ein, tolerieren deren gewaltsamen Widerstand gemäß der Genfer Konventionen (illegal Unterdrückte haben das Recht auf gewalttätigen Widerstand), unterstützen selbst jedoch als Beobachter und greifen ein, wenn Menschenrechte verletzt werden. Sie sind auf Demonstrationen dabei und unterstützen Palästinenser_innen in rechtlichen Fragen. Mehr über die Organisation: http://palsolidarity.org/about/
Die Freiwilligen erklärten uns, dass die Demonstrierenden mit den so genannten "Skunk-Tanks" befeuert wurden (Skunk= Stinktier), die mit einer übel riechenden Chemikalie auf Demonstranten zielen. Wir setzten uns zu ihnen, und sie zeigten uns Fotos und Videos von den gestrigen Demonstrationen. Das ganze fand im Shop von Laila statt, einer älteren palästinensischen Frau, die alle mit Tee versorgte und sich durch die ausländischen Beobachter_innen sicher fühlte. Denn an diesem Tag, dem Tag nach der Demonstration, zeigten sich die Siedler_innen traditionell in der Stadt, geschützt von Soldat_innen. Ausgelegt wurde das ganze als Führung über die jüdische Vergangenheit Hebrons, aber de facto ist es vermutlich nichts anderes als eine plumpe Machtdemonstration. Wir wohnten dem bizarren Treiben bei, ich unterhielt mich mit einem Soldaten auf Hebräisch. Unser Führer bei den Brake the Silence Touren sagt, dass die meisten von ihnen nicht auf Seiten der Siedler_innen sind, aber es nunmal ihre Pflicht ist und sie geschworen haben, Israelis zu schützen.
Wir gingen später auch noch in die “Geisterstadt” hinter dem Drehkreuz, also die Shushada Street, die mittlerweile verweist und mit Graffities übersäht ist. Der frühere Marktplatz ist still und verfällt langsam.
Mit dem Kleinbus fuhren wir zurück nach Bethlehem. Unterwegs zum Bus wurden wir von einem Typen angesprochen, der sich mit uns unterhalten wollte, und der uns ebenfalls über die Situation der palästinensischen Bevölkerung aufklären wollte. Steffi unterhielt sich mit ihm, mir fehlte wirklich die Kraft dazu. So seltsam es klingt, mit meiner Liebe zu meiner derzeitigen Wahlheimat hat sich wohl auch eine Art “Nationalstolz” entwickelt; ich fühlte mich jedenfalls, als ob man mir erklärte, dass eine geliebte Person eigentlich ein hinterhältiger Massenmörder ist.
Im Bus wurden wir wieder angesprochen, ich konnte wirklich nicht mehr, sagte mehr verzweifelt als unfreundlich, dass ich nicht auf ein Gespräch aus sei. Jetzt bin ich es, die viel zum Nachdenken hat...