Zweites Zuhause Litauen
Litauen: Zoom lässt ein wunderbares Jahr voller Gastfreundschaft, Herzlichkeit und Kultur im geographischen Mittelpunkt Europas Revue passieren...
Vor fast genau einem Jahr, am 16.8.08 fing das ganz große Abenteuer für mich, Sönke, an: Ich verließ meine kleine Heimat Rosenthal und brach auf nach Litauen – für ein ganzes Jahr.
Den Entschluss, ein Jahr meines Lebens im Ausland zu verbringen, hatte ich schon früher gefasst, inspiriert auch von meiner Schwester, die 2001/2002 ein Austauschjahr in den USA, Michigan, verbracht hatte.
So informierte ich mich ein wenig und stieß dann auf die Organisation YFU (Youth for Understanding), die Austauschprogramme in der ganzen Welt seit über 50 Jahren durchführt und deren neuestes Projekt der Austausch in die osteuropäischen Länder ist. Beim Lesen einer Broschüre mit Erfahrungsberichten wurde ich auf die Baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen aufmerksam und die Vorstellung, in ein mir vollkommen unbekanntes Land wie dieses zu gehen, sagte mir zu.
So beschloss ich, mich einfach für Litauen zu bewerben, ohne viel über den südlichsten der drei baltischen Staaten zu wissen. Es folgten Auswahlgespräche, viel Nervosität, und Neugierde bis endlich die ersehnte Zusage kam.
In der Zeit zwischen Weihnachten und August, in dem ich abfliegen sollte, bekam ich viel Unverständnis und Ungläubigkeit zu spüren. Kaum jemand konnte so recht nachvollziehen, was ich denn in so einem kleinen Land wolle. Welche Sprache man spreche, wollten viele wissen, und was mir das denn bringe.
Litauen ist tatsächlich ein sehr kleines Land östlich von Deutschland mit ca. 3,5 Mio. Einwohnern, also etwa so vielen, wie in Berlin leben. Entgegen vieler Vermutungen, dass dort Russisch gesprochen wird, ist die Amtssprache Litauisch. Sie stammt von der indoeuropäischen Sprache ab und zählt zu den ältesten Europas, älter noch als z. B. das Lateinische, und ist einzig und allein mit dem Lettischen verwandt.
Interessant finde ich, dass für viele Deutsche alles östlich von Deutschland als Osteuropa bezeichnet wird. Geografen des Institut Géographique National, des nationalen Geografieinstituts Frankreichs, errechneten 1989 den geografischen Mittelpunkt Europas und ermittelten eine Stelle im Dorf Purnuškės etwas nördlich von der Hauptstadt Vilnius in Litauen, dessen Unabhängigkeit erst 1991 wieder anerkannt wurde.
Erstmals wurde Litauens Name vor genau 1000 Jahren im Jahre 1009 in Schriften erwähnt, weshalb viele Veranstaltungen zu Ehren dieses Jubiläums abgehalten wurden. Vilnius, die größten Stadt dort, in der 600.000 Einwohner leben, war dieses Jahr auch aus diesem Grunde Europas Kulturhauptstadt.
Doch das meiste von dem, was ich heute über Litauen weiß, hätte ich vor einem Jahr nicht einmal erahnt. Aber nun, ein Jahr später, könnte ich viel über die Geschichte dieses kleinen Landes erzählen, nachdem ich mit Mensch und Umgebung vertraut geworden bin.
Wie schon gesagt, vor meiner Abfahrt war ich sehr aufgeregt und neugierig, gleichzeitig fiel es mir allerdings auch nicht leicht, meine Familie, meine Freunde und alles, was ich gern mochte, hinter mir zu lassen. Dies war jedoch der Preis dafür, dieses Abenteuer erleben zu dürfen und so viele Erfahrungen und Eindrücke zu sammeln.
Mit dem Flieger dann angekommen, empfing mich und zwei weitere Austauschschüler YFU Litauen und wir hielten zusammen ein 3-tägiges Seminar ab, auf dem wir ein wenig über das Land und die Sprache lernten.
Da Litauisch jedoch zu den fünf wahrscheinlich schwersten Sprachen der Welt gehört, ging es dann sehr nervös und mit Sprachkenntnissen von gut Null in die Gastfamilie, mit der ich schon ein oder zwei Male geschrieben hatte. Meine Gasteltern haben die für Ausländer ulkig klingenden Namen Rimvydas und Eglute, meine 17 und 22-jährigen Gastgeschwister heißen Liepa und Linas.
Ich dachte anfangs, es würde ein großes Problem darstellen, dass meine Gasteltern kein Deutsch oder Englisch sprachen. Diese Bedenken verflüchtigten sich jedoch sehr schnell, da bei einem Austausch das Beherrschen einer Sprache nämlich auf keinen Fall das Wichtigste ist.
Mich beeindruckte die Gastfreundlichkeit vieler Leute in der kleinen Stadt Širvintos, in der ca. 10.000 Einwohner und nun auch ich lebten, und wie schnell sich meine Anwesenheit dort herumsprach. Schnell wurde ich allen Freunden und Bekannten der Familie vorgestellt und lernte unglaublich viele Leute und die Gastfreundschaft der Litauer kennen. Auch meine ersten sehr holprigen Sprachversuche wurden mit Begeisterung registriert und dort, wie auch in Deutschland, konnte kaum jemand verstehen, was mich zu ihnen getrieben hatte.
Ich sah in meiner Zeit dort viel von dem Land, welches so unglaublich schön und vor allem grün ist, probierte unzählige litauische Gerichte, meist deftiges Essen mit Fleisch und Kartoffeln, und fing an, die Kultur zu verstehen und das Land und die Leute lieben zu lernen.
Wie oft habe ich mit anderen über kleine Missverständnisse und Kommunikationsprobleme gelacht, wie viele Fremde wurden zu Bekannten und Freunden, wie oft habe ich etwas Neues über mein Gastland, über mich selbst oder über Deutschland erfahren? Ich weiß es nicht.
Meine Familie in Deutschland, die ich trotz allem vermisste, meine Freunde dort und hier, meine Gastfamilie, YFU, immer war jemand da, um mich zu unterstützen, wenn mal nicht alles so rund lief, wenn ich mal Hilfe brauchte oder irgendwas nicht stimmte.
Ich fing an, viel Sport zu treiben und auch Basketball zu spielen, welches die Nationalsportart Litauens ist (die Nationalmannschaft ist vier Mal Europameister geworden), nahm an vielen Festlichkeiten teil und erlebte den Patriotismus dieses kleinen Landes. Litauer sind sehr traditionsverbunden, viele Jugendliche tanzen und singen Folklore, bekennen sich zu ihrer Nationalität und sind stolz darauf, nur wenige streben nach einer Karriere im Ausland.
Familie ist den Litauern sehr wichtig, die Bindung zu anderen Generationen und der Respekt vor diesen. Besonders die Schule ist für Jugendliche dort von großer Wichtigkeit, denn die Noten spielen eine noch größere Rolle als in Deutschland, weshalb viele sie auch sehr ernst nehmen und sich anstrengen. Doch was den Unterricht angeht, bin ich eher kritisch, denn ich halte ihn für zu theoretisch und altertümlich.
Es war sehr interessant für mich, solche Dinge zu vergleichen, Neues dazuzulernen und mich selbst und die Welt neu zu erkunden. Ich denke, mir hätte kaum etwas Besseres passieren können, als dieses Land und seine Bewohner kennen zu lernen und ein Teil ihrer Kultur zu werden.
Der Abschied aus Litauen fiel mir sehr schwer, denn ich musste dort, wie schon zuvor, mein ganzes Leben zurücklassen, meine Freunde, meine Gastfamilie, die mir ein zweites Zuhause war, das Land und seine Sprache. Doch in Litauen ließ ich auch alte, verkümmerte Werte und Pessimismus. Dafür nahm ich ein Stück Weltoffenheit, neue Sichtweisen, schöne Erinnerungen und noch viel mehr mit nach Deutschland.
Der Austausch hat mir unglaublich viel gegeben, denn ich weiß nun, egal was andere sagen, dass meine Entscheidung, nach Litauen zu fahren, die richtige war. Optimistisch und um viele Erfahrungen reicher kehrte ich so nach Deutschland zurück, mit Lust, die Welt weiter zu entdecken und Neues zu erleben. Und trotzdem, ein großer Teil von mir ist in dem Land geblieben, das ich lieben und schätzen gelernt habe: Litauen.
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